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Geschichte der Diakonie in Deutschland

AutorGeorg-Hinrich Hammer
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783170264151
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Die Einrichtungen der Diakonie in Deutschland stellen fast eine Million Betten und Plätze dem Allgemeinwohl zur Verfügung. Sie dienen der Therapie, Krankenhausbehandlung, Pflege, Rehabilitation, Förderung, Beratung, Ausbildung, Erziehung und speziellen Wohnungsangeboten. Die Träger dieser Leistungen sind über 27 000 Einrichtungen und Dienste. Fast eine halbe Million Menschen arbeiten im Dienst von Kranken, Senioren, Jugendlichen, Behinderten, Rehabilitanden, Klienten und Auszubildenden. Hinzu treten eine weitere Million ehrenamtlich tätiger Mitarbeitender. Sie alle zusammen bilden immer noch das Rückgrat unseres Sozial- und Gesundheitswesens in Deutschland. Leitfragen für diese 'Geschichte der Diakonie in Deutschland' sind u. a.: Wie ist es zu diesem beeindruckenden Hilfesystem gekommen, was löste diese Bewegung der Hilfe aus? Wie ist der Zusammenhang zwischen der heutigen Diakonie, ihren neutestamentlichen Wurzeln und dem diakonischen Aufbruch im 19. Jahrhundert? Welcher 'rote Faden' zieht sich durch die Geschichte der Diakonie?

Dr. theol. Georg-Hinrich Hammer leitete einen Verbund diakonischer Einrichtungen. Veröffentlichungen zur Praktischen Theologie, Ethik und Diakoniegeschichte.

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Leseprobe

Die Diakonie in den ersten Jahrhunderten


Hilfe als Charisma und Profession


Die neutestamentliche Überlieferung macht an mehreren Schlüsselstellen deutlich, dass helfendes Handeln keineswegs etwas Nachrangiges für die erste Gemeinde war, sondern zu ihrer wesentlichen Identität gehörte. Es war die Identität, die sich im „vernünftigen Gottesdienst“28 des Alltags bewähren musste, von dem Paulus im Brief an die Römer schreibt. Zu den dort aufgeführten Charismen, den Begabungen der Gemeindeglieder, gehört auch die Diakonie, welche die damit begabten Gemeindeglieder ausüben sollten.29 Es fällt auf, dass die Diakonie hier bereits an zweiter Stelle der aufgeführten Begabungen genannt wird. Diese Reihenfolge könnte durchaus die hohe Bedeutung diakonischen Handelns in der Gemeinde zum Ausdruck bringen. In der charismatischen Gemeindestruktur des Paulus waren alle für die Diakonie Begabte zum helfenden oder pflegenden Dienst verpflichtet. Dies schließt nicht aus, dass einzelne dafür besonders Befähigte auch eine herausgehobene Anerkennung durch die Gemeinde fanden und bestimmte Dienste regelmäßig ausübten. Manche Ausleger haben aus dieser Textstelle auf eine sich in den Gemeinde entwickelnde Tendenz zu einem diakonischen Amt geschlossen.30

Neben der Erwähnung von Diakonie als Gabe und Aufgabe begegnet bereits bei Paulus die Bezeichnung „diakonos“, Diakon. In seinem Brief an die Philipper werden Diakone in der Anrede an die Gemeinde aufgeführt.31 Die besondere Anrede spricht dafür, dass es sich bei den Erwähnten um Inhaber eines gemeindlichen Amtes handelte, auch wenn die paulinischen Gemeinden im Übrigen von der Vielfalt amtlich nicht strukturierter Träger von Begabungen geprägt wurden. Im Römerbrief erwähnt der an schwerer chronischer Krankheit leidende Paulus einen weiblichen Diakon namens Phöbe aus Kenchreä,32 deren Hilfe er in eigener Person erfahren hat: „sie ist vielen und auch mir selbst zum Beistand (wörtlich: Beschützerin) geworden.“33 Nach dem Philipperbrief besaßen die Diakone offenbar in den „episkopoi“ Vorgesetzte, denen die Aufsicht über die Gemeinde anvertraut war. Der griechische Begriff „episkopos“ bedeutet Aufseher. Aus ihm ist das deutsche Lehnwort Bischof hervorgegangen. Weiteres erfahren wir jedoch über die Diakone und ihre Tätigkeit bei Paulus nicht. Allerdings verwendet er in seinen Briefen den Begriff „diakonos“ noch nicht als festen terminus technicus ausschließlich für das Diakonenamt, sondern u. a. auch für die Obrigkeit als „diakonos“, als Diener des Guten, oder für sich selbst in einer allgemeinen Dienstrolle. So muss es offen bleiben, ob es sich im Philipperbrief bereits um die Bezeichnung eines festen Amtes mit den Aufgaben der späteren Diakone handelt und im Römerbrief um die erste Erwähnung eines weiblichen Diakonenamtes.34 Es liegt aber nahe, dass die bei Paulus mit dem Wort „diakonos“ Bezeichneten vorwiegend Hilfe für Arme und Kranke leisteten35, neben allgemeiner Hilfe im Gemeindeleben.

In der Apostelgeschichte weisen die Apostel ihre Apostolizität nicht nur durch Predigt, sondern auch durch Heilungshandeln nach, so am Beispiel der Heilung des Gelähmten auf dem Weg zum Tempel.36 Diese Umsetzung des Heilungsauftrages geschah durch die Apostel jedoch nur ansatzweise – von ihnen werden nur wenige „Demonstrationsheilungen“ berichtet. Im Gegensatz zu dem ihnen von Jesus in aller Deutlichkeit vermittelten Vorbild und Auftrag verstanden die Apostel ihre Aufgabe vornehmlich als Berufung zum Weitersagen der Botschaft in der sich bildenden Gemeinde und in der Öffentlichkeit. Die Apostelgeschichte berichtet, wenn auch in beschönigender Darstellung, dass sie der sozialen Herausforderung in der Gemeinde nicht gewachsen waren. Selbst in der immer noch kleinen Jerusalemer Urgemeinde wurde die durch Armut und Hunger bedrängte Lage der griechischsprachigen Witwen von den Aposteln als Leiter der Gemeinde übersehen. Erst ein Aufbegehren der zugewanderten Griechen gegen die „Hebräer“ machte auf diese Vernachlässigung aufmerksam.37 Die Initiative, welche die Apostel daraufhin ergriffen, führte jedoch nicht zu einem eigenen, direkt helfenden Handeln im Sinne des Auftrages Jesu. Die Apostel halfen sich durch die Einsetzung eines zusätzlichen Amtes. Zusätzlich zum „Dienst des Wortes“ (durch die Apostel) wurde der „Dienst des Tisches“ zur Versorgung der griechisch sprechenden Witwen geschaffen. Gewählt wurden in dieses Amt „Griechen“, wie ihre Namen zeigen. Dahinter mag auch gestanden haben, dass sich die „hebräischen“ Apostel ein direktes Handeln für die „griechischen“ Witwen nicht vorstellen konnten. In der dargestellten Begründung für die Notwendigkeit des neuen Amtes distanzieren sich die Apostel ausdrücklich vom helfenden „Dienst des Tisches“ zugunsten der alleinigen Ausübung des Wortdienstes.38 Sowohl die offenbar fehlende Bereitschaft, den griechischen Witwen selbst zu helfen, als auch die Trennung von Wort- und Hilfsdienst stehen im klaren Gegensatz zu dem Verhalten und dem Selbstverständnis Jesu sowie zu seinem Auftrag. Am Beispiel seiner Hilfe für den Sohn des römischen Hauptmanns und die Tochter der kanaanäischen Frau praktizierte er ein Hilfehandeln, das religiöse und nationale Grenzen überwand. Auf Vorschlag der Apostel wird ein zweites Amt neben, genauer gesagt – da es bei diesem nicht um Gemeindeleitung ging – unter dem Apostelamt eingerichtet. Nicht der Auftrag Jesu schafft unmittelbar dieses „diakonische“ Amt, sondern eine praktisch-organisatorische Überlegung zur Bewältigung einer besonderen Anforderung, verbunden mit einem klaren hierarchischen Gesichtspunkt. Der Umgang mit dem Wort wird klar über den helfenden Dienst gestellt: Eine Bewertung, welche das Verhältnis zwischen Wort und Dienst, zwischen Amtskirche und Diakonie bis heute in eine Schieflage bringt.

Nach dem Bericht des Lukas wurden sieben Männer in dieses Amt berufen.39 Wie aus dem Handeln eines der Sieben, Stephanus, zu erkennen ist, gehörte zu ihrem Tätigkeitsbereich neben der praktischen Hilfeleistung auch die Wortverkündigung. Der „Dienst des Tisches“ beinhaltete im Kern die Mitwirkung bei dem „Brotbrechen“, der Vorform des Abendmahls, und die Verteilung von Speisen bei dem damit verbundenen Sättigungsmahl.

Die Darstellung der von Lukas wohl im neunten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts verfassten Apostelgeschichte lässt nicht erkennen, wann es in Jerusalem zum Entstehen dieses diakonischen Amtes gekommen ist. Auch fehlt in dem Bericht eine klare Amtsbezeichnung. Der Begriff „diakonia“ wird für beide Formen des Dienstes verwandt. Die Sieben werden jedoch nicht als Diakone bezeichnet, auch wenn sie bis heute für viele als Inbegriff der Diakone gelten.

Eindeutig belegt wird das Vorhandensein eines diakonischen Amtes unter der Bezeichnung Diakon erst im 1. Timotheusbrief, der am Anfang des 2. Jahrhunderts verfasst wurde. Ähnlich wie im Philipperbrief wird es hier als zweites Amt erwähnt, nach dem Amt des die Gemeinde leitenden „episkopos“, des Bischofs. Ebenso wie an den Bischof richten sich an den Diakon eine ganzen Reihe von Mahnungen und Auflagen für die Ausübung seines Amtes. Wie die Bischöfe sollen die Diakone „ehrbar sein, nicht zweizüngig, nicht dem Wein ergeben, nicht schädlichen Gewinn suchen“.40 Für sie ist anders als für die Bischöfe eine Probezeit vorgesehen.

Interessanterweise begegnen ähnliche Vorgaben nicht allein in den Kirchenordnungen der nächsten Jahrzehnte, sondern auch noch für die Armenpfleger in den Armenordnungen des Humanismus und der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts. Dieses Amt war durch seinen Umgang mit Geld und mit gespendeten Gütern anfällig für Vorteilsnahmen und Veruntreuungen sowie durch den Umgang mit dem Abendmahlswein anfällig für Alkoholmissbrauch.

Das Vorhandensein eines geordneten Diakonenamtes belegen auch die Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien, gleichfalls aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts. Zwischen das Bischofsamt und das Diakonenamt hat sich hier bereits das Presbyteramt geschoben. Erstaunlich ist dabei die theologische Begründung für die Rangfolge. Während der Rang des Bischofs von Gott abgeleitet wird und der Rang der Presbyter von den Aposteln, werden die Diakone als „mit dem Dienst Christi betraut“ angesehen. Das Bewusstsein für die elementare Bedeutung des diakonischen Vorbilds und Auftrags Jesu war also durchaus vorhanden, änderte jedoch an der Nachrangigkeit der amtlichen, jetzt dritten Position in der sich entwickelnden Hierarchie nichts. Wohl dadurch bedingt setzte offenbar auch eine geringere Wertschätzung des Diakonenamtes ein, dem Ignatius verschiedentlich durch ausgewählt ehrende Wortwahl entgegenwirken wollte.41 Hier beginnt der Verfall des Diakonenamtes, der im Mittelalter bis zum faktischen Erlöschen seines diakonischen Dienstes führte und das Diakonenamt nur noch zu einer Durchgangsstufe auf dem Weg zum Priester machte.

Praktische Hilfe war nicht allein eine Sache von Männern. Paulus erwähnt den weiblichen Diakon Phöbe. Die Apostelgeschichte berichtet von einer „Jüngerin“ mit Namen Tabitha in Joppe: „Die war voll guter Werke und Wohltaten, die sie ausführte“42, insbesondere stellte sie wohl Kleidungsstücke für Witwen her.43 Aus dem Brief des Plinius an den Kaiser Trajan über die von ihm als Statthalter vorgenommene Verurteilung von Christen geht hervor, dass zu den Gefolterten und Verurteilten auch zwei „ministrae“ – offenbar die lateinische Übersetzung für Diakoninnen – gehörten.44 Plinius war Statthalter von...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhaltsverzeichnis6
Fast eine Million10
Anstoß und Inspiration12
Die Diakonie in den ersten Jahrhunderten19
Hilfe als Charisma und Profession19
Eine ökumenische Kollekte24
Die frühe Diakonie und ihre Finanzierung26
Förderung durch Kaiser29
Institutionen sichern die Nachhaltigkeit der Hilfe32
Die caritas in der Verantwortung des bischöflichen Amtes32
Die Rolle der Klöster36
Vom hospitium zum Spital37
Die Entstehung der Krankenhäuser in der nahöstlichen Kirche39
Die ersten Krankenhäuser in Italien42
Konzile, Mönche und Regenten fördern die Krankenpflege44
Neue Impulsgeber47
Martin von Tours47
Severinus49
Wohltätigkeit im mittelalterlichen Deutschland52
Die Rolle der Regenten52
Neue Vorbilder55
Franz von Assisi (1181–1226)56
Elisabeth von Thüringen (1207–1231)59
Karitative Kontinuität durch Stiftungen und Bruderschaften64
Der neue Aufbruch in der Krankenpflege66
Die Massenarmut72
Die Reformation der Diakonie76
Martin Luther (1483–1546)76
Martin Bucer (1491–1551)82
Ulrich Zwingli (1484–1531)87
Johannes Calvin (1509–1564)92
Das evangelische Pfarrhaus als neue diakonische Institution97
Die Auswirkungen der Reformation: Aufbruch und Abbruch101
Not und Niedergang107
Pioniere eines diakonischen Christentums109
Philipp Jacob Spener (1635–1705)109
August Hermann Francke (1663–1727)112
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760)118
Johann Friedrich Oberlin (1740–1826)122
Die Diakonie im Jahrhundert der Inneren Mission128
Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)128
Johannes Daniel Falk (1768–1826)131
Christian Heinrich Zeller (1779–1860)137
Andreas Bräm (1797–1882)139
Theodor (1800–1864), Friederike (1800–1842) und Caroline (1811–1892) Fliedner140
Johann Hinrich Wichern (1808–1881)150
Clemens Theodor Perthes (1809–1867)161
Wilhelm Löhe (1808–1872)164
Gustav Werner (1809–1887)168
Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899)176
Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910)178
Friedrich Zimmer (1855–1919)183
Gemeinde- und Pfarrhausdiakonie im 19. Jahrhundert186
Der Central-Ausschuß auf dem Weg vom Freundeskreis zur Spitze eines Verbandes197
Förderung durch Regenten201
Stützung des Gesellschaftssystems oder Dienst am Menschen in der Nachfolge Jesu?204
Diakonie in der Ökumene – Wirkungen und Rückwirkungen208
Die Innere Mission im Ersten Weltkrieg219
Lesestoff und Sittlichkeit219
Die Arbeit der Einrichtungen226
Kriegswohlfahrtspflege als Einschnitt228
Der Krieg zeigt die Schwachstellen der Inneren Mission auf230
Unter veränderten Vorzeichen: Die Innere Mission in der Weimarer Republik231
Die Innere Mission und der neue Staat231
Innere Mission und verfasste Kirche234
Die neue Satzung236
Die Innere Mission und die deutschen und internationalen Verbände237
Die Arbeitsgebiete der Inneren Mission239
Die Lage der Einrichtungen245
Die Diakonie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus247
Die Schwächung der freien Wohlfahrtspflege247
Der Angriff auf den Central-Ausschuß und erster Widerstand248
Der Zwiespalt in der Frage der Eugenik257
Hilfeverweigerung und Hilfe für Mitbürger ohne „arische“ Abstammung261
Die Euthanasie und die Innere Mission269
Der Kampf ums Überleben273
Diakonie in der Nachkriegszeit278
Das Hilfswerk281
Die Einrichtungen der Inneren Mission287
Der Central-Ausschuß nach dem Krieg293
Die Neukonstituierung des Verhältnisses von Diakonie und Kirche294
Die Diakonie in der Bundesrepublik Deutschland298
Diakonie im Gesellschaftssystem der Bundesrepublik298
Absterben und Umgestalten: Die Transformation des Diakonissenmutterhauses und der Diakonenausbildung301
Die Identitätsdebatte304
Tendenz zu diakonischen Großunternehmen307
Diakonisches Jahr und Zivildienst309
Die Katastrophenhilfe310
Der Zusammenschluss von Hilfswerk und Innerer Mission durch die EKD312
Brot für die Welt314
Dienste in Übersee, Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe und Evangelischer Entwicklungsdienst316
Kindernothilfe317
Die Diakonie in der Deutschen Demokratischen Republik319
Von ersten Eingriffen zum Prozess der Verdrängung319
Kooperation und Konfrontation321
Diakonie als Modell in beschränktem Raum324
Die Bilanz der Verdrängung325
Einrichtungen als Orte des Asyls326
Gemeinde- und Pfarrhausdiakonie im 20. Jahrhundert328
Ein Prozess vielfacher Veränderung335
„Mal sehn, was geht“354
Literaturverzeichnis357
Quellen357
Sekundärliteratur360
Gesamtdarstellungen, Handbücher und Lexika360
Einzeldarstellungen361
Verzeichnis der Abkürzungen374
Verzeichnis der Namen, Einrichtungen und Dienste375
Verzeichnis der Abbildungen381
Danksagung383

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