II. Zwischen zwei Künsten
Einstweilen stand das Lied noch nicht im Sterne seines Lebens. Zunächst winkte ihm eine andere Kunst. Gelegentlich hatten sich Anlagen zum Bildhaun gezeigt. Wie sein ältester Bruder, der temperamentvolle, leichtlebige, in Wort und Witz überaus bewegliche Georg beim Karikaturenzeichnen ein gewisses Genie dilettantisch entfaltete, so hatte auch Gerhart in Lehm oder Wachs an allerhand possierlichen Figürchen nicht unglücklich geknetet und mit umgekehrten Stahlfedern in grobe Kreidestücke hineingemeißelt. Das brachte seinen Bruder Carl, der ihn in künstlerischer Sphäre halten wollte, auf den Gedanken, diese spielerische Fertigkeit systematisch auszubilden. Er erreichte das um so eher, als auch der künstlerisch wohlerfahrene Vater an Gerharts kleinen Arbeiten sein stilles Vergnügen fand und sie guten Freunden mit einigem Stolz zeigte. So kam Gerhard wieder nach Breslau zurück. Diesmal nicht auf die Realschule am Zwinger, sondern auf die dortige königliche Kunstschule. Er trat am 6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor der Anstalt, Baurat Lüdecke, ornamentales Zeichnen, bei Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungsunterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling innerlich bald auf.
Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken,
Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton,
Statt heil'ger Priester Lumpen nur und Gecken,
Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn.
Schon am 26. Oktober zog er sich »wegen seines Benehmens« eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Modellierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in freundschaftlicher Beziehung zu »Michael Kramer« setzte. Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang 1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar »hinsichtlich ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eigneten.« Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenommen, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er am 15. April 1882 die Anstalt »wegen Krankheit« für immer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig. Da auf der Kunstanstalt auch wissenschaftlicher Unterricht erteilt worden war, und der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt, so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt. Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden Tegnér gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama »Ingeborg« schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter starkem Eindruck las und wohl auch rezitieren hörte, wollt' er es »wagen zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit unseres Volkes«. Er plante ein Hermannsepos in zwölf Gesängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wurden. Derselbe Stoff sollte auch zum Gegenstand eines Dramas werden. Die Tragödie sollte heißen: »Germanen und Römer«. Der Held war wiederum Hermann der Cherusker. Neben ihm sollte ein alter Sänger Sigwin hervortreten, dessen Tochter von einem Römer verführt und dann verlassen wird. Der Dichter ließ seinen Sigwin in dem Augenblicke sterben, da man ihm die Botschaft vom Siege der Germanen über die Römer bringt, und diesen Augenblick stellte der Dichter später auch bildnerisch in einer kleinen Statuette Sigwins dar.
Sein Kunstlehrer merkte, daß diese Jünglingsseele ein andres Land suchte. Bruder Carl hatte inzwischen seine Reifeprüfung bestanden und studierte in Jena bei Ernst Haeckel Naturwissenschaften. Mit mannigfaltiger Gewalt zog es die Brüder damals noch zueinander. Was Gerhart auf der Schule versäumt hatte, sollte und wollte er im freien Getriebe der Universität, nachholen. Haertel und der gute Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Collegen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof. Sie erreichten es, daß auf Veranlassung des Großherzogs Karl Alexander der Breslauer Kunstschüler Ostern 1882 an der Jenaischen Universität als studiosus historiae immatrikuliert wurde. Er belegte nach junger Füchse Art für den Winter eine Überfülle der unterschiedlichsten Collegia, nur keine historischen. Er belegte nicht bloß bei Rudolf Eucken und Otto Liebmann Philosophisches, sondern auch bei Haeckel Zoologie und bei Chr. Ernst Stahl Botanik. Am meisten aber interessierte ihn eine Vorlesung über Pompeji von Professor Gaedechens. Im nächsten Sommer war sein Wissensdurst wesentlich vermindert. Er belegte nur noch die Vorlesungen seines Tischgenossen Arthur Boehtlingk über das Revolutionszeitalter und über Goethe. Lieber jedoch ging er zu einem Steinmetzen, griff eine Hand voll Ton auf und formte zum Vergnügen der Freunde allerhand Sächelchen draus: einige Köpfe und auch jenen sterbenden Sieger. Diese Art der körperlichen Gestaltung schärfte seinen dichterischen Blick für das Charakteristische und Individuelle der Menschen. Die eine Kunstübung kam der andern zugute.
In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher Kameradschaft näher kennen. Schon auf der Breslauer Kunstschule war er mit dem spätem Landschaftsmaler Hugo Ernst Schmidt, dem Urbilde Gabriel Schillings, und mit dem jetzigen Rassenhygieniker Alfred Ploetz, der damals in Breslau Nationalökonomie studierte, innig befreundet gewesen. Die beiden großen Lebensinteressen seiner Seele, Kunst und Philanthropie, hatten hier jede in einem Freunde zugleich den Förderer gefunden. Aber ein rechtes Studentenleben konnte sich in Breslau nicht entfalten. Das fand er erst in Jena im Akademisch-naturwissenschaftlichen Verein bei seinem Bruder Carl und dessen Kameraden. Es war ein Kreis junger Leute, die, vorwiegend mit realistischer Bildung ausgerüstet, zur Universität gingen und in den beiden Mächten der modernen Entwicklung, den Naturwissenschaften und der Sozialpolitik, das Heil der Welt suchten. Darwin war der Heros dieses Bundes. Naturwissenschaftliche und philosophische Ideen wurden bei den täglichen Studien und den abendlichen meist sehr leidenschaftlichen Debatten am Biertisch ausgetauscht. Gerhart Hauptmann, der Jüngste, der Ungelehrteste, der Poet in diesem Kreise, hielt wacker mit im Kneipen wie im Streiten. Seine Freunde wissen nichts von jener stillen Schweigerart, die in fremder förmlicher Gesellschaft bei ihm zu jener Zeit auffiel, als er anfing berühmt zu werden, die sich aber dann wieder verloren hat. Am engsten schloß er sich in Jena einem jungen, musikalisch fein empfindenden, wundervoll Klavier spielenden Wagnerianer, Max Müller, an. Von Müller und Gerhart ging das Künstlerische jenes Kreises aus. So oft Kunstfragen oder auch Fragen der Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den »blauäugigen, blonden verstandestüchtigen« Arzt Hülsebuch (Alfred Ploetz) diskutieren hört.
Allmählich trieb es ihn aber von den Freunden weg in die Welt. Im Frühling 1883 besuchte er seinen Bruder Georg, der eine von den fünf Töchtern des Großkaufherrn Thienemann geheiratet und in Bergedorf bei Hamburg neben dem jungen Hausstand ein Geschäft begründet hatte. Von Hamburg aus fuhr Gerhart auf einem Kauffahrteidampfer die europäische Küste entlang ins mittelländische Meer. Er fuhr denselben Wasserweg, den einst Byrons Harold gepilgert war, und wie das Buch von Harolds Pilgerfahrt während dieser Reise oft in seiner Hand lag, so lebten in seiner Seele Harolds Schmerzen. Den ersten längern Aufenthalt nahm er in Malaga, wo teils lockend, teils widrig die Sünde auf ihn zutrat, und ihn im Anblick entweihter Frauenreize der Menschheit ganzer Jammer anfaßte. Ihn überkamen Empfindungen des Grauns und des Grams, Empfindungen aber auch, wie sie Jesus Christus jener Sünderin darbrachte, gegen die Andre den Stein hoben. Auch in Barcelona hielt er sich bei ähnlichen Eindrücken auf. In Marseille verließ er das Schiff, um auf dem Schienenweg die Riviera entlang nach Genua zu fahren. Hier traf er seinen Bruder Carl, der inzwischen über die Alpen gewandert war. Beide reisten selbander nach Neapel. Sechs Wochen verlebten sie auf Capri, von der Schönheit dieser Insel nicht mehr bezaubert als von der realistischen Poesie dieses Volkslebens, vom Reize dieser Volksgestalten. Abends pflegte sich um die beiden lichtblonden deutschen Jünglinge ein kleines Lumpengesindel schwarzgeäugter Lausebübchen zu sammeln. Die junge italienische Volksseele klang und sang. Als endlich die Brüder Abschied nahmen, vergoß Jung-Capri bitterliche Tränen.
Aber Gerhart Hauptmann war schon damals nicht der Mann, sich wie Gottfried Kellers Schöngeist an den romantischen Fetzen der Armut in ästhetischer Kaltherzigkeit zu vergnügen. Wie in Malaga der Anblick gemeiner Unzucht, so ergriff ihn in Neapel das soziale Elend mit herbem Weh. Klagend ruft er aus: »Schafft mir Neapel aus Neapels...