Nichts wäre irrtümlicher, als von Frankreich zu glauben oder es so hinzustellen, als wäre es am Vorabend von 1789 ein Volk von Helden gewesen, und Quinet hat völlig recht gehabt, diese Legende, die man zu verbreiten versucht hatte, zu zerstören. Es ist klar, wenn man die verschiedenen Tatsachen (die übrigens nicht sehr zahlreich sind) offenen Widerstands gegen das Ancien régime von seiten des Bürgertums – wie zum Beispiel den Widerstand d'Esprémesnils – auf wenigen Seiten zusammenstellt, kann man ein Bild mit recht lebhaften Farben entwerfen. Aber wenn man ganz Frankreich ins Auge faßt, ist man in der Tat betroffen über das Fehlen ernsthafter Proteste, aufrechter Haltung des Individuums – über den Servilismus des Bürgertums, darf ich sagen. ›Niemand macht sich bemerklich oder bekannt‹, sagt Quinet sehr richtig. Man hat nicht einmal Gelegenheit, Bekanntschaft mit sich selbst zu machen (La Révolution, Ausgabe von 1869, erster Teil, S. 15). Und er fragt: Was taten Barnave, Thouret, Siêyès, Vergniaud, Guadet, Roland, Danton, Robespierre und so viele andere, die bald zu Helden der Revolution werden?
In den Provinzen, in den Städten herrschte Schweigen und Stummheit. Die Zentralgewalt mußte erst die Menschen zur Wahl rufen, mußte sie veranlassen, laut zu sagen, was sie sich leise zuflüsterten, damit der dritte Stand seine berühmten Hefte zusammenstellte. Und auch dann noch? Wenn wir in verschiedenen dieser Denkschriften kühne Worte der Empörung finden – wieviel Unterwürfigkeit, wieviel Schüchternheit in den meisten, welche Bescheidenheit in den Forderungen! Denn nachdem die Denkschriften und Hefte des dritten Standes das Recht zum Waffentragen und einige Rechtsgarantien gegen die Willkür der Verhaftungen verlangt haben, fordern sie gewöhnlich hauptsächlich noch ein bißchen mehr Freiheit in den Angelegenheiten der Stadtverwaltung. Erst später, wenn die Vertreter des dritten Standes sich vom Volk von Paris unterstützt sehen und der Bauernaufstand sich anzukündigen beginnt, nehmen sie ihre kühne Haltung gegen den Hof an.
Es trifft sich indessen, daß das Volk sich seit den Bewegungen, die die Parlamente während des Sommers und Herbstes 1788 veranlaßt haben, überall empört, und die Welle steigt bis zu der großen Erhebung der Dörfer im Juli und August 1789.
Wir haben es schon gesagt: die Lage der Bauern und des Volks in den Städten war derart, daß eine einzige schlechte Ernte genügte, um ein fürchterliches Steigen der Brotpreise in den Städten und die Hungersnot in den Dörfern hervorzurufen. Die Bauern waren keine Leibeigenen mehr, da die Leibeigenschaft in Frankreich seit langem, wenigstens auf den Privatgütern, abgeschafft war. Seit Ludwig XVI. sie (1779) auf den königlichen Domänen abgeschafft hatte, gab es, im Jahre 1788, nur noch 80 000 der toten Hand Unterworfene im Jura und höchstens 1 500 000 in ganz Frankreich – vielleicht sogar weniger als eine Million; und selbst diese, die der toten Hand unterworfen waren, waren keine Leibeigenen im strengen Sinne des Wortes. Die große Masse der französischen Bauern hatte seit langem aufgehört, leibeigen zu sein. Aber sie mußten fortfahren, mit Geld und Arbeit – Frondiensten unter anderm – ihre persönliche Freiheit bezahlen zu müssen. Diese Leistungen waren äußerst hart und mannigfaltig, aber sie waren nicht willkürlich: sie sollten Zahlungen für das Besitzrecht am Boden vorstellen – den Kollektivbesitz der Gemeinde oder den Privatbesitz oder die Pacht; und jedes Grundstück hatte seine Leistungen, die ebenso mannigfaltig wie zahlreich waren und die sorgfältig in den Grundbüchern aufgezeichnet waren.
Außerdem war die Gerichtsbarkeit dem Grundherrn vorbehalten. Der Herr blieb noch auf einer Anzahl Ländereien Richter, oder er ernannte die Richter; und auf Grund dieses altüberlieferten Vorrechts nahm er alle möglichen persönlichen Rechte über seine früheren Leibeigenen vorweg. Wenn eine alte Frau ihrer Tochter ein oder zwei Bäume und ein paar alte Kleider vermachte (zum Beispiel ›meinen wattierten schwarzen Rock‹ – ich habe solche Vermächtnisse gesehen), dann erhob der ›edle und gnädige Herr‹ oder ›die edle und gnädige Frau Baronin‹ so und so viel von diesem Vermächtnis. Der Bauer zahlte desgleichen für das Recht auf Verheiratung, Taufe und Begräbnis; er zahlte ferner für jeden Kauf oder Verkauf, den er machte, und sein Recht, seine Ernte oder seinen Wein zu verkaufen, war beschränkt: er durfte nicht vor dem Herrn verkaufen. Endlich hatten sich alle möglichen Arten von Oktroi – für die Benutzung der Mühle, der Kelter, des Backofens (in dem allein er backen durfte), des Waschhauses, eines bestimmten Weges, einer bestimmten Furt noch von den Zeiten der Leibeigenschaft her erhalten und ebenso Abgaben von Haselnüssen, Champignons, Leinwand, Garn, die man ehedem als ›Gratulationsgaben zum glücklichen Antritt der Herrschaft‹ betrachtet hatte.
Die obligatorischen Frondienste waren von unendlicher Verschiedenheit: Arbeiten auf den Feldern des Herrn, Arbeiten in seinen Parken und Gärten, Arbeiten, um alle erdenklichen Launen zu befriedigen ... In einigen Dörfern bestand sogar die Verpflichtung, nachts die Teiche zu schlagen, damit die Frösche den Herrn nicht im Schlaf störten.
Persönlich hatte der Mensch seine Freiheit erlangt; aber dieses ganze Netz von Leistungen und Abgaben, das sich allmählich durch die Schlauheit der Herrn und ihrer Verwalter in den Jahrhunderten der Leibeigenschaft eingenistet hatte, dieses Netz lag immer noch um den Bauern.
Dazu kam nun noch der Staat mit seinen Steuern der verschiedensten Art, Kopfsteuern, Grundsteuern, Zwanzigstelsteuern, seinen immer wachsenden Frondiensten; und der Staat war ganz wie der Verwalter des Grundherrn immer dabei, seine Phantasie zu üben, um irgendeinen neuen Vorwand und eine neue Form von Auflage zu finden.
Allerdings mußten seit den Reformen Turgots die Bauern bestimmte Feudalabgaben nicht mehr zahlen, und manche Provinzialgouverneure lehnten es sogar ab, manche Leistungen gewaltsam einzutreiben, die sie als schädliche Schätzungen betrachteten. Aber die großen Feudallasten, die auf dem Grund und Boden ruhten, mußten im Ganzen bezahlt werden; und sie wurden um so drückender, je mehr die Staats- und Provinzialsteuern, die sich daran anschlossen, anwuchsen. Daher ist keine Spur Übertreibung in den düstern Bildern des Dorflebens, die uns jeder Revolutionshistoriker malt; aber es ist ebensowenig eine Übertreibung, wenn man uns sagt, es habe in jedem Dorfe einige Bauern gegeben, die sich einen gewissen Wohlstand geschaffen hätten, und diese seien besonders darauf aus gewesen, alle Feudallasten abzuschütteln und die persönlichen Freiheiten zu erobern. Die zwei Typen, die Erckmann-Chatrian in ihrer ›Geschichte eines Bauern‹ vorführen – der des Dorfbourgeois und der des Bauern, der von der Last des Elends erdrückt wird –, sind wahr. Sie existierten beide. Der erste gab dem dritten Stand die politische Macht; wohingegen die Banden von Empörern, die vom Winter 1788/89 an anfingen, die Adligen zu zwingen, auf die Feudallasten, die in den Grundbüchern eingetragen waren, zu verzichten, sich aus den Dorfarmen rekrutierten, die nur eine Lehmhütte hatten, in der sie wohnten, und Kastanien und die Ergebnisse des Ährenlesens, wovon sie sich nährten.
Dasselbe ist für die Städte zu bemerken. Die Feudalrechte erstreckten sich ebenso auf die Städte wie auf die Dörfer; die Armenbevölkerung in den Städten war ebenso von Feudalabgaben erdrückt wie die Bauern. Die Gerichtsbarkeit der Herrn war in vielen städtischen Ansiedlungen in voller Kraft geblieben, und die Häuschen der Handwerker und Arbeiter zahlten im Fall des Verkaufs oder der Erbschaft dieselben Abgaben wie die Häuser der Bauern. Mehrere Städte mußten sogar als Loskauf von ihrer früheren Feudalabhängigkeit einen ständigen Tribut bezahlen. Überdies zahlten die meisten Städte dem König das ›freiwillige Geschenk‹ (don gratuit) für die Erhaltung eines Schattens von unabhängiger Stadtverwaltung, und die Steuerlast drückte hauptsächlich auf die Schultern der Armenbevölkerung. Wenn man die hohen königlichen Steuern, die Provinzialabgaben und die Fronden, die Salzsteuer usw. dazu nimmt, und außerdem die Willkür der Behörden, die hohen Gerichtskosten und die Unmöglichkeit für einen einfachen Bürgersmann oder selbst einen reichen Städter, gegen einen Adligen Recht zu bekommen, und wenn man an all die verschiedenen Arten der Unterdrückungen, Kränkungen und Demütigungen denkt, denen der Handwerker ausgesetzt war, dann bekommt man eine Vorstellung von der Lage der Armenbevölkerung unmittelbar vor 1789.
Von dieser Armenbevölkerung nun ging die Empörung der Städte und Dörfer aus, sie gab den Vertretern des dritten Stands in den Generalstaaten die Kühnheit, dem König Widerstand zu leisten und sich als konstituierende Versammlung zu erklären.
Infolge der Dürre war die Ernte von 1788 mißraten, und der Winter war sehr streng. Ohne Frage hatte es in früheren Zeiten fast ebenso strenge Winter, fast ebenso schlechte Ernten und auch Volksaufstände gegeben. In jedem Jahr gab es in irgendeinem Teil Frankreichs eine Teuerung. Und oft erstreckte sie sich auf den vierten und dritten Teil des Königreichs. Aber dieses Mal war die Hoffnung durch die Ereignisse, die vorhergegangen waren, erweckt worden; die Provinzialtage, die Zusammenkünfte der...