II. ROM UND DIE MITTELMEERWELT
Als Rom im Jahre 290 die Sabiner endgültig unterworfen und mit den Samniten Frieden geschlossen hatte, war die grundsätzliche Entscheidung gefallen, daß Rom die Hegemonie über Italien ausüben würde. Aber so richtig diese Aussage im Rückblick auch erscheinen mag: Abgeschlossen war damals die Unterwerfung der italischen Halbinsel noch nicht. Das Vordringen Roms in den äußersten Süden, nach Lukanien und Bruttium (dem heutigen Kalabrien), brachte Rom in ein Spannungsgebiet der damaligen ‹Weltpolitik›, in dem sich griechische und karthagische Herrschaftsinteressen kreuzten. Politisch und nicht nur geographisch gesehen, hing der tiefe Süden des italischen Festlandes mit Sizilien, der größten Insel des Mittelmeeres, eng zusammen, und dieser Zusammenhang war dadurch gegeben, daß beide Teile von der griechischen Kolonisation erfaßt worden waren. Aber die griechischen Städte waren hier wie dort gefährdet, auf dem italischen Festland durch die in die Ebenen drängenden Bergvölker des Hinterlandes, auf Sizilien durch die karthagische Reichsbildung im westlichen Mittelmeer. Das westliche Sizilien war das Kernstück dieses Reiches. Es umfaßte neben dem Herrschaftsgebiet in Nordafrika Sardinien, die Balearen und einen Küstenstreifen im südöstlichen Spanien, der von der Gegend des heutigen Cadiz im Westen der Küste in Richtung Osten folgte. Wie aus dem zweiten römisch-karthagischen Vertrag hervorgeht, war um die Mitte des vierten Jahrhunderts die nordöstliche Grenze des karthagischen Interessengebiets Masteia Tarseios, das in der Gegend von Cartagena lokalisiert wird. Diesem und dem vorangehenden ersten Vertrag ist auch ein erster Hinweis darauf zu entnehmen, daß Karthagos Herrschaft im westlichen Sizilien eher locker gefügt war. Die Stadt besaß dort offenbar nicht die Möglichkeit, fremden Händlern die vertragsgemäße Abwicklung von Kauf und Verkauf zu garantieren, und konnte nur die Teilhabe an den Rechten anbieten, die in den einzelnen Städten des Untertanengebiets die eigenen Händler genossen. Im westlichen Sizilien war es Karthago offenbar nicht gelungen, den eigenen Herrschaftsbezirk nach außen und nach innen so zu stabilisieren, daß es hier seinen Vertragspartnern die Bedingungen des Zugangs diktieren oder ihn generell verweigern konnte. Der Hauptgrund lag in der Präsenz der Griechen im größeren Ostteil der Insel und in den Herrschaftsaspirationen der Stadtherren von Syrakus, die sich in gleicher Weise auf die griechischen Städte der Insel wie Unteritaliens erstreckten. Freilich konnte weder in Syrakus noch in den anderen griechischen Städten die Tyrannis Stabilität und Kontinuität gewinnen, und es blieb nicht aus, daß mit der Labilität der inneren Verhältnisse auch eine Instabilität der Grenzziehung zwischen dem griechischen und dem karthagisch beherrschten Teil Siziliens verknüpft war. Welche Konstellationen sich seit dem frühen fünften Jahrhundert, der Zeit der Perserkriege und des Tyrannen Gelon von Syrakus, aus dieser Lage der Dinge ergaben, kann und muß hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Es mag genügen, kurz die komplizierten Verhältnisse zu schildern, die Rom antraf, als es nach Süditalien vordrang.
Im Sommer 405 begründete Dionysios I. in Syrakus eine bis zu seinem Tod im Jahre 367 dauernde Tyrannis. Er vereinte den ganzen griechischen Ostteil Siziliens unter seiner Herrschaft und schloß nach wechselvollen Kämpfen mit Karthago den Frieden von 374, der den karthagischen Westen durch eine Linie begrenzte, die im Süden durch den Halykos (Platani) und im Norden durch den Himeras (Imera settentrionale) gebildet wird. Aber seine Herrschaftsaspirationen griffen weiter aus. Im Bündnis mit dem unteritalischen Kroton faßte er in Bruttium, dem heutigen Kalabrien, Fuß, und sicherte sich durch die Eroberung von Rhegion die Kontrolle der Straße von Messina (387/86). Wenig später gründete er an der dalmatischen Küste die Kolonien Lissos und Issa (384/83), an der italischen Gegenküste Ancona und, an der Pomündung, Hadria. Alle diese Neugründungen dienten als Stützpunkte der Piraterie und des Handels. An der Westküste Italiens führte Dionysios einen Schlag gegen die Konkurrenz der gefürchteten etruskischen Seeräuber und eroberte nördlich der Tibermündung Pyrgi, den Hafen von Caere. Doch sein Reich zerfiel nach seinem Tod. In den folgenden Wirren unterwarf sich Karthago von neuem die griechischen Städte an der Südküste Siziliens, Akragas, Gela und Kamarina. Als Korinth, die Mutterstadt von Syrakus, auf Bitten der bedrängten Gegner des Tyrannen Dionysios II. eine kleine Streitmacht unter Führung des Timoleon zu Hilfe schickte (346/45), stellte Karthago sogleich klar, daß es nicht gewillt war, eine Intervention einer fremden Macht in Sizilien hinzunehmen. Doch Timoleon gelang nicht nur die Beseitigung der Tyrannenherschaft in den griechischen Städten und die Errichtung einer informellen syrakusanischen Hegemonie: Er gewann auch im Krieg mit Karthago die mit Dionysios I. vereinbarte Grenzlinie zwischen dem griechischen und dem karthagischen Sizilien zurück. Nachdem Timoleon die politische Führung niedergelegt hatte (337/36), brachen in Syrakus erneut Parteikämpfe zwischen Oligarchen und Demokraten aus, und dies gab dem syrakusanischen Condottiere Agathokles die Chance zur Machtergreifung (317/16). Karthago intervenierte, als er seine Herrschaft über die anderen griechischen Städte auszuweiten versuchte. In dem folgenden Krieg landete Agathokles sogar im nordafrikanischen Kernland Karthagos (310–307), doch scheiterte er und schloß einen Frieden, der den alten Status quo bestätigte. Im Jahre 304 nahm er den Königstitel an. Sein Vorbild waren die Nachfolger Alexanders des Großen, die sich ein Jahr zuvor zu Königen gemacht hatten. Mit einem der neuen Königsgeschlechter knüpfte er ein dynastisches Band, indem er mit Theoxene, der Stieftochter Ptolemaios’ I., der aus der Konkursmasse des Alexanderreichs Ägypten und die Kyrenaika behauptet hatte, die Ehe einging. Kurz darauf erreichte ihn ein Hilfegesuch Tarents, der bedeutendsten griechischen Stadt in Unteritalien, und er war willens, diese Chance zur Vergrößerung seiner Herrschaft ebenso zu nutzen, wie dies Rom eine Generation vorher aus Anlaß des Hilferufs von Neapel getan hatte.
Der Grund für die Hilferufe war in beiden Fällen der gleiche. Die griechischen Städte konnten sich aus eigener Kraft nicht des Ansturms der in die Ebenen vordringenden italischen Bergvölker erwehren. Im Falle Tarents hatten Hilfegesuche an griechische Mächte außerhalb Italiens schon eine längere Tradition. In den Jahren 344 und 343 kämpfte der spartanische König Archidamos II. mit einem kleinen Söldnerheer für die von Lukanern und Messapiern bedrängte Tochterstadt. Einige Jahre nachdem er gefallen war, rief Tarent den epirotischen König Alexander I., den Onkel Alexanders des Großen, zu Hilfe. Dieser nahm mit Ermutigung durch seinen Neffen das Gesuch in der Absicht an, sein an der Adria (im heutigen Albanien) gelegenes Reich durch Unteritalien zu arrondieren. Er errang in Lukanien, Bruttium und Apulien große Anfangserfolge (seit 334/33), doch fiel er schon im Jahre 331 in der Schlacht bei Pandosia. Die ohnehin unvollendete Reichsbildung zerfiel mit seinem Tod, und die alten Probleme stellten sich wieder ein. Die Lukaner griffen das griechische Herakleia an, die Bruttier weiter im Süden Kroton, das um das Jahr 325 Syrakus um Hilfe bat. Tarents Lage verschlechterte sich gegen Ende des vierten Jahrhunderts so sehr, daß es wieder Hilfe bei seiner Mutterstadt suchte. Sparta schickte im Jahre 303 den Prinzen Kleonymos, der sich mit einem Söldnerheer der Insel Korkyra und der Stadt Metapont bemächtigte und den Plan verfolgte, im Kampf mit den italischen Feinden Tarents eine eigene Herrschaft an der Straße von Otranto und am Golf von Tarent zu begründen. Dazu reichten seine Mittel freilich nicht, nach Mißerfolgen zog Kleonymos sich nach Griechenland zurück, und so wandten sich die Tarentiner an einen Mächtigeren, an Agathokles, den neuen König in Syrakus und Sizilien.
Agathokles eroberte im Jahre 300 Korkyra, ein Jahr später nahm er in Unteritalien Kroton ein und kämpfte zusammen mit Tarent gegen Lukaner und Messapier. Im Jahre 293 eroberte er Hipponion und brachte Rhegion und Lokroi auf seine Seite. Der große Abenteurer war im Begriff, ein hellenistisches Königreich des Westens zu errichten, das von Sizilien über Unteritalien bis zu den Inseln des Ionischen Meeres reichen sollte. Sein Tod im Jahre 289 vereitelte den Plan. Vom Standpunkt des hilfesuchenden Tarents waren es ohnehin zweischneidige Erfolge, die er errungen hatte. Denn der willkommene Schutz vor Lukanern und Messapiern war durch die Absicht dieses (und der anderen) Hilfeleistenden schwer belastet, in Unteritalien eine persönliche Herrschaft zu errichten. Mit dem Tod des Schutzherrn lebte freilich der Druck der italischen Stämme auf die griechischen Städte wieder auf. Die Bruttier eroberten Hipponion und griffen zusammen mit den Lukanern Thurioi, die alte panhellenische Kolonie des Perikles, an. Diese Stadt war mit Tarent, der griechischen Vormacht in Unteritalien, verfeindet und mußte sich deshalb nach anderen Bundesgenossen umsehen. Nach Lage der Dinge kam nur Rom in Frage,...