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E-Book

Geschichte der Volkswirtschaftslehre

Überblick und Leseproben

AutorGünter Schmölders
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783688102402
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
?Überblick Kameralwissenschaft / Die Physiokraten / Der klassische Liberalismus / National-Ökonomie / Wissenschaftlicher Sozialismus / Kathedersozialismus / Methodenstreit und Grenznutzenschule / Neo-Klassik / Geld- und Konjunkturtheorie / Entwicklungs- und Wachstumstheorie / Heutige Forschungseinrichtungen u. a. ?Leseproben aus den behandelten Werken: v. Justi, Ausführliche Abhandlung von denen Steuern und Abgaben / Quesnay, Tableau Economique / A. Smith, Wealth of Nations / v. Thünen, Der isolierte Staat / List, Das nationale System der Politischen Ökonomie / Marx, Kapital / A. Wagner, Finanzwissenschaft / Schmoller, Volkswirtschaftslehre / Menger, Methode der Socialwissenschaften / Pareto, Allgemeine Soziologie / Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie / Veblen, Theory of the Leisure Class / Keynes, General Theory of Employment ... / Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie u. a. ?Enzyklopädisches Stichwort: Geistige Wurzeln des sozialökonomischen Denkens ?Literaturhinweise ?Personen- und Sachregister

Günter Schmölders (1903-1991) war ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Finanzwissenschaftler, Finanzsoziologe und Sozialökonom.

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Leseprobe

2. Kameralwissenschaft: Johann Heinrich Gottlob v.Justi (1717–1771)


Die geistigen Kräfte, die das Aufkommen des ‹Merkantilsystems› der Wirtschaftspolitik und die kameralistische Wissenschaft möglich machten, sind durch den Wandel der christlichen Wirtschaftsethik unter der Nachwirkung von Reformation und Gegenreformation, durch Rationalismus und Aufklärung und durch die Fortschritte der Naturwissenschaften im Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen gekennzeichnet. Die Staatslehre JEAN BODINs (1530–1596) betonte im Gegensatz zur Theorie MACHIAVELLIs die Übereinstimmung des allgemeinen Wohls mit dem der einzelnen; wenn BODIN als Vater des Absolutismus bezeichnet wird, so gilt dies doch nur mit der Einschränkung, daß er keineswegs, wie später HOBBEs (1588–1679), für eine schrankenlose Allgewalt des Staates eintrat, sondern den Staat naturrechtlichen und religiösen Bindungen unterstellt wissen wollte.

Die Territorial- und Nationalstaaten, die nach dem Dreißigjährigen Krieg und durch ihn in Europa entstanden, waren im Zeichen der Söldnerheere und der sich mehr und mehr durchsetzenden Geldwirtschaft gezwungen, ihre Finanzwirtschaft vorsorgend auf gesunde Grundlagen zu stellen, wenn sie sich gegenüber einer meist feindlichen Umwelt behaupten wollten. Die fürstliche Schatzkammer zu füllen und gefüllt zu erhalten, war das zentrale Anliegen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und der kameralistischen Staatswissenschaft, die ihr zugrunde lag. Der Zustrom von Geld, sei es durch Außenhandel mit anderen Ländern, sei es durch Erschließung heimischer Silbererze, Steuern und Zölle, stand im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik; daneben spielte die Bevölkerungspolitik, die zugleich Bauernwohlstands- und langfristig geplante Rekrutierungspolitik war, eine beträchtliche Rolle. Staatseinnahmen und Überschüsse der Handelsbilanz bedeuteten die Möglichkeit, Söldner anzuwerben, Waffen zu kaufen, Land urbar zu machen und Siedler anzulocken, kurz den Staat noch reicher und mächtiger zu machen; THOMAS MUN (1571 bis 1641) erkannte als erster, daß selbst die verpönte Ausfuhr von Geld dem eigenen Lande nützlich sein könne, indem sie den Außenhandel stärkt und so wiederum Geld ins Land bringt.

In Deutschland und Österreich standen Bevölkerungsprobleme, vor allem aber die Staatsfinanzen im Vordergrund der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und ihrer kameralistischen Befürworter; ‹wer Geld hat, dem stehen alle anderen Güter zu Gebote›, schrieb KASPAR KLOCK (1583–1655). Diese ‹Fürstenwohlstandslehre›, wie ONCKEN sie genannt hat, litt lange Zeit unter einem prominenten Fehlurteil: ADAM SMITH belegte sie mit dem Namen Merkantilismus und geißelte sie als das Zerrbild einer Vielregiererei, der er das Walten des freien Wettbewerbs, jener ‹invisible hand›, entgegenstellen konnte, die das Wohl aller bewirkt, obwohl jeder einzelne nur um sein eigenes Wohl besorgt ist. Die Geldtheorie der Kameralisten tat SMITH kurzerhand als Irrlehre ab, eine Meinung, die über hundert Jahre Bestand haben sollte; heute verfällt man zuweilen in den gegenteiligen Irrtum und stellt unter dem Einfluß spätromantischer Gedanken den Merkantilismus als die Wirtschaftstheorie schlechthin dar, in der alle späteren Gedanken bereits enthalten sind.

Beide Urteile werden dieser ersten Volkswirtschaftslehre nicht gerecht; entstanden aus der Notwendigkeit wirtschaftspolitischen Handelns, entwickelte sie ein System der Wirtschaftspolitik, dessen allzu pragmatische Grundhaltung es freilich nicht zu einem theoretisch geschlossenen System kommen ließ. Es kommt hinzu, daß eine Wirtschaftslehre, die zutiefst mit dem Staat und seinen Notwendigkeiten verflochten war, in jedem Lande je nach den dort vorherrschenden Notwendigkeiten ihre eigene Prägung erfahren mußte. So entstand in Frankreich der Colbertismus, benannt nach dem Wirtschaftsminister LUDWIG XIV., JEAN BAPTISTE COLBERT (1619–1683), als System von Schutzzöllen nach außen und intensiver Gewerbeförderung im Inneren. England entwickelte eine besondere Art von Handels- und Agrarmerkantilismus, gekennzeichnet durch die Navigationsakte, die Korngesetze WILHELMS III. und die Handelsverträge mit Portugal und Spanien. In Deutschland schließlich entstand jene besondere Form des Merkantilismus, die man als Kameral- oder Polizeywissenschaft (Polizey = gesamte Staatsverwaltung) oder kurz als Staatswissenschaft bezeichnete. Unter den Vertretern dieser Wissenschaft, zu denen neben KASPAR KLOCK vor allem JOHANN JOACHIM BECHER (1625–1682), PHILIPP WILHELM VON HORNIGK (1638–1712), WILHELM FREIHERR VON SCHRÖDER (1640–1688), VEIT LUDWIG VON SECKENDORF (1626–1692) und JOSEPH VON SONNENFELS (1732–1817) gehören, ragt JOHANN HEINRICH GOTTLOB VON JUSTI als der Systematiker hervor, der in seinen vielen bedeutenden Schriften die österreichische und die preußische Kameralistenschule zusammenzufassen und der Wissenschaft den vielfach sehr engen konfessionellen Charakter abzustreifen wußte. Dieses Bestreben kommt schon in den Titeln seiner Werke zum Ausdruck; er schrieb über ‹Staatswirtschaft oder systematische Abhandlung aller ökonomischen und Cameralwissenschaften›, ‹Grundsätze der Polizeywissenschaft› und ‹Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Polizey- und aller Regierungswissenschaften›. In seiner ‹Staatswirtschaft› entwarf er eine Staatswirtschaftslehre, die unvergängliches volkswirtschaftliches und finanzwissenschaftliches Ideengut enthält; der erste Teil umfaßt die ‹Erhaltung und Vermehrung des gesamten Vermögens des Staats, als wozu die Grundsätze der Staatskunst, Polizey- und Commerzienwissenschaft, benebst der Oekonomie nöthig sind›, während der zweite Teil den ‹vernünftigen Gebrauch des Vermögens des Staats› lehrt ‹und mithin die eigentliche Cameral- oder Finanzwissenschaft in sich enthält›.

Schon der Lebenslauf JUSTIs zeigt uns seine Weite und Weltaufgeschlossenheit. Der geborene Sachse, der in sieben Ländern gewirkt hatte, war ein wirklicher Kenner der damaligen Wirtschaft Europas, und seine Schriften spiegeln die Probleme wider, mit denen sich seine Zeit auseinanderzusetzen hatte. Im Jahre 1750 folgte er einem Ruf als Professor für Kameralistik und deutsche Beredsamkeit an das Theresianum in Wien; fünf Jahre darauf ging er als Polizeidirektor nach Göttingen, wo er an der Universität als erster Kameralwissenschaften lehrte. Später stand er der dänischen Regierung als Berater zur Seite, um die Landwirtschaft und das Gewerbe in Dänemark zu fördern, und 1765 berief ihn FRIEDRICH DER GROSSE als Berghauptmann und Oberaufseher der preußischen Bergwerke nach Berlin; hier wegen angeblicher Unterschlagungen zu Festungshaft verurteilt, starb er 1771 in Küstrin.

JUSTI veröffentlichte seit 1750 eine große Zahl von Büchern und Aufsätzen über Staatsverfassungs- und Verwaltungsrecht, Kriegswissenschaft und Bevölkerungspolitik, Landwirtschaft und Bergwesen, Gewerbe, Handel und Verkehr, Münzwesen und Finanzwissenschaft, Geschichte und allgemeine Philosophie; in seinen Schriften offenbart sich das ganze kameralistische System. Eine Zeit, in der die Verwaltungen sich vergrößerten, in der Heere unterhalten und Kriege geführt wurden, in der der Bedarf an Zahlungsmitteln wuchs, weil der internationale Wirtschaftsverkehr an die Stelle der mittelalterlichen Städtewirtschaft getreten war und die Geldwirtschaft immer weiter durchgebildet wurde, sah in der Geldvermehrung das erste Ziel der Politik. Diese Geld-, d.h. Edelmetallvermehrung, sollte durch eine ‹aktive› Handelsbilanz erreicht werden; durch Einfuhr billiger Rohstoffe und Ausfuhr wertvoller Fertigwaren entsteht ein Überschuß, der in der Form von Edelmetall ins Land strömt.

Selten ist ein wirtschaftspolitisches Ziel so sehr mißverstanden worden wie dieses; immer kehrt der schon von ADAM SMITH erhobene Vorwurf wieder, die Kameralisten hätten das Geld oder die Edelmetalle mit Reichtum verwechselt. SMITH spricht von jener ‹absurd notion that wealth consists in money› und geißelt das Bestreben des Landes, jene Zweige des auswärtigen Handels zu fördern, ‹where the balance is paid in money›. Immer wieder hebt er hervor: nicht in Gold und Silber, sondern in nutzbaren Gegenständen, die man dafür kaufen kann, besteht der Reichtum einer Nation. Im 4. Buch (Kap. 1) seines ‹Wealth of Nations› schreibt er polemisch: ‹Einige der besten englischen Schriftsteller über den Handel gingen von dem Satze aus, daß der Reichtum eines Landes nicht allein in seinem Gold und Silber, sondern in seinen Ländereien, Häusern und verbrauchbaren Gütern aller Art bestehe. Im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung aber schien es, als ob Ländereien, Häuser samt allen verbrauchbaren Gütern ihrem Gedächtnis entschlüpften und nur noch Gold oder Silber übrig blieben, deren Vermehrung das große Ziel für den Gewerbefleiß und Handel des Volkes bilde.›

Diesem ‹Midaswahn› waren die Kameralisten in Wirklichkeit gewiß nicht verfallen; ONCKEN hat mit Recht hervorgehoben, daß es wenig historisches Verständnis verrät anzunehmen, ein ganzes blühendes Zeitalter habe auf diesem Irrtum aufbauen können. JUSTI und die Kameralisten stellten Geld und Reichtum keineswegs auf eine Stufe; im Gelde sahen sie ein Mittel, Waffen und Söldner, Rohstoffe und...

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