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Geschichte der griechischen Philosophie

AutorLuciano De Crescenzo
VerlagDiogenes
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783257608014
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Luciano De Crescenzo erzählt mit mediterraner Fabulierlust von den griechischen Philosophen und schmuggelt unter so bekannte Namen wie Sokrates, Platon und Epikur auch die seiner Nachbarn und Bekannten aus Neapel. So fügt sich das Heute mit dem Damals zusammen, der moderne Alltag mit der antiken Schule des Denkens.

Luciano De Crescenzo wurde 1928 in Neapel geboren. Eigentlich wollte er Philosophie studieren, doch sein Vater wünschte einen Ingenieur als Sohn. Als solcher machte der 1928 Geborene bei IBM eine Bilderbuchkarriere, stieg vom einfachen Vertreter in seiner Heimatstadt Neapel bis zum Marketingdirektor in Rom auf. Doch dann gab er den Beruf auf und wurde Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur und Talkmaster. Luciano De Crescenzo starb am 18. Juli 2019 in Rom.

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Leseprobe

{9}Vorwort


Lieber Salvatore,1

 

Du bist ein Philosoph und weißt es nicht; Du bist ein Philosoph, weil Du die Probleme des Lebens auf ganz persönliche Art angehst. So kam ich auf die Idee, dass Dich eine Beschäftigung mit der griechischen Philosophie besonders interessieren müsste. Deshalb habe ich mich entschlossen, meinen Versuch, Leben und Denken der ersten Philosophen in möglichst leicht verständlicher Form darzustellen, Dir zu widmen.

Warum die Griechen? Da muss ich Dir als Erstes einmal sagen, lieber Salvatore, dass Du gar kein Italiener bist, sondern ein Grieche. Ja, mein Lieber, Grieche, fast möchte ich sogar noch hinzufügen: Athener! Setzt man nämlich Grichenland mit einer bestimmten Lebensart gleich, so ist es ein riesiges Mittelmeerland, das aus Sonne und Geselligkeit gemacht ist und sich auf der italienischen Halbinsel etwa bis an die Ufer des Volturno erstreckt (vgl. Abb. 1). Außerhalb dieser geographischen Grenze, an der sich auch die Lebensform verändert, leben die Römer, Etrusker, Mitteleuropäer, alles Leute, die ganz anders sind als wir und mit denen man oft nur schwer auskommen kann. Willst Du etwas besser verstehen, wodurch wir uns eigentlich von den andern {10}unterscheiden, möchte ich Dir vorschlagen, einmal über ein Verb nachzudenken, das es in der griechischen Sprache gibt, für das sich aber in keiner anderen Sprache eine Entsprechung findet und das daher wirklich unübersetzbar ist, wenn man es nicht mit ganzen Sätzen umschreiben will. Dieses Verb heißt agorazein.

Agorazein bedeutet: ›auf den Markt gehen und hören, was es Neues gibt‹ – also reden, kaufen, verkaufen und seine Freunde treffen; es bedeutet aber auch, ohne genaue Vorstellungen aus dem Haus zu gehen, sich in der Sonne herumzutreiben, bis es Zeit ist zum Mittagessen, oder so lange zu trödeln, bis man Teil eines menschlichen Magmas aus Gesten, Blicken und Geräuschen geworden ist. Agorazonta, das Partizip dieses Verbs, bezeichnet die Fortbewegungsart dessen, der sich dem agorazein hingibt. Er schlendert, die Hände auf dem Rücken, ziellos dahin, wobei er fast nie eine gerade Strecke verfolgt. Ein Fremder, der aus geschäftlichen Gründen oder als Tourist in eine griechische Stadt kommt, egal ob Korinth oder Pozzuoli, kann diese Menschenmenge nur staunend betrachten, die da auf den Straßen hin- und hergeht, alle paar Schritte stehen bleibt, laut redet und redet, weitergeht und wieder stehen bleibt. Vielleicht glaubt er dann, an einem besonderen Festtag hierhergeraten zu sein, dabei hat er nur eine gewöhnliche Szene des agorazein miterlebt. Nun, dieser Gewohnheit des Umherwandelns in südlichen Gefilden verdankt die griechische Philosophie sehr viel.

»Mein lieber Phaidros«, sagt Sokrates, »wohin des Wegs und woher?«

{11}»Von Lysias, dem Sohn des Kephalos, lieber Sokrates! Und ich mache mich auf zu einem Spaziergang außerhalb der Mauer; denn ich habe geraume Zeit dort verweilt – vom frühen Morgen an saß ich da. Ich folge dem Rat deines und meines Freundes Akumenos, wenn ich meine Spaziergänge an die frische Luft verlege; denn sie seien weniger ermüdend, sagt er, als in den Hallen der Gymnasien.«

So nämlich beginnt einer der schönsten Dialoge Platons: der Phaidros. Tatsache ist, dass diese Athener nichts Produktives machten: Sie gingen spazieren, schwatzten über Gott und die Welt, aber dass sie einmal einen Finger gerührt und etwas Praktisches zum Verkaufen oder Gebrauchen hergestellt hätten, keine Rede davon! Aber vergessen wir nicht, dass Athen damals 20000 Bürger hatte, auf die die stolze Zahl von 200000 Individuen zweiter Klasse, nämlich Sklaven und Metöken2, kamen. Genug Leute also, die die Arbeit machten und das Ganze in Gang hielten. Andererseits waren die Athener ja auch noch unberührt vom Konsumzwang, sie lebten genügsam und widmeten sich ganz den Freuden des Geistes und des Gespräches.

Aber zurück zur Philosophie und meinen Absichten.

Die Philosophie ist eine lebenswichtige Praxis, auch im Alltag sehr nützlich, leider aber wurde ihr Studium nie zwangsweise eingeführt wie etwa die allgemeine Wehrpflicht. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie in den Lehrplan jeder Schule aufnehmen; doch fürchte ich, man sieht sie heute als eine überholte Materie an und will sie durch die modernen ›Human- und Sozialwissenschaften‹ ersetzen – {12}was ungefähr auf das Gleiche herauskommt, wie wenn man das Studium der Arithmetik abschaffte, nachdem die Grünkramhändler ja jetzt mit dem Computer rechnen.

Aber was ist das überhaupt, die Philosophie? Wenn das so schnell und einfach zu definieren wäre! Der Mensch hat die höchsten Gipfel der Kultur vor allem auf dem Weg über zwei Disziplinen erreicht: die Wissenschaft und die Religion. Während die Wissenschaft Naturerscheinungen mit Hilfe des Verstandes untersucht, forscht die Religion, um ein inneres Bedürfnis des Menschen zu befriedigen, nach etwas Absolutem, etwas, das über die rein sinnesmäßige und intellektuelle Erkenntnisfähigkeit hinausgeht. Die Philosophie wiederum bewegt sich in einem Bereich zwischen der Wissenschaft und der Religion, kann sich aber, je nachdem, ob man es mit sogenannten rationalistischen oder mit Philosophen zu tun hat, die von einer mystischen Sicht der Dinge ausgehen, mal der einen und mal der anderen dieser Disziplinen mehr annähern. Für Bertrand Russell, den englischen Philosophen rationalistischer Schule, ist die Philosophie eine Art Niemandsland zwischen der Wissenschaft und der Theologie, und damit den Angriffen beider ausgesetzt.

Du, mein lieber Salvatore, hast keine höhere Schule besucht und daher wirklich keine Ahnung von Philosophie. Aber mach Dir nichts draus: Du bist nicht der Einzige. Tatsache ist, dass kein Mensch eine Ahnung von Philosophie hat. Von unseren 56 Millionen Landsleuten könnten, um nur einmal ein Beispiel zu nennen, bestenfalls 150000 (also die Philosophieprofessoren und die Studenten, die gerade {13}ihre Prüfung ablegen) einen halben Satz über die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Denken Platons und jenem des Aristoteles zusammenbekommen. Die humanistisch Gebildeten würden sich fast alle darauf beschränken, über die platonische Liebe zu faseln und sagen, dass es sich hierbei um jene Art von Beziehung zwischen Mann und Frau handelt, bei der man leider nicht miteinander ins Bett geht – wo doch der gute Platon zu diesem Thema weiß Gott großzügige Vorstellungen hatte.

Wenn also der Normalbürger solche ›Bildungslücken‹ in Philosophie hat, muss ja auch irgendjemand dafür verantwortlich sein; an der Materie selber kann es meiner Meinung nach nicht nur liegen, auch wenn sie manchmal schwierig und unverständlich ist, vielmehr sind die betreffenden Spezialisten ganz bewusst übereingekommen, ihr Wissen möglichst nicht unter die Leute zu bringen. Nun habe ich natürlich nicht jede Philosophiegeschichte gelesen, aber von all jenen, die ich in die Hand bekam, war Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes die einzige, bei der ich keine Schwierigkeiten hatte, spezialisierte Professorenprosa zu entziffern. Manchmal kommt mir der Verdacht, dass die Autoren eher für ihre Kollegen geschrieben haben als für Philosophiestudenten.

Diese Spezialistensprache ist ein altes Übel, sie grassiert in jedem Wissensgebiet (ich wollte schon schreiben »in jedem Erkenntniszweig der Menschheit«, dachte aber dann, dass Du diese Ausdrucksweise ja auch ziemlich geschwollen finden könntest). Seit die Welt besteht, hat es Leute gegeben, {14}die versuchten, Nichteingeweihte mit ihrem ›Abrakadabra‹ zu beeindrucken: Angefangen hat es bei den ägyptischen Priestern vor 5000 Jahren und reicht über alle möglichen Hexenmeister und Rechtsverdreher bis zu unseren Chefärzten in den Krankenhäusern, die, wenn sie im Fernsehen interviewt werden, auch nicht einfach von ›Fieber‹ reden, sondern gewählter ›erhöhte Körpertemperatur‹ sagen.

Die Spezialistensprache zahlt sich aus, sie lässt einen bedeutend erscheinen und verschafft demjenigen, der sie gebraucht, mehr Macht. Heute gibt es keine Gruppe, keinen Verband und keine Bruderschaft mehr, die ohne ihre eigne technische Sprache auskommt. Der Unfug kennt keine Grenzen. Auf dem Flughafen hörte ich zum Beispiel folgende Durchsage: »Aufgrund der verspäteten Ankunft der Verkehrsmaschine … Flug AZ 642 …« usw. Da möchte ich von dem Angestellten, der diese Durchsage stilistisch gestaltet hat, ganz gern wissen, ob er vor der Abreise zu Hause bei seiner Frau auch diese Sprache benutzt: »Catrin, morgen früh muss ich nach Mailand, ich werde die Verkehrsmaschine um 9.55 nehmen.« Doch ganz bestimmt nicht; seiner Frau wird er einfach sagen, dass er nach Mailand fliegt und den Ausdruck ›Verkehrsmaschine‹ uns armen Kunden vorbehalten, weil man ja weiß, dass der gewöhnliche Reisende in einen Zustand totaler Unterwürfigkeit gerät und gar nicht mehr wagt, wegen der Verspätung zu protestieren; sie könnten auch gleich zu ihm sagen: »Was verstehst denn du von Verspätungen, du hast doch keine Ahnung! Du weißt doch nicht einmal, wie eine Verkehrsmaschine überhaupt...

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