Die Diakonie in den ersten Jahrhunderten
Hilfe als Charisma und Profession
Die neutestamentliche Überlieferung macht an mehreren Schlüsselstellen deutlich, dass helfendes Handeln keineswegs etwas Nachrangiges für die erste Gemeinde war, sondern zu ihrer wesentlichen Identität gehörte. Es war die Identität, die sich im „vernünftigen Gottesdienst“28 des Alltags bewähren musste, von dem Paulus im Brief an die Römer schreibt. Zu den dort aufgeführten Charismen, den Begabungen der Gemeindeglieder, gehört auch die Diakonie, welche die damit begabten Gemeindeglieder ausüben sollten.29 Es fällt auf, dass die Diakonie hier bereits an zweiter Stelle der aufgeführten Begabungen genannt wird. Diese Reihenfolge könnte durchaus die hohe Bedeutung diakonischen Handelns in der Gemeinde zum Ausdruck bringen. In der charismatischen Gemeindestruktur des Paulus waren alle für die Diakonie Begabte zum helfenden oder pflegenden Dienst verpflichtet. Dies schließt nicht aus, dass einzelne dafür besonders Befähigte auch eine herausgehobene Anerkennung durch die Gemeinde fanden und bestimmte Dienste regelmäßig ausübten. Manche Ausleger haben aus dieser Textstelle auf eine sich in den Gemeinde entwickelnde Tendenz zu einem diakonischen Amt geschlossen.30
Neben der Erwähnung von Diakonie als Gabe und Aufgabe begegnet bereits bei Paulus die Bezeichnung „diakonos“, Diakon. In seinem Brief an die Philipper werden Diakone in der Anrede an die Gemeinde aufgeführt.31 Die besondere Anrede spricht dafür, dass es sich bei den Erwähnten um Inhaber eines gemeindlichen Amtes handelte, auch wenn die paulinischen Gemeinden im Übrigen von der Vielfalt amtlich nicht strukturierter Träger von Begabungen geprägt wurden. Im Römerbrief erwähnt der an schwerer chronischer Krankheit leidende Paulus einen weiblichen Diakon namens Phöbe aus Kenchreä,32 deren Hilfe er in eigener Person erfahren hat: „sie ist vielen und auch mir selbst zum Beistand (wörtlich: Beschützerin) geworden.“33 Nach dem Philipperbrief besaßen die Diakone offenbar in den „episkopoi“ Vorgesetzte, denen die Aufsicht über die Gemeinde anvertraut war. Der griechische Begriff „episkopos“ bedeutet Aufseher. Aus ihm ist das deutsche Lehnwort Bischof hervorgegangen. Weiteres erfahren wir jedoch über die Diakone und ihre Tätigkeit bei Paulus nicht. Allerdings verwendet er in seinen Briefen den Begriff „diakonos“ noch nicht als festen terminus technicus ausschließlich für das Diakonenamt, sondern u. a. auch für die Obrigkeit als „diakonos“, als Diener des Guten, oder für sich selbst in einer allgemeinen Dienstrolle. So muss es offen bleiben, ob es sich im Philipperbrief bereits um die Bezeichnung eines festen Amtes mit den Aufgaben der späteren Diakone handelt und im Römerbrief um die erste Erwähnung eines weiblichen Diakonenamtes.34 Es liegt aber nahe, dass die bei Paulus mit dem Wort „diakonos“ Bezeichneten vorwiegend Hilfe für Arme und Kranke leisteten35, neben allgemeiner Hilfe im Gemeindeleben.
In der Apostelgeschichte weisen die Apostel ihre Apostolizität nicht nur durch Predigt, sondern auch durch Heilungshandeln nach, so am Beispiel der Heilung des Gelähmten auf dem Weg zum Tempel.36 Diese Umsetzung des Heilungsauftrages geschah durch die Apostel jedoch nur ansatzweise – von ihnen werden nur wenige „Demonstrationsheilungen“ berichtet. Im Gegensatz zu dem ihnen von Jesus in aller Deutlichkeit vermittelten Vorbild und Auftrag verstanden die Apostel ihre Aufgabe vornehmlich als Berufung zum Weitersagen der Botschaft in der sich bildenden Gemeinde und in der Öffentlichkeit. Die Apostelgeschichte berichtet, wenn auch in beschönigender Darstellung, dass sie der sozialen Herausforderung in der Gemeinde nicht gewachsen waren. Selbst in der immer noch kleinen Jerusalemer Urgemeinde wurde die durch Armut und Hunger bedrängte Lage der griechischsprachigen Witwen von den Aposteln als Leiter der Gemeinde übersehen. Erst ein Aufbegehren der zugewanderten Griechen gegen die „Hebräer“ machte auf diese Vernachlässigung aufmerksam.37 Die Initiative, welche die Apostel daraufhin ergriffen, führte jedoch nicht zu einem eigenen, direkt helfenden Handeln im Sinne des Auftrages Jesu. Die Apostel halfen sich durch die Einsetzung eines zusätzlichen Amtes. Zusätzlich zum „Dienst des Wortes“ (durch die Apostel) wurde der „Dienst des Tisches“ zur Versorgung der griechisch sprechenden Witwen geschaffen. Gewählt wurden in dieses Amt „Griechen“, wie ihre Namen zeigen. Dahinter mag auch gestanden haben, dass sich die „hebräischen“ Apostel ein direktes Handeln für die „griechischen“ Witwen nicht vorstellen konnten. In der dargestellten Begründung für die Notwendigkeit des neuen Amtes distanzieren sich die Apostel ausdrücklich vom helfenden „Dienst des Tisches“ zugunsten der alleinigen Ausübung des Wortdienstes.38 Sowohl die offenbar fehlende Bereitschaft, den griechischen Witwen selbst zu helfen, als auch die Trennung von Wort- und Hilfsdienst stehen im klaren Gegensatz zu dem Verhalten und dem Selbstverständnis Jesu sowie zu seinem Auftrag. Am Beispiel seiner Hilfe für den Sohn des römischen Hauptmanns und die Tochter der kanaanäischen Frau praktizierte er ein Hilfehandeln, das religiöse und nationale Grenzen überwand. Auf Vorschlag der Apostel wird ein zweites Amt neben, genauer gesagt – da es bei diesem nicht um Gemeindeleitung ging – unter dem Apostelamt eingerichtet. Nicht der Auftrag Jesu schafft unmittelbar dieses „diakonische“ Amt, sondern eine praktisch-organisatorische Überlegung zur Bewältigung einer besonderen Anforderung, verbunden mit einem klaren hierarchischen Gesichtspunkt. Der Umgang mit dem Wort wird klar über den helfenden Dienst gestellt: Eine Bewertung, welche das Verhältnis zwischen Wort und Dienst, zwischen Amtskirche und Diakonie bis heute in eine Schieflage bringt.
Nach dem Bericht des Lukas wurden sieben Männer in dieses Amt berufen.39 Wie aus dem Handeln eines der Sieben, Stephanus, zu erkennen ist, gehörte zu ihrem Tätigkeitsbereich neben der praktischen Hilfeleistung auch die Wortverkündigung. Der „Dienst des Tisches“ beinhaltete im Kern die Mitwirkung bei dem „Brotbrechen“, der Vorform des Abendmahls, und die Verteilung von Speisen bei dem damit verbundenen Sättigungsmahl.
Die Darstellung der von Lukas wohl im neunten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts verfassten Apostelgeschichte lässt nicht erkennen, wann es in Jerusalem zum Entstehen dieses diakonischen Amtes gekommen ist. Auch fehlt in dem Bericht eine klare Amtsbezeichnung. Der Begriff „diakonia“ wird für beide Formen des Dienstes verwandt. Die Sieben werden jedoch nicht als Diakone bezeichnet, auch wenn sie bis heute für viele als Inbegriff der Diakone gelten.
Eindeutig belegt wird das Vorhandensein eines diakonischen Amtes unter der Bezeichnung Diakon erst im 1. Timotheusbrief, der am Anfang des 2. Jahrhunderts verfasst wurde. Ähnlich wie im Philipperbrief wird es hier als zweites Amt erwähnt, nach dem Amt des die Gemeinde leitenden „episkopos“, des Bischofs. Ebenso wie an den Bischof richten sich an den Diakon eine ganzen Reihe von Mahnungen und Auflagen für die Ausübung seines Amtes. Wie die Bischöfe sollen die Diakone „ehrbar sein, nicht zweizüngig, nicht dem Wein ergeben, nicht schädlichen Gewinn suchen“.40 Für sie ist anders als für die Bischöfe eine Probezeit vorgesehen.
Interessanterweise begegnen ähnliche Vorgaben nicht allein in den Kirchenordnungen der nächsten Jahrzehnte, sondern auch noch für die Armenpfleger in den Armenordnungen des Humanismus und der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts. Dieses Amt war durch seinen Umgang mit Geld und mit gespendeten Gütern anfällig für Vorteilsnahmen und Veruntreuungen sowie durch den Umgang mit dem Abendmahlswein anfällig für Alkoholmissbrauch.
Das Vorhandensein eines geordneten Diakonenamtes belegen auch die Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien, gleichfalls aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts. Zwischen das Bischofsamt und das Diakonenamt hat sich hier bereits das Presbyteramt geschoben. Erstaunlich ist dabei die theologische Begründung für die Rangfolge. Während der Rang des Bischofs von Gott abgeleitet wird und der Rang der Presbyter von den Aposteln, werden die Diakone als „mit dem Dienst Christi betraut“ angesehen. Das Bewusstsein für die elementare Bedeutung des diakonischen Vorbilds und Auftrags Jesu war also durchaus vorhanden, änderte jedoch an der Nachrangigkeit der amtlichen, jetzt dritten Position in der sich entwickelnden Hierarchie nichts. Wohl dadurch bedingt setzte offenbar auch eine geringere Wertschätzung des Diakonenamtes ein, dem Ignatius verschiedentlich durch ausgewählt ehrende Wortwahl entgegenwirken wollte.41 Hier beginnt der Verfall des Diakonenamtes, der im Mittelalter bis zum faktischen Erlöschen seines diakonischen Dienstes führte und das Diakonenamt nur noch zu einer Durchgangsstufe auf dem Weg zum Priester machte.
Praktische Hilfe war nicht allein eine Sache von Männern. Paulus erwähnt den weiblichen Diakon Phöbe. Die Apostelgeschichte berichtet von einer „Jüngerin“ mit Namen Tabitha in Joppe: „Die war voll guter Werke und Wohltaten, die sie ausführte“42, insbesondere stellte sie wohl Kleidungsstücke für Witwen her.43 Aus dem Brief des Plinius an den Kaiser Trajan über die von ihm als Statthalter vorgenommene Verurteilung von Christen geht hervor, dass zu den Gefolterten und Verurteilten auch zwei „ministrae“ – offenbar die lateinische Übersetzung für Diakoninnen – gehörten.44 Plinius war Statthalter von...