ERSTER TEIL
Robuster Kleinstaat
1. Prosperität um 1900
Tout va bien? Die Schweiz an der Jahrhundertwende
1900 publizierte Paul Seippel eine grosse Rückschau auf «Die Schweiz im 19. Jahrhundert», an der bedeutende Gelehrte, Politiker und Schriftsteller mitwirkten.[1] Für den Professor für französische Literatur und Sprache am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, der sich zeit seines Lebens als Brückenbauer zwischen der Deutsch- und der Westschweiz verstand, hatte das 19. Jahrhundert in der Schweiz schlecht begonnen, aber gut geendet. Die Zeit um 1800 und die Helvetische Republik hätten «für unser Vaterland unter traurigen Vorzeichen» gestanden. Die Alte Eidgenossenschaft, «eine Art Versicherungswerk gegen äussere Gefahren», war 1798 untergegangen. In den darauffolgenden Jahren verlor sie ihr Selbstbestimmungsrecht, litt unter inneren Konfrontationen, den Koalitionskriegen und schliesslich 1817 an einer schweren Hungersnot und Teuerung. Von diesem misslichen Zustand ausgehend erzählt Seippel in selbstbewusstem Ton die Geschichte einer harmonischen Entfaltung stabiler staatlicher Institutionen und demokratischer Partizipation. Im Verlauf des erfolgreichen 19. Jahrhunderts sei auch das Schweizervolk entstanden: «Es schuf sich selbst, im Vertrauen auf seine nationale Kraft und in dem Wollen, sich eine nationale Einheit zu geben.»[2] Besonders wichtig war für Seippel zudem, dass die Schweiz «zu einem Grundartikel des Völkerrechts» geworden sei und sich des «besonderen Zutrauens» der Mächte erfreue. «Nach innen» habe sie «den neuzeitlichen Idealstaat auf dem Grundsatze der geordneten Freiheit» aufgebaut, mit einer derart stabilen Regierung, «dass man sie für unabsetzbar halten möchte».[3]
Der Herausgeber der Jahrhundertrückschau war sichtlich stolz auf das Erreichte. Doch bei allem Glauben an den internationalen Fortschritt wertete Seippel, so wie viele seiner Zeitgenossen, Industrialisierung und Urbanisierung negativ. Die schweizerische Landschaft gleiche inzwischen «mit ihren schachbrettartigen Feldern dem Hanswurstgewande». Die «mit Wasserwaage, Senkblei und andern die Schönheit mordenden Werkzeugen» bewaffneten Ingenieure seien bereits «bis in die Einsamkeit der Alpen» vorgedrungen.[4] Die «Verheerungen» und «Verstümmelungen» der Moderne und ihres «Gewerbesinns», die Seippel beschwor, beunruhigten viele. Degenerationsängste und die Furcht vor Dekadenz bildeten die düstere Kehrseite der Zukunftsgläubigkeit.
Diese Ambivalenzen waren um 1900 auch in der Politik präsent. Das politische Gefüge der Schweiz war damals dreigeteilt, mit einer staatstragenden freisinnigen «Grossfamilie» in der regierenden Mitte, konfrontiert mit zwei oppositionellen Polen: der katholisch-konservativen Rechten und der sozialistischen Linken. Bis zum Ersten Weltkrieg hielten die Freisinnigen unter dem Majorz-Wahlrecht, bei dem die jeweils stärkste Partei alle Sitze eines Wahlkreises erhielt, ihre Vorherrschaft mit nahezu zwei Dritteln im Nationalrat und einer satten Mehrheit im Ständerat. Diese starke Position wurde allerdings herausgefordert. Ganz allgemein erfuhren die parlamentarischen Fraktionen eine Stärkung, und die grossen weltanschaulichen Richtungen konstituierten sich neu als politische Parteien. So mutierten die Freisinnigen um die Mitte der 1890er Jahre von einer Fraktion in der Bundesversammlung zu einer Partei, die sich in ihren Statuten zu Sozialreformen bekannte, sich gleichzeitig gegen die beiden «Flügelparteien» zur Linken (gegen Sozialismus und Internationalismus) und zur Rechten (gegen «Ultramontanismus und Reaktionäre») abgrenzte. Die Katholisch-Konservativen hatten sich nach dem verlorenen Sonderbundskrieg ins «Ghetto» oder – besser – in ihre Innerschweizer und alpinen Strongholds zurückgezogen.[5] Dank Föderalismus und Ständerat (der als «kleine Kammer» die kleinen Kantone in der politischen Repräsentation des «Volkswillens» privilegierte) und des Gesetzesreferendums vermochten sie im freisinnigen Bundesstaat eine starke innenpolitische Stellung zu behalten. Sie stellten um 1900 knapp ein Fünftel der Nationalräte und über ein Drittel der Ständeräte. Aus dieser relativen Position der Stärke heraus boten sie sich als Bündnispartner gegen die erstarkende Linke an. Und der innerlich geschwächte Freisinn war bereit, die alten Gegner in die Politik des Bundesstaates einzubinden. 1891 erfolgte die Wahl des ersten Katholisch-Konservativen, Joseph Zemp, in die Landesregierung.
Mit dieser Anlehnung an die Rechte fächerte sich gleichzeitig der linke Rand des Freisinns auf. 1893 entstand eine liberaldemokratische Fraktion, 1913 wurde die Liberale Partei der Schweiz gegründet. 1896 konstituierten sich die Ostschweizer Demokraten unter dem St. Galler Theodor Curti als Fraktion. Diese nannte sich selber «Äusserste Linke», wurde später als «Sozialpolitische Gruppe» oder «Extreme Linke» bezeichnet.[6] Linke Demokraten wie Curti vertraten noch 1900 die Ansicht, in der republikanisch-direktdemokratischen Schweiz könne es gar nicht «zur wirklichen Scheidung der Arbeiter in Nationale und Internationale oder in Reformer oder Revolutionäre» kommen. Jenseits der «äussersten Linke» konnte er sich keine Parteiformation vorstellen.[7] Und tatsächlich machte die 1888 gegründete Sozialdemokratie (SPS) bei den Wahlen keine gute Figur. Die wenigen 1896 gewählten sozialdemokratischen Nationalräte schlossen sich vorerst der «Sozialpolitischen Gruppe» an. Auch als sie 1911 eine eigene Fraktion bildeten, kamen sie über ein Zehntel der Stimmen nicht hinaus.[8]
In der Folge wandte sich die ganze Arbeiterbewegung deutlich nach links. Das marxistische «Klassenkampf»-Programm der SPS von 1904, das (wie schon 1888) die Verstaatlichung der Produktionsmittel und (neu) die politische Gleichberechtigung der Frau forderte sowie den Internationalismus stark machte, brachte eine Radikalisierung zum Ausdruck, die sich ab 1900 in der Debatte um den politischen Massenstreik niederschlug.[9] In der Folge beherrschte genau dieser Richtungsstreit zwischen sozialen Demokraten, die auf (direkt-)demokratische Partizipation setzten, und sozialistischen Klassenkämpfern, die den Staat als politische Kampfbastion des Kapitalismus wahrnahmen, die Auseinandersetzungen innerhalb der Linken. Ein radikaler Flügel übte sich in einer neuen Rhetorik, die auf die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems abzielte. Ein populärmarxistischer «wissenschaftlicher Sozialismus» machte die Formel vom «Genossen Trend» plausibel; es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Kapitalismus sich selber abschaffen und dem Sozialismus zum historischen Triumph verhelfen würde. Demgegenüber konnten die «Grütlianer», die sich 1901 auf der «Solothurner Hochzeit» mit der Sozialdemokratie vereinigt, jedoch ihre organisatorische Selbstständigkeit bewahrt hatten, mit Kampfbegriffen wie «Klassenkampf» und «Revolution» wenig anfangen und vertrauten auf die Reformkraft der schweizerischen Demokratie. Unterstützt wurden sie von Nichtsozialisten wie Curti, Hilty und Seippel; Letzterer entwickelte ein Verständnis für «die Leute», die «zum Räderwerk der ungeheuren, für den Kapitalismus arbeitenden Maschine» gehören und die «furchtbare Kehrseite des materiellen Fortschritts» am eigenen Leibe mitbekommen. Die «Klassenkämpfe» erklärte Seippel deshalb auch mit einem Mangel an Reformbereitschaft im Freisinn.[10]
Heterogene Gesellschaft, vielfältige Kulturlandschaften
Angesichts der Beschleunigungserfahrung der Zeit um 1900 hielt Carl Hilty den Prognosewert eines Jahrhundertüberblicks für äusserst gering. Das Land stehe, so seine verunsichernde Beobachtung, «am Anfang von etwas noch Unbekanntem, aber wahrscheinlich stark Verändertem».[11] Jede Beschreibung des «modernen Staates» könne deshalb nur noch eine «Moment-Aufnahme» sein. Eine solche war auch die Bevölkerungszählung von 1900, die zeigt, dass von den 3,3 Millionen Menschen, die um 1900 in der Schweiz lebten, 88 Prozent Schweizer Bürger und 12 Prozent Ausländer waren. Zu diesen kamen Saisonarbeiter und Grenzgänger, die keinen ständigen Wohnsitz in der Schweiz hatten. Das war ein Ausländeranteil, der im damaligen Europa, von Luxemburg abgesehen, einen Rekord darstellte, so dass die Schweiz als «die grosse Arbeitsmarktdrehscheibe Europas» bezeichnet werden kann.[12] Aufgrund des hohen Geburtenüberschusses machte sich in der Bevölkerung eine Verjüngungstendenz bemerkbar. Gleichzeitig nahm die Lebenserwartung zu. Hatte sie um 1800 durchschnittlich noch ungefähr 35 Jahre betragen, so war sie bis 1900 um ein Drittel auf 48,9 Jahre für Frauen und 46,2 Jahre für Männer angestiegen.[13]
Die schweizerische Bevölkerung sprach damals zu 64 Prozent Deutsch, zu 20 Prozent Französisch und zu 6 Prozent Italienisch (in den beiden Kantonen Tessin und, zum kleinen Teil,...