1. Begriffe, Konzepte, Historiografie, Ideologisierungen
Im historischen Bewusstsein Deutschlands ist von allen Migrationen nur «Auswanderung» als Thema verankert, und dies wiederum beschränkt auf die Amerikawanderung und die Ostsiedlung. Die komplexen internen Migrationen und innereuropäischen Zuwanderungen fehlen. Oft geht diese «Erzählung» auch von einer Überlegenheit der materiellen und geistigen Kultur der Deutschen in der Ferne aus. Dieses nationalideologische Denken übersieht, dass Auswanderung keine zivilisatorische Mission ist, sondern Kritik an bestehenden Verhältnissen bedeutet: Das Land ernährt die Familie nicht, bietet zu wenig berufliche Chancen, verlangt hohe Steuern und verhindert politische Beteiligung. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas war lange aufgespalten in Teilaspekte wie Aus- und Einwanderung, Land-Stadt-Wanderung und Zielregionen. Eine integrierte Analyse der Migrationen aus und in die deutschsprachige Großregion vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart bietet ein sehr viel komplexeres Bild mit definierbaren Herkunftsregionen und nahezu weltweit gestreuten Zielorten.
a) Kontexte: Raum, Sprache, «Heimat», Expansionsideologien
Gesellschaftliche Erinnerung, akademische Diskurse und politische Proklamationen reflektieren Interessenlagen, ideologische Vorgaben und den Horizont zeitgenössischen Denkens. Auswanderung wird meist räumlich gedacht in den Grenzen des Deutschen Reiches, die jedoch erst 1871 bzw. 1918 gezogen wurden. Staatsgrenzen werden weder Makroregionen gerecht, wie hier dem zentraleuropäischen deutschsprachigen Raum, noch Kleinregionen wie Schwaben oder Mecklenburg. Grenzen zwischen dynastischen Staaten sind gemäß Familieninteressen, durch Kriege und andere machtpolitische Strategien so oft verändert worden, dass Territorien wie ein Akkordeon ausgedehnt oder komprimiert wurden. Herrscher haben Teile «ihrer» Bevölkerungen – in der Zeit der Religionskriege und des Antisemitismus – zur Auswanderung gezwungen; sie haben kulturell anders lebende Menschen – wie die französischen Hugenotten – zur Zuwanderung eingeladen. Die Ideologie von Nation und Nationalstaat, im 19. Jahrhundert entstanden, hat Unterschichten, besonders das städtische Proletariat, aus politischen Prozessen ausgeschlossen und Frauen keine eigene nationale Zugehörigkeit eingeräumt. Wirtschaftliche Entwicklungen haben Menschen überflüssig gemacht oder zusätzlichen Arbeitskräftebedarf bewirkt. Die deutschsprachige Region, im Englischen the Germanies, war differenziert durch politische Grenzen, regionale Kulturen, nach Klasse, Schicht und Geschlecht. In Zeiten unzureichender Lebensqualität sind Menschen abgewandert, im 19. und 20. Jahrhundert allein etwa 7 oder 7,5 Millionen nach Übersee – Migration über Landesgrenzen wurde nicht gezählt. In guten Zeiten sind Menschen anderer Sprachen und Kulturen zugewandert.
Da Sprache – Muttersprache in einem Vaterland – oft nationalideologische Denkformen tradiert, müssen neutrale Begriffe gesucht werden. Deutsche Auswanderer ebenso wie einwandernde Männer und Frauen kamen aus und in vielfältig differenzierte kulturelle Regionen mit eigenen Dialekten. Menschen aus Oberbayern hätten sich weder mit Mecklenburger Platt sprechenden Reisenden noch mit Elsässern unterhalten können. Dieser dialektdifferenzierte Raum war von benachbarten Sprachräumen nicht abgegrenzt, sondern verbunden durch zwei- oder mehrsprachige Gebiete mit Dänen, Niederländern, Franzosen, Elsässern, Italienern, Slowenen und Kroaten, aschkenasischen Juden, Polen. Wanderungsvorgänge müssen im Rahmen dieser Differenzierung untersucht werden.
Die politischen Einheiten, die Auswandernde verließen oder Einwandernde erreichten, schließen das Reich Karls des Großen ein, das zeitweise bis nach Sizilien ausgedehnte Alte Reich, später zersplittert in rund 300 Klein- und Mittelstaaten, und, ab 1871, das Deutsche Reich mit seinen 1918 und 1945 schrumpfenden Grenzen. Andere lebten in den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz und im österreichischen Teil des Habsburgerreiches. Dies zeigt, dass Begriffe wie «Heimat» oder «nationale Identität» in der traditionell üblichen Bedeutung nicht verwendbar sind. «Heimat» ist nicht eine Nation oder ein Staat, sondern die Mikroregion, in der Kindheit und Jugend verbracht und Sozialisation erfahren wurde. Erst mit dem Entstehen des nationalen Schulsystems wurde die Gesamtheit von Gesellschaft und Staat für kulturelle Zugehörigkeit (belonging, embeddedness) bedeutsam. Nationales Bewusstsein begann sich schichtenspezifisch als prozesshafte «Identifikation» im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu entwickeln; im letzten Drittel entstanden die rassistischen Tropen von Blutzugehörigkeit und nationalem Erbgut und die essenzialistische «nationale Identität».
Diese Diskursformen haben die Einstellungen zu Migranten tief beeinflusst: Abwandernde wurden zu Deutschen (statt Deutschsprachigen) und Zuwandernde wurden zu Fremden. Dynastische Staaten boten zuwandernden «Anderen» durch Sonderstellung Eingliederungsmöglichkeiten, Nationalstaaten grenzten sie als «Fremde» aus oder zwangen sie zur Assimilation. Die Anderen innerhalb des nationalen Territoriums – Sorben, Polen oder Friesen – wurden zu «Minderheiten» mit beschränktem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und politischen Institutionen. Unter diesen sowie wirtschaftlichen Veränderungen haben von 1815 bis 1950 etwa 55 Millionen Europäer ihr Geburtsland – ein Begriff, der neutraler ist als der der Nation – verlassen, «Heimaten», in denen sie sich nicht ernähren konnten. Aus den nationalen Meistererzählungen wurden sie ebenso wie Einwanderer ausgeschlossen. Kulturelle Eigenheiten und selbstbestimmtes Handeln passten nicht in das Konstrukt nationaler Einheit.
Auch die jeweilige «neue Heimat» war nicht ein Gesamtstaat, sondern die jeweils gewählte Region: Ländereien an der Donau, Nachbarschaften in Toronto, Dörfer in Wisconsin. Erst nach Schaffung einer familienökonomischen Basis erweiterte sich der Blick der Neuankömmlinge auf die größere Gesellschaft oder den Gesamtstaat. In den Zuwanderungsgebieten – ob Zarenreich, USA oder Australien – konnten weder Einwanderungs- und Zensusbehörden noch die neuen Nachbarn die Vielfalt deutschsprachiger Kulturen erkennen. Dass sich die rheinländische Kultur von der der Hansestädte unterschied, dass es in Wien oder Sachsen unterschiedliche Ess- und Trinkgewohnheiten gab, blieb den von außen auf die «Neuen» Schauenden verborgen. Statistiken differenzierten nach Herkunftsstaat, Nachbarn verwendeten den generischen Begriff «Deutsche», im Amerikanischen oft zum klangähnlichen Dutch verballhornt. Analog wurden alle seit den 1890er Jahren aus dem neuen italienischen Staat ins Deutsche Reich Zuwandernden trotz unterschiedlicher Dialekte und Kulturen zu «Italienern».
Politisiert wurden die Benennungen, als die nationaldynastischen Staaten Europas, aber auch diejenigen Nordamerikas und das Zarenreich seit den 1870er Jahren einen expansiven Chauvinismus entwickelten: Zuwanderer sahen sich Germanisierungs-, Amerikanisierungs-, Russifizierungsprogrammen gegenüber. Unter diesem Denken begann sowohl die Migrationsforschung wie die Konstruktion nationaler Meistererzählungen: Begrifflichkeiten und Namenszuschreibungen sind nicht integraler, natürlicher Teil einer Sprache, sondern Ausdruck politischer Strategien und machtpolitischer Interessen. Sie alle müssen auf empirische Genauigkeit und wissenschaftliche Verwendbarkeit überprüft werden.
Die Geschichte der Auswanderung ist, wie alle Geschichte, multiperspektivisch: die Perspektive der nicht Gewanderten, die der Auswanderer, die der Einwanderer. Migranten, die sich auf ihre neue Gesellschaft einlassen, bewahren in der Erinnerung eine Ausgangsgesellschaft, wie sie sich zum Zeitpunkt ihrer Abreise in geschlechts-, klassen- und regionsspezifischen Variationen dargestellt hat. Die Erinnerung bleibt stationär, frozen in time, die Ausgangskultur entwickelt sich weiter. Andere, die nicht bereit sind, sich auf ihre neue Umgebung einzulassen, fügen der stationären Erinnerung meist eine Idealisierung hinzu und manövrieren sich so in die Isolierung. Auch Gettoisierung durch die Empfängerkultur ist möglich. Sie hindert Zuwanderer, ihr volles Potenzial zu realisieren, und sie hindert die ausgrenzende Kultur, das volle Potenzial von Neuankömmlingen zu nutzen.
Der Entstehungskontext von Forschung und Erinnerung an Aus- und Einwanderung, zeitgebundene sprachliche Konnotationen und nationalideologische Vorgaben haben das wissenschaftliche und allgemeine Verständnis von Migration behindert und verformt. Neue, neutrale Termini und Konzepte sind notwendig.
b) Begrifflichkeiten und Konzepte
Der übliche Begriff «deutsche Auswanderung», genau wie der in den Ankunftsgesellschaften übliche Begriff Einwanderung, impliziert einen einmaligen Wanderungsvorgang von permanenter Dauer. Im Gegensatz zu dieser Annahme haben sich viele Männer und Frauen einzeln oder als Familien (mit Kindern) prozesshaft bewegt: Sie sind für eine Reihe von Jahren ins Ausland gegangen und dann zurückgekehrt;...