Vorwort
Dieses klassische Handbuch der germanischen Mythologie, obwohl es vor mehr als 100 Jahren geschrieben wurde, ist immer noch aktuell und ein verlässliches Nachschlagewerk für jeden, der sich mit der Gedankenwelt und den Göttern unserer germanischen Vorfahren vertraut machen will. Es erzählt uns in anschaulicher Sprache von den Wundern und Geheimnissen einer Zeit, die längst versunken ist, die aber dennoch tausendfältig bis in unsere Zeit hineinreicht, die einst das Denken unseres Kulturkreises entscheidend mitbestimmt hat und auch jetzt noch in vielen Dingen allgegenwärtig ist.
Das Interesse an unseren germanischen Urvätern scheint wirklich ungebrochen. Deshalb ist auch eine Neuausgabe dieses klassischen Werks des bedeutenden Germanisten und Mythologen Wolfgang Golther mehr als gerechtfertigt. Man denke nur an die faszinierende Phantasiewelt der Mittelerde, u. a. bevölkert von »Hobbits«, die uns in aktuellen Filmen nach der Romantrilogie Der Herr der Ringe [Band 1: »Die Gefährten« (1954), Band 2: »Die zwei Türme« (1954) und Band 3 »Die Rückkehr des Königs« (1955)], jüngst beeindruckte, geschrieben von dem ausgezeichneten Mythenkenner John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973). Dieser Oxford-Professor hat auf seine eigene Weise die germanische mit der keltischen Sagenwelt zu einer unvergleichlichen Einheit verbunden. Tolkiens Werk stellt ja ein ganzes mythologisches System dar, in dem der Kampf zwischen Gut und Böse, die Erschaffung der Welt und des Lebens und andere Dinge als zentrale Themen auch unseres Zeitalters begriffen werden.
Wolfgang Golthers Band über germanische Mythen ist quasi ein Vorläufer hiervon. Dieser Rostocker Professor war ein wichtiger Mitbegründer des immer ausgedehnter werdenden Forschungsgebiets über die germanische Mythologie, und auch er fußte bereits auf den richtungweisenden mythologischen Arbeiten beispielsweise eines Ludwig Uhland und eines Jacob Grimm. Der erstgenannte verfasste bereits 1836 Aufsehen erregende Abhandlungen zur deutschen und nordischen Mythologie, und der meist als Märchendichter und -herausgeber bekannte Grimm ließ schon 1844 eine erweiterte Fassung seines Hauptwerks »Die deutsche Mythologie« erscheinen.
Neben vielen anderen Forschern gehört an herausragender Stelle der Literaturprofessor Wolfgang Golther (1863–1945) zu den kenntnisreichen Fortsetzern dieser interessanten Forschungsrichtung, die seit jeher breiteste Kreise des Volkes in ihren Bann gezogen hat. Midgard ist das nordische Wort für »Mittelerde«, für einen Begriff, der uns in jüngster Zeit durch die erwähnten Filmwerke nahe gebracht wurde. In unserem Handbuch können wir Einzelheiten zu diesen und vielen anderen Themen nachlesen. Midgard ist die germanische »Erdenwelt«, das Wohngebiet der Menschen, das im Zentrum der übrigen Welten liegt, die durch die Weltesche Yggdrasill miteinander verbunden sind. An der Peripherie liegt Utgard, die »Außenwelt«, das Gebiet außerhalb der befriedeten Welt, ein Aufenthaltsort der Riesen, Zwerge und Dämonen und vieler anderer unheimlicher Wesen. Golther hat uns mit seinem eigenen, überzeugend angelegten System systematisch das damals Bekannte über die Gestalten des Volksglaubens, über Seelen- und Ahnenkult, über den Glauben an Wiedergeburt, an nordische Gefolgschaftswesen, an Werwölfe, Berserker, Walküren, Hexen usw. nahe gebracht. Neben historischen und sagengeschichtlichen Erklärungen über Elben und Elfen, Zwerge, Kobolde, Nixen, Wald- und Feldgeister bringt er auch Benennungen der Riesen, etwa der Berg- und Waldriesen oder der Trolle, dazu auch zahlreiche Geheimnisse des Riesenkults.
Im zweiten Teil seines Handbuches führt er den Leser an den germanischen Götterglauben heran und beschreibt die Namen und Arten der alten heidnischen Götter. Wir erfahren Wissenswertes über Thiu oder Tyr, nach welchem unser Dienstag seinen Namen erhalten hat, über den Liebes- und Fruchtbarkeitsgott Frey, dessen Wochentag der Freitag ist, über Donar oder Thor, den mächtigen Donnergott und Sohn Wotans, und vor allem Gründliches über den Hauptgott Wodan/Odin selbst, dessen ausführlicher Beschreibung Golther mehr als 100 Seiten gewidmet hat. Nicht neu aber immer wieder faszinierend zu lesen sind Odins mannigfache Funktionen und Abenteuer, dazu Erklärungen vieler Begriffe. Da ist Walhall, das so genannte »germanische Kriegerparadies« darstellt, wo Wodans/Odins Kriegstote sich durch tägliches Üben auf den Endkampf »Ragnarök« vorbereiten müssen, häufig – vielleicht durch Richard Wagners Einfluss – fälschlich auch als »Götterdämmerung« übersetzt.
Asgard wird natürlich auch gründlich erläutert, jene germanische Himmelswelt, der Wohnsitz der Asen als Götterburg mit Palästen und Sälen, mit Folkwang, dem Schloss der Liebesgöttin Freyja usw. Im Innern des von den Göttern selbst erbauten Asgard liegt jene große Halle für Versammlungen, Feste und Gerichtstage mit den 12 Hochsitzen für die Götter, und sie bildet bekanntlich den Schauplatz für so manche genial erfundene Göttersage. Asgard liegt oberhalb von Midgard und Utgard, und Golther hat es schon damals gut verstanden, das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen diesen drei so sinnreich erfundenen Welten seinen Lesern anschaulich und ohne allzu viel wissenschaftliches Beiwerk nahe zu bringen. Von der germanischen Mythologie ließ sich auch der Autor der wunderbaren Trilogie Der Herr der Ringe bis in viele Details hinein inspirieren.
Ja, man kann sagen, dass das klassische Handbuch, das hier in einer Neuausgabe wieder eingeführt wird, eigentlich unentbehrlich für jeden ist, der sich mit den germanisch-nordischen Sagen über Weltschöpfung und Weltende vertraut machen will. Neben Odins Liebesabenteuer liest man auch so manche Einzelheit über den liebsten Sohn des einäugigen Alten mit Schlapphut und blauem Mantel, über den lichten Balder. Er ist der Gott des Lichts und der holden Sommertage, der Frömmigkeit, Güte, Reinheit und Milde, und oft ist er zu Zeiten der Einführung des Christentums mit Christus verglichen worden. Sein Haus Breidablick steht im Sonnenschein, ringsum ist Himmelsfriede, aber die finsteren Mächte ruhen nicht. Balder, der Allgeliebte, muss früh eingehen in das finstere Totenreich der Hel. So geliebt Balder wird, so gehasst ist Hödur, jener blinde Ase, der unverschuldet, angestiftet durch den Weltfeind Loki, seinen Bruder Balder mit einem Mistelzweig erschießt.
Golthers systematische Darstellung aller wichtigen germanischen Gottheiten kann vorbildlich genannt werden, weil er als gründlicher Mythologe die zu seiner Zeit bekannten Stoffe gut gliederte und dazu entsprechende Literaturangaben der verschiedensten zeitgenössischen Autoren recht ausführlich vorstellte. Ausführlich geht das Handbuch auf das Asengeschlecht ein, jene vornehmlich in Nordeuropa verehrte jüngere und größere Gruppe von Gottheiten. Zu ihnen gehören Odin, Thor und Balder sowie Odins schöne Gemahlin Frigg, Fulla und Nanna. Sie sind – wie die Menschen – sterblich und halten sich lediglich durch die Äpfel der Iduna jung. Nach einem Götterkampf mit dem zweiten Göttergeschlecht, den Wanen, schließen die Asen schließlich Frieden und übergeben als Geiseln Hönir, den germanischen Wassergott und Mimir, jenes Weisheits- und Orakelwesen, welches an der zweiten der drei Wurzeln der Weltesche den Brunnen bewacht. Für einen Trunk aus der Weisheitsquelle Mimirs hat Odin eines seiner Augen verpfändet.
Allerdings, das Göttergeschlecht der Wanen wird von Golther etwas stiefmütterlich behandelt. Zwar berichtet auch er vom Wanenkrieg, wovon der isländische Gelehrte Snorri Sturluson bekanntlich schon erzählt hat. Neue Forschungen haben aber gezeigt, dass die Wanen vornehmlich ältere Fruchtbarkeitsgötter waren, die von der agrarischen Bevölkerung um gute Ernte, von den Seefahrern um günstige Witterungsbedingungen gebeten wurden. Die Wanen praktizierten ja auch eine von den Asen als schändlich betrachtete Form des (Liebes)zaubers, die sie durch Freyja kennen lernten. Laut Snorri Sturlusons Ynglinga Saga 4 war bei ihnen, im Gegensatz zu den Asen, die Geschwisterehe erlaubt. Das ließe auf uralte mutterrechtliche Verhältnisse bei den einstigen Trägern des Wanenkultes schließen. Weniger deutlich wird bei Golther sichtbar, dass die Unterschiede zwischen Wanen- und Asenverehrung vor allem auf unterschiedliche soziale Schichtung zurückzuführen sind. Wanen sind letztlich Götter der einfachen bäuerlichen Bevölkerung, Asen die des kriegerischen Häuptlingsgefolges.
Die Wanen-Verehrung lässt sich weit zurückverfolgen, so ist beispielsweise der Wanengott Njörd etymologisch identisch mit der schon bei Tacitus erwähnten Göttin Nerthus. Bronzezeitliche Felszeichnungen deuten auch auf mit den Wanen in Verbindung stehende Fruchtbarkeitsriten hin. Ortsnamen in Skandinavien, die...