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Geschichte der Schweiz

AutorVolker Reinhardt
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
ReiheBeck'sche Reihe 2401
Seitenanzahl130 Seiten
ISBN9783406671135
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Direkte Demokratie und außenpolitische Neutralität, der Zusammenhalt unterschiedlicher Sprachgruppen, wirtschaftliche Modernität, Wohlstand, Weltoffenheit, Sauberkeit: das sind nur einige der Tugenden, für die die Schweiz weltweit bewundert wird. Die Gründe für das «Phänomen Schweiz» werden immer wieder in der geographischen Lage - in der Mitte Europas und doch durch das Hochgebirge abgeschottet - gesucht. Am besten aber lassen sich die Besonderheiten im historischen Rückblick verstehen. Dieses Buch schildert knapp und kenntnisreich die Geschichte der Eidgenossenschaft vom Bundesschluß der «Urkantone» am Vierwaldstätter See im Jahr 1291 über die schrittweise Erweiterung des Bundes, seine Unabhängigkeit vom Deutschen Reich und die Wirren der Napoleonischen Zeit bis hin zur politischen Neutralität, Industrialisierung und allmählichen europäischen Integration der modernen Schweiz. Dabei fragt der Autor immer wieder nach dem Selbstverständnis der Schweiz als auf sich selbst gestellte wehrhafte Nation, für das der Mythos um Rütlischwur und Wilhelm Tell konstitutiv ist und das in den letzten Jahren durch die Offenlegung wirtschaftlicher Verflechtungen mit dem Dritten Reich sowie die zunehmende Einwanderung und europäische Integration in eine Krise geraten ist.

Volker Reinhardt, geb. 1954, ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Fribourg.

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Leseprobe

1. Apfelschuss und Tyrannenmord – ein produktiver Mythos


Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Dies ist der folgenreichste Eid der Literaturgeschichte. Im erhabenen Licht der Morgendämmerung schwören ihn die Landleute von Uri, Schwyz und Unterwalden. Ort des Bühnengeschehens von Friedrich Schillers Wilhelm Tell ist eine stille Wiese an den Gestaden des Vierwaldstättersees, Rütli genannt. Anlass des hier beschworenen Bundes ist nackte Willkür. Im Namen des Hauses Habsburg, das die seit je her freien Bauern unterjocht, rauben, plündern und schänden dessen Handlanger scham- und straflos, allen voran der sadistische Vogt Gessler. Das Ziel der Allianz ist also, heiliges, natürliches Recht wieder in Kraft zu setzen, das von Österreich mit Füßen getreten wurde, und zwar veredelt durch das kostbarste Gut der Zivilisation: Menschlichkeit. Die Freiheit, in der sich diese Humanität entfalten soll, kommt nicht durch Aufbruch in eine voraussetzungslose Zukunft, sondern durch belebende Rückbesinnung auf den Geist der Vergangenheit zustande; der Bund, der im abgeschiedenen Grün des Rütli geschlossen wird, versteht sich als Bekräftigung einer älteren Union. Er kennt am Ende keinen Adel mehr, sondern nur noch Brüderlichkeit. Sie entsteht nicht aus erzwungener Gleichmacherei, sondern aus einem Akt freiwilliger Selbstangleichung der Vornehmen, ist also ebenfalls Wiederherstellung eines älteren, besseren Zustands. Eine klassenlose Gesellschaft aber ist nicht geplant. Wer Hirt war, bleibt es auch nach dem Bundesschluss. Das Recht zum Widerstand, das auf dem Rütli so erhaben beschworen wird, leitet sich daraus ab, dass ein jeder seinen Boden der Natur abgerungen hat und nun kraft natürlichen Rechts sein Eigen nennt; Feudalherren können da nur als Räuber auftreten. Legitim ist allein die Oberhoheit des Reichs, unter der Voraussetzung, dass dessen Oberhaupt, der Kaiser, das Recht schützt – was er im Falle von Uri, Schwyz und Unterwalden schmählich versäumt. So vereinbaren die Verschwörer auf dem Rütli, zum Äußersten getrieben, an Weihnachten die Zwingburgen zu stürmen. Spontane Selbsthilfe oder gar Rache wird ausdrücklich untersagt.

Dennoch wird sie nötig. Denn allzu zahm gebärdet sich in der Folgezeit das Bündnis der Widerstandswilligen. Der einsame Alpenjäger Wilhelm Tell wird vom Landvogt Gessler gezwungen, mit der Armbrust auf einen Apfel zu schießen, den sein kleiner Sohn auf dem Haupte trägt. Der Kunstschuss gelingt zwar, doch wird der Schütze danach von den Mächten des Bösen gefangen gesetzt, ohne dass ihm die Rütlischwörer zur Hilfe eilen. So muss sich der unzähmbare Jäger selbst helfen, bevor er den anderen hilft. Er lauert dem Despoten Gessler in der Hohlen Gasse vor Küssnacht auf und erschießt ihn. Das ist das Fanal zum Aufstand. Überall im Lande fallen die Zwingburgen. Mit der wieder erkämpften Urfreiheit wird die Gemeinde der Brüderlichen in die Geschichte entlassen. Auf der Bühne.

Schillers 1804 uraufgeführtes Schauspiel ist eine späte, doch dafür um so wirkungsvollere Version einer mehr als dreihundert Jahre alten Geschichte. Nach anfänglich offenbar eher spröden Reaktionen in der Eidgenossenschaft wurde das Stück des deutschen Autors zur maßgeblichen Vergegenwärtigung des mythischen Anfangs der Schweizer Nationalgeschichte. Unzählige Schützen-, Trachten- und Gesangvereine, religiöse, politische und sonstige Gruppierungen haben den Schwur, vorzugsweise auf dem Rütli, nachgesprochen, nachgesungen, nachgebetet. Die Dichtung traf das Selbstgefühl der bürgerlichen Eliten im 19. Jahrhundert, erfüllte ihr Bedürfnis, sich der nationalen Geschichte zu versichern und ihr Wirken als bruchlose Anknüpfung an hehre Uranfänge zu legitimieren. Durch Schillers Schauspiel wurde die Nation im Namen ihrer Historie zum Heiligtum erhoben und überbrückte so die Kluft zwischen Konfessionen und Weltanschauungen. Ihre Geschichte ist von einem allen gemeinsamen Gott gelenkt, ja vorherbestimmt. Mächtige und Volk sind eine Einheit; die einfachen Leute überlassen sich vertrauensvoll der Führung der Regierenden, von denen sie sich väterlich angeleitet wissen. Die Schweiz, die sich in Schillers Schwur selbst begründet, ist kein vom Makel der Revolution beflecktes, sondern ein rechtmäßiges, heroisch und honorig zugleich begründetes Staatswesen. Es kommt durch Abgrenzung gegen eine feindliche Außenwelt zustande, vermag aber mit verständnisbereiten Nachbarn sehr wohl in Frieden, d.h. Neutralität, zu leben: auf der Höhe des liberalen Zeitgeistes und zugleich für alle Zeit genossenschaftlich, bedürfnislos, einträchtig, im Einklang mit der Natur, Tradition und Moderne harmonisch verschmelzend. Bis heute glaubt – wie aus Befragungen hervorgeht – ein großer Teil der Schweizer, aber auch der übrigen Europäer, dass es so, wie bei Schiller beschrieben, und nicht anders bei der Gründung der Nation zugegangen sei.

Dementsprechend lebt die Legende fort. Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich aus der Rütli- und Tell-Erzählung ableiten, dass die Schweiz am besten fährt, wenn sie alleine fährt, d.h. außerhalb der Europäischen Union bleibt. Man kann die Tat des solidarisch-anarchischen Selbsthelfers Tell aber auch als wackeren Einsatz für eine übernationale Gemeinschaft aller Menschen guten Willens interpretieren. Der Nutzanwendung des Mythos scheinen kaum Grenzen gesetzt.

Schiller schöpfte seinen Stoff aus den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft des Schaffhauseners Johannes von Müller (1752–1809), der den «Volksgeist» zur tragenden Kraft der Geschichte erhob. Müller wiederum stützte sich überwiegend auf die Darstellung der Ereignisse, die Ägidius Tschudi (1505–1572) in seinem Chronicon Helveticum bot. Tschudi, als Politiker von nationaler, als humanistischer Geschichtsschreiber von europäischer Statur, setzte mit seinem Bericht das Siegel unter die Geschichte des nationalen Befreiungskampfes und rechtfertigte damit die Existenz der Eidgenossenschaft. Diese nämlich war im fürstlichen Europa alles andere als unbestritten. Durch den Nachweis, dass der Aufstand gegen Habsburg Widerstand gegen blutige Unterdrückung, also ein Akt der Notwehr zwecks Wiederherstellung rechtmäßig erworbener und verteidigter Freiheit, war, sollte dem Bund Legitimität und Anerkennung verschafft werden. Überdies erscheint dieser bei Tschudi durchaus auf aristokratische Werte, nämlich Alter und Vornehmheit, gegründet. Die Eidgenossenschaft war für Tschudi – ihrer Entstehung gemäß – aristokratisch und unbeugsam freiheitsliebend, zeichnete sich durch die Nähe zwischen den Großen und dem Volk aus und war dadurch ihren Vorvätern, den von Cäsar zwar vertriebenen, doch nie unter das Joch gebeugten Helvetiern der Antike, wesensgleich.

Tschudi benutzte für seine Darstellung Vorlagen, deren Entstehungszeit ein knappes Jahrhundert zurücklag. Rütlischwur und Apfelschuss wurden erstmals im Weißen Buch von Sarnen aufgeführt, einer um 1470 angelegten Obwaldner Chronik bzw. Dokumentensammlung offizieller Natur; ihr Zweck war, Belege für Rechtsansprüche zu liefern. Ältere Zeugnisse über die Vorgänge aber fehlen. Damit klaffte, wie auch immer man den Eid und den Tyrannenmord im einzelnen datierte, ein Zeitabstand von mehr als anderthalb Jahrhunderten zwischen den Ereignissen und deren erster Erwähnung. Diese Lücke gab zu denken, um so mehr, als im 18. Jahrhundert eine umstürzende Entdeckung gemacht wurde: Die Geschichte vom Apfelschuss hatte ältere, skandinavische Ursprünge. War sie also nichts als eine Wandersage und als solche nicht einmal bodenständig?

Der Mythos war also bereits von der unaufhaltsam fortschreitenden kritischen Geschichtswissenschaft bedroht, als Schiller ihn allgemeingültig niederschrieb – ein wesentlicher Grund für den Erfolg seines Stückes. Doch auch wenn sich noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzelne Historiker berufen fühlten, Tells geschichtliche Authentizität zu «retten» – Rütlischwur und Apfelschuss gehören unwiderruflich ins Reich der Legende. Dass «alles ganz anders gewesen ist»: diese Erkenntnis mindert nicht die Faszination des Mythos, sondern verleiht ihm zusätzliche Dimensionen und Tiefe. Denn was immer sich auf dem Gebiet der späteren «Urkantone» um 1300 abgespielt hat, die idealisierte Darstellung dieser Vorgänge ist durch die Kluft zu den ermittelten Fakten nicht als «Fälschung» abgewertet. Im Gegenteil, der Mythos zeigt, wie sich die politischen Akteure in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Vorgeschichte der Eidgenossenschaft vorstellten und dadurch ihr eigenes Wirken rechtfertigten. Zur Entstehungszeit der Befreiungserzählung nämlich trat die Schweiz erstmals als ein genauer abgegrenztes ideologisches, politisches und militärisches Sondergebilde, ja...

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