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Geschichte des Materialismus

Vollständige Ausgabe

AutorFriedrich Albert Lange
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl1277 Seiten
ISBN9783849630201
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Langes umfassende Schrift 'Geschichte des Materialismus' gilt als sein Hauptwerk und war maßgebend für die Entstehung des Neukantianismus und die Rückbesinnung auf Kants Werte und Ansichten.

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Leseprobe

 

Wie in der äußeren Natur der Stoff oder die Materie, so verhält sich im innern Leben des Menschen die Empfindung. Wenn man glaubt, daß Bewußtsein ohne Empfindung sein könne, so liegt dabei eine feine Täuschung zugrunde. Man kann ein sehr lebhaftes Bewußtsein haben, das sich mit den höchsten und wichtigsten Dingen beschäftigt und dabei nur Empfindungen von verschwindender sinnlicher Stärke. Immer aber sind Empfindungen vorhanden, aus deren Verhältnis und Harmonie oder Disharmonie sich Inhalt und Bedeutung des Bewußtseins aufbauen, wie der Dom aus dem rohen Stein, die inhaltvolle Zeichnung aus ihren materiellen Linien oder die Blume aus dem organischen Stoff. – Wie nun der Materialist, in die äußere Natur blickend, die Formen der Dinge aus ihren Stoffen ableitet und diese zur Grundlage seiner Weltanschauung macht, so leitet der Sensualist das ganze Bewußtsein aus den Empfindungen ab.

 

Sensualismus und Materialismus betonen also im Grunde beide den Stoff im Gegensatz zur Form; es fragt sich nun, wie sie sich unter sich auseinandersetzen.

 

Offenbar nicht bloß durch einen Vertrag, nach dem man ohne weiteres im inneren Leben Sensualist, im äußeren Materialist sein könnte. Dieser Standpunkt ist zwar in der inkonsequenten Praxis der häufigste, aber er ist kein philosophischer.

 

Vielmehr wird der konsequente Materialist leugnen, daß Empfindung vom Stoff getrennt vorhanden sei, er wird daher auch in den Vorgängen des Bewußtseins nur Wirkungen gewöhnlicher stofflicher Veränderungen finden und diese mit den übrigen stofflichen Vorgängen der äußeren Natur unter gemeinsamem Gesichtspunkte betrachten; der Sensualist wird dagegen leugnen müssen daß wir von Stoffen wie von Dingen der Außenwelt überhaupt etwas wissen, da wir doch nur unsere Wahrnehmung von den Dingen haben und nicht wissen können, wie sich diese zu den Dingen an sich verhält. Die Empfindung ist ihm nicht nur der Stoff aller Vorgänge des Bewußtseins, sondern auch der einzige unmittelbar gegebene Stoff, da wir alle Dinge der Außenwelt nur in unseren Empfindungen haben und kennen.

 

Nun muß wegen der unleugbaren Richtigkeit dieses Satzes, der zugleich dem gewöhnlichen Bewußtsein ferner liegt und eine einheitliche Weltanschauung bereits voraussetzt, der Sensualismus als eine natürliche Fortbildung des Materialismus erscheinen.30 Diese Fortbildung geschah bei den Griechen durch diejenige Schule, welche überhaupt in das antike Leben entwickelnd und wieder zersetzend am tiefsten eingriff, durch die Sophisten.

 

Man erzählt im späteren Altertum, daß der weise Demokrit in seiner Vaterstadt Abdera einst einen Lastträger gesehen habe, der in einer besonders geschickten Weise die Holzstücke, welche er zu tragen hatte, zusammenlegte. Demokrit ließ sich mit dem Manne ein und war so überrascht von seinem Scharfsinn, daß er ihn als Schüler annahm. Dieser Lastträger wurde der Mann, der zu einem großen Umschwung in der Weltstellung der Philosophie Veranlassung gab: er trat für Geld als Lehrer der Weisheit auf: Protagoras, der erste der Sophisten.31

 

Hippias, Prodikos, Gorgias und eine große Reihe minder berühmter Männer meist aus Platos Schriften sehr bekannt, durchzogen bald die Städte Griechenlands lehrend und disputierend und gewannen zum Teil große Reichtümer. Allenthalben zogen sie die talentvollsten jungen Leute an sich, ihren Unterricht zu genießen gehörte bald zum guten Ton, ihre Lehren und Reden wurden Tagesgespräch der höheren Gesellschaft, ihr Ruhm verbreitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit.

 

Dies war neu in Hellas und nicht nur die alten Marathonkämpfer, die Veteranen der Befreiungskriege schüttelten mit konservativem Bedenken das Haupt: die Anhänger der Sophisten selbst standen zu diesen in ihrer Bewunderung nicht viel anders, als heutzutage die Gönner eines berühmten Opernsängers; die meisten hätten sich inmitten ihrer Bewunderung geschämt, das Gleiche zu werden. Sokrates pflegte die Schüler der Sophisten in Verlegenheit zu setzen durch die schlichte Frage nach dem Gegenstande der Profession ihrer Lehrer: wie man vom Phidias das Bildhauen, von Hippokrates die Heilkunst lernen könne; was denn von Protagoras?

 

Stolz und Prachtliebe der Sophisten vermochten die vornehme, reservierte Stellung der alten Philosophen nicht zu ersetzen. Der aristokratische Dilettantismus in der Weisheit wurde höher geachtet als ihr fachmännischer Betrieb.

 

Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man von der Sophistik nur die Schattenseiten kannte. Der Spott des Aristophanes und der sittliche Ernst Platos haben sich vereinigt mit den zahllosen Philosophen-Anekdoten späterer Zeit, um schließlich alles auf den Namen der Sophistik zu konzentrieren, was man nur fand an frivoler Rabulisterei, feiler Dialektik und systematischer Unsittlichkeit. Sophist ist das Stichwort für jede Afterphilosophie geworden, und längst schon war die Ehrenrettung Epikurs und der Epikureer eine zum Gemeingut der Gebildeten gewordene Tatsache, als noch jede Schmach auf dem Namen des Sophisten haftete, und das unbegreiflichste Rätsel bleibt, wie ein Aristophanes Sokrates als den obersten der Sophisten darstellen konnte.

 

Durch Hegel und seine Schule in Verbindung mit den vorurteilsfreien Untersuchungen der neueren Philologie wurde in Deutschland einer gerechteren Auffassung Bahn gemacht; noch entschiedener trat in England Grote in seiner Geschichte Griechenlands und schon vor ihm Lewes für die Ehre der Sophisten in die Schranken. Dieser erklärt Platos Euthydemus für ebenso übertrieben, wie Aristophanes' Wolken. »Aristophanes' Karikatur von Sokrates kommt der Wahrheit ebenso nahe, als die Karikatur der Sophisten bei Plato, mit dem Unterschiede, daß sie in dem einen Falle durch politischen, in dem andern durch spekulativen Widerwillen hervorgerufen worden ist.«32 – Grote zeigt uns, daß dieser fanatische Haß recht eigentlich platonisch war. Xenophons Sokrates steht bei weitem nicht in so schroffem Gegensatz gegen die Sophisten.

 

Protagoras bezeichnet einen großen, entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie. Er ist der erste, der nicht mehr vom Objekt, von der äußeren Natur, sondern vom Subjekt, vom geistigen Wesen des Menschen ausging.33 Er ist darin unverkennbar ein Vorläufer des Sokrates, ja, er steht in gewissem Sinne an der Spitze der ganzen antimaterialistischen Entwicklungsreihe, die man gewöhnlich mit Sokrates beginnen läßt. Gleichwohl behält Protagoras noch die engsten Beziehungen zum Materialismus, eben dadurch, daß er von der Empfindung ausging, wie Demokrit vom Stoff; zu Plato und Aristoteles aber tritt er dadurch in schroffen Gegensatz, daß ihm – und auch dieser Zug ist dem Materialismus verwandt – das Einzelne und Individuelle das Wesentliche ist, während jenen das Allgemeine. Mit dem Sensualismus des Protagoras verbindet sich ein Relativismus, der uns an Büchner und Moleschott erinnern kann. Die Aussage, daß etwas sei, bedarf stets der näheren Bestimmung: im Verhältnisse wozu es sei oder werde; sonst ist gar nichts damit gesagt!34 Ganz so sagt Büchner, um das »Ding an sich« zu bekämpfen, daß »alle Dinge nur füreinander da sind und ohne gegenseitige Beziehungen nichts bedeuten,«35 und noch bestimmter Moleschott: »Ohne ein Verhältnis zu dem Auge, in das er seine Strahlen sendet, ist der Baum nicht da.« Dergleichen läßt man heutzutage wohl noch als Materialismus passieren; für Demokrit aber war das Atom ein »Ding an sich«. Protagoras ließ die Atomistik fallen. Ihm war die Materie etwas an sich völlig Unbestimmtes, in ewigem Fluß und Wechsel begriffen. Sie ist das, was sie einem jeden scheint.

 

Am bezeichnendsten für die Philosophie des Protagoras sind folgende Fundamentalsätze seines Sensualismus: 

 

 1. Der Mensch ist das Maß aller Dinge; der Seienden, daß sie sind; der nicht Seienden, daß sie nicht sind.

 

 2. Entgegengesetzte Behauptungen sind gleich wahr.

 

Von diesen Sätzen ist der zweite der auffallendste und zugleich derjenige, welcher an die gewissenlose Rabulisterei, die man nur zu häufig für das eigentliche Wesen der alten Sophistik hält, am entschiedensten erinnert. Er gewinnt jedoch einen tieferen Sinn, sobald man ihn aus dem ersten Satze, welcher den Kern der Lehren des Protagoras enthält, erklärt.

 

Der Mensch ist das Maß der Dinge, d. h. es hängt von unseren Empfindungen ab, wie die Dinge uns erscheinen und dieser Schein ist das allein Gegebene. Also nicht etwa der Mensch nach seinen allgemeinen und notwendigen Eigenschaften, sondern jeder einzelne in jedem einzelnen Moment ist das Maß der Dinge. Würde es sich um die allgemeinen und notwendigen Eigenschaften handeln, so...

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