Erste Haupt-Abtheilung - Ueber den Eigennutz
Le soin d'avancer, autant qu'il est en notre pouvoir, le bien commun de tout le système des agens raisonnables, sert à procurer, autant qu'il dépend de nous, le bien de chacune de ses parties, dans lequel est renfermée notre propre félicité, puisque chacun de nous est une de ces parties. D'où il s'ensuit, que les actions, contraires à ce désir produisent des effets opposés, et par conséquent entraînent notre misère aussi bien que celle des autrer.
Traité philosophique des loix naturelles, par Cumberland, traduit par Barbeyrac. Amsterd. 1744. Discours prélimin. de l'auteur, §. IX pag. 11.
Erster Abschnitt.
Von den Bewegungsgründen welche den Menschen zu moralischen Handlungen bestimmen und in wie fern dabey die Beförderung seines eigenen Nutzens und seiner Glückseligkeit die Haupt-Triebfeder sey und seyn dürfe.
1.
Ist es wahr, daß die Haupt-Triebfeder aller menschlichen Handlungen der Eigennutz, und daß auch da, wo großmüthige Aufopferungen jenen Vorwurf zu widerlegen scheinen, dennoch die Beförderung des eignen Vergnügens des eignen Genusses, des eignen, wahren oder eingebildeten Glücks, heimlich im Spiele sey? Oder vermag der Mensch in seinem irdischen, sinnlichen Zustande, nach höhern Bewegungsgründen, nach angebohrnen, unwandelbaren Gesetzen zu handeln, die, fern von aller Rücksicht auf seinen individuellen Zustand, nur die Ausübung des reinen Guten, nur die Erfüllung der Pflicht, ohne Absehn auf Erfolg und Nützlichkeit, zum Gegenstande haben? Ist dies allein Tugend zu nennen und darf nur der auf moralische Vollkommenheit Anspruch machen, der nach solchen Motiven handelt, die in allen Lagen, in allen Verhältnissen, was für Folgen auch daraus entspringen mögten, wie allgemeine Gesetze betrachtet werden müssen? Giebt es endlich solche Bewegungsgründe? – das sind Fragen, die seit einiger Zeit wieder so oft unter den Philosophen zur Sprache kommen, daß es wohl der Mühe werth scheint, ohne Systemgeist und ohne Vorurtheil, mit der Fackel der Vernunft, noch einmal diesen Gegenstand zu beleuchten, der vielleicht längst nicht mehr im Dunkeln liegen würde, wenn nicht unglückseliger Weise, durch die mystische Kunstsprache gewisser Gelehrten, die einfachsten, klarsten Wahrheiten, zu deren Ergründung nichts als ein gesunder Hausverstand erfordert wird, so entstellt würden, daß sie einen Anstrich von neuer Weisheit erhalten. Hierdurch gewinnen freylich die Nachahmer dieser Lehrart den Vortheil über ihre Gegner, daß, wenn man die unter einer so barbarischen Firma zugleich mit durchschleichenden Irthümer widerlegt, sie vorgeben und auch würklich glauben können, man habe sie nicht verstanden. Fragt man aber, woher es komme, daß ein so dunkles System so viel Anhänger findet; so ist nicht schwer darauf zu antworten. Alles Neue reizt die Wißbegierde; dem großen Haufen scheint nichts erhabner, als was dunkel ist; eine Menge sonst vernünftiger Menschen schämt sich, zu bekennen, daß sie nicht verstanden habe, was sie mit Aufmerksamkeit gelesen hat; wem es aber gelungen ist, nach fleißigem Studio, den Sinn jener abstracten Abhandlungen in verlohrnen Stunden zu entziffern, der wird nicht das Verdienst dieser Bemühung verliehren und gestehn wollen, daß er nichts Neues daraus gelernt habe. Allein wir, die wir immer der Meinung bleiben werden, daß solche Wahrheiten, die allen und jeden vernünftigen Menschen nöthig und wichtig zu wissen sind, auch so vorgetragen werden können und müssen, daß sie allen und jeden vernünftigen Menschen verständlich werden, wir wollen ihnen in jener Kunst nicht nachahmen, sondern uns bestreben, die Frage: in wie fern die Beförderung eigner Glückseligkeit als ein erlaubter und edler Bewegungsgrund zu moralischen Handlungen angesehn werden könne, so deutlich wie möglich aus einander zu setzen und zu beantworten.
2.
Um zu entwickeln, wie etwa der Mensch, ohne Betrachtung der Würkung seiner Handlungen auf die Verhältnisse, darinn er sich befindet, handeln würde, wird es nicht unnütz seyn, ihn uns ganz ohne jene Verhältnisse, isolirt, zu denken; also nicht den Menschen, der schon mit den Rechten, Vortheilen und Verbindlichkeiten, welche ihm die bürgerliche Gesellschaft gewährt und auflegt, gebohren wird, sondern den einzeln stehenden Natur-Menschen. Und da fragt sich's dann: wie kann und wird dieser die Tugend kennen, lieben und ausüben?
3.
Der Natur-Mensch hat mit den übrigen Thieren das gemein, daß er durch körperliche Anreizung, durch Gefühl, durch Instinct, zu gewissen Handlungen hingezogen wird. Er hat aber das vor andern lebendigen Geschöpfen voraus, daß die Vernunft ihn die Anwendung jenes Gefühls und Instincts zu bestimmten sichern Zwecken lehrt und ihn determinirt, gewisse Handlungen aus gewissen Ursachen zu unternehmen, andre hingegen zu unterlassen.
4.
Sein Gefühl treibt ihn ohne Ordnung und Gesetz, zu Allem, was ihm einen angenehmen Genuß der ihm bekannten Gegenstände in der Welt gewähren und zusichern kann. Höchstens lehrt ihn sein Instinct durch Erfahrung, sich das Uebermaß des Genusses zu versagen, überhaupt dasjenige nicht zu begehren, was ihm einmal unangenehme Empfindungen erweckt hat, und also wieder erwecken kann. Auch zieht ihn sein Instinct unwillkührlich hin, zu andern lebenden und todten Gegenständen um ihn her, jedoch ohne deutliche Unterscheidung der Ursachen dieser Triebe. Seine Vernunft hingegen nützt diese Erfahrungen, ordnet sie und zieht daraus Vorschriften ab, die seinen Willen bestimmen und gewisse Entschlüsse für die Folge in ihm erzeugen.
5.
Diese Entschlüsse nun können sich nicht weiter erstrecken, als auf solche Fälle, über welche er würklich Erfahrungen gemacht hat, und er kann nur Vorsätze fassen, die auf diejenigen Verhältnisse anwendbar sind, welche er kennt. Da ihn nun seine eigne Existenz jeden Augenblick seines Lebens am mehrsten beschäftigt und ihm das Gefühl derselben am lebhaftesten und beständigsten gegenwärtig ist; so wird die erste Sorgfalt seiner Vernunft auf Erhaltung und Vervollkommung seines Daseyns gerichtet seyn und wenn er sich Gesetze und Pflichten vorschreibt; werden diese gewiß das Wohlbehagen seines eignen Ichs zum vornehmsten Augenmerke haben. In dem Maße aber, in dem seine Bedürfnisse, Erfahrungen und Verhältnisse sich vervielfältigen, entstehen bey ihm auch neue Ueberlegungen und Vorsätze, die ihn dann zum Handeln bestimmen, also neue Pflichten, die er sich auflegt. Je näher ihm dann das Interesse an irgend einem Gegenstande liegt, desto wichtiger werden ihm die Motive seyn, die ihn determiniren, in Rücksicht auf diesen Gegenstand so und nicht anders zu handeln. Je weiter entfernt hingegen, desto unwichtiger; Thorheit würde es ihm seyn, sich Pflichten in Verbindung mit Gegenständen aufzulegen, mit welchen er in gar keinen Verhältnissen steht.
6.
Es giebt also nur Ein von der Natur uns eingepflanztes allgemeines Gesetz, nämlich das: der Vernunft zu folgen. Die Anwendung hängt von den Erfahrungen und Verhältnissen ab. Wo diese gänzlich fehlen, da kann keine Idee von Entschlüssen, die darauf Bezug haben, Statt finden. Und so wie andre, neue Erfahrungen und Verhältnisse eintreten, müssen auch die Motive zu den Handlungen sich verändern.
7.
Ohne Zweck handelt die Vernunft nicht, denn dadurch unterscheiden sich ja ihre Antriebe von denen, die der Instinct und das dunkle Gefühl bewürken. Wo also keine Zwecke sich darstellen, da wird die Vernunft nicht zum Handeln bestimmt. Deswegen ist alles, was wir Tugend, Pflicht und Gesetz nennen, nur Resultat der Vernunft, gezogen aus der Ueberlegung des Zwecks und der dadurch herbeyzuführenden Folgen, die diese oder jene Handlung, wie die Erfahrung lehrt, hat und haben wird. Das heißt mit andern Worten: ein vernünftiges Wesen wird nur solche Handlungen mit Ueberlegung begehn, die zu etwas nützen, irgend eine Art von Vortheil bringen. Je näher ihm, seiner Person, seinem eignen Ich, dieser Vortheil, dieser Nutzen liegt, desto einfacher und dringender sind die Bewegungsgründe, denselben zu befördern.
8.
Hieraus folgt also, daß unsre jetzigen Begriffe von Tugend und Pflicht gar keine allgemeine, ewige, unwandelbare Wahrheiten, sondern nach den verschiedenen Erfahrungen und Verhältnissen auch verschieden sind und seyn müssen, ja! daß dieselbe Handlung, unter andern Umständen, gut, gleichgültig oder sträflich seyn, und daß Ein verständiges Wesen von gewissen Pflichten die erhabensten Begriffe haben, indeß das andre sich gar keine Vorstellung davon machen kann und noch ein andres dasselbe, was jenem Pflicht scheint, für ein Verbrechen hält. Um davon ein Paar Beyspiele zu geben; so frage ich: ob wohl ein vernünftiges Geschöpf einen...