1. Die Entstehung des Westens: Prägungen eines Weltteils
Monotheismus als Kulturrevolution: Der östliche Ursprung des Westens
Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott. Zur Entstehung des Westens war mehr erforderlich als der Monotheismus, aber ohne ihn ist der Westen nicht zu erklären. Der westliche Monotheismus ist östlichen Ursprungs. Er ist das Ergebnis einer Kulturrevolution, die sich im Ägypten des 14. Jahrhunderts vor Christus unter dem König Amenophis IV. vollzog. Amenophis, der Gemahl der Nofretete, erhob den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott und nannte sich selbst Echnaton, was so viel wie «dem Aton wohlgefällig» bedeutet.
Der ägyptische Monotheismus blieb eine Episode. Er wurde von Echnatons Gegnern, obenan den einflußreichen Priestern des Gottes Amun, unterdrückt und aus der Erinnerung gelöscht, also im psychologischen Sinn des Wortes «verdrängt». Dennoch hatte er weltgeschichtliche Wirkungen: in Gestalt der mosaischen Religion. Ob es Moses als historische Figur überhaupt gegeben hat und, wenn ja, ob er ein vornehmer Ägypter oder ein israelischer Gefolgsmann Echnatons war, das ist in der Forschung so umstritten wie alles, was in der Bibel über die ägyptische Gefangenschaft der Israeliten und ihren Exodus ins gelobte Land zu lesen steht. Als sicher darf nur gelten, daß der jüdische Monotheismus eine Metamorphose des ägyptischen, der Aton-Religion, ist. Die Suche nach den Ursprüngen des Okzidents hat uns also in den Orient geführt, und wir werden noch mehrfach dorthin zurückkehren müssen, wenn wir das Werden des Westens erklären wollen.[1]
In Ägypten war der Versuch, die Vielgötterei durch den Glauben an einen Gott zu ersetzen, politische Theologie im strikten Sinn des Begriffs: Der Monotheismus sollte der Festigung eines multinationalen Reiches dienen, war also als Mittel der Herrschaftssicherung gedacht. Der Begriff «politische Theologie» ist durch den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt zum geflügelten Wort geworden. «Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe», lautet die Kernthese seiner 1922 erschienenen Schrift «Politische Theologie». Der Autor verweist auf die Umwandlung des allmächtigen Gottes in den omnipotenten Gesetzgeber im Zeitalter des Absolutismus und stellt fest, für die Jurisprudenz habe der Ausnahmezustand eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Die Idee des modernen Rechtsstaates hat sich, so Schmitt, mit dem Deismus entwickelt – jener aufklärerischen Religionsauffassung, die in Gott den Urgrund der Welt sieht, seinen Einfluß auf dieselbe aber mit der Schöpfung enden läßt und jede Art von göttlicher Offenbarung leugnet. So wie der Deismus das Wunder aus der Welt verweist, weil es die Naturgesetze durchbricht, so lehnt die Staatslehre der Aufklärung den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung ab. Umgekehrt sind die konservativen Schriftsteller der Gegenrevolution im 19. Jahrhundert nicht zufällig überzeugte Theisten, also Anhänger des Glaubens an einen persönlichen und überweltlichen, die Weltläufte bestimmenden Gott. Sie brauchen diesen Glauben schon deshalb, weil ihnen daran liegt, durch einen Analogieschluß von Gott auf den König die persönliche Souveränität des Monarchen ideologisch zu stützen.[2]
Als Gegenposition zu Carl Schmitt erscheint auf den ersten Blick die These des Ägyptologen Jan Assmann: «Alle prägnanten Begriffe – vielleicht sagen wir lieber bescheidener: einige zentrale Begriffe – der Theologie sind theologisierte politische Begriffe». So wie Schmitt den Prozeß der Säkularisierung zentraler theologischer Begriffe nachweisen wollte, will Assmann in seiner Studie «Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa» das Theologischwerden zentraler politischer Begriffe herausarbeiten. Den krassesten Fall einer Umbesetzung ursprünglich politischer Modelle und Begriffe bildet für ihn die alttestamentliche Bundestheologie. «Hier werden die politischen Modelle des Staatsvertrages und der Treueidverpflichtung zur Grundlage einer Theologie gemacht, die das Thema der Weltzuwendung Gottes in eindeutig politischen Formen darstellt und das Thema der politischen Ordnung in geradezu radikaler Weise theologisiert. Diese ‹Theologisierung› des Politischen hat die damalige Welt ebenso fundamental revolutioniert wie in der Neuzeit die Säkularisierung des Theologischen.»[3]
Tatsächlich hatte schon Schmitt angedeutet, daß Säkularisierung und Theologisierung zwei Seiten einer Medaille oder, anders gewendet, dialektisch aufeinander bezogene Vorgänge sind: «Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.»[4] Und Assmann betont seinerseits, seine Perspektive kehre die Schmittsche These nicht einfach um, sondern erweitere sie um ihre Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte beginnt in Ägypten und setzt sich in Israel fort: Der jüdische Monotheismus ist für Assmann die «erste reflexiv gewordene und sich über andere Religionen kritisch erhebende Form der wahren Gottesverehrung».[5]
Wie für die Ägypter war der Monotheismus auch für die alten Israeliten eine politische Theologie. Der Glaube an einen Gott, dessen auserwähltes Volk sie waren, half ihnen, den Zusammenhalt auch in Zeiten des Reichszerfalls, der staatlichen Zersplitterung, der Verfolgung, der Vertreibung und der Fremdherrschaft zu wahren. Sigmund Freud hat in Moses, dem Ägypter, sogar den Schöpfer des jüdischen Volkes und in seiner Lehre von der Auserwählung Israels den Ursprung der Judenfeindschaft gesehen: «Ich wage die Behauptung, daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten.»[6]
Freuds ägyptischer Moses ist Volks- und Religionsschöpfer in einem und wird eben dadurch zu einem Kulturrevolutionär. Er hat zunächst einem Teil des jüdischen Volkes «eine höher vergeistigte Gottesvorstellung gegeben, die Idee einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Gottheit, die nicht minder alliebend war als allmächtig, die, allem Zeremoniell und Zauber abhold, den Menschen ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel setzte». Moses’ von Echnaton übernommenes Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, bedeutete eine «Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen». Die «Entmaterialisierung Gottes» bewirkt eine «außerordentliche Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten» und die Herausbildung einer ethischen Religion der Triebverzichte. «Nicht daß sie sexuelle Abstinenz fordern würde, sie begnügt sich mit einer merklichen Einengung der sexuellen Freiheit. Aber Gott wird der Sexualität völlig entrückt und zum Ideal ethischer Vollkommenheit erhoben. Ethik aber ist Triebbeschränkung.»[7]
Monotheismus als Kulturfortschritt, ja als Kulturrevolution: Es gibt Autoren, die dieser These widersprechen. Für Assmann hat die monotheistische Gegenreligion des Echnaton die «mosaische Unterscheidung», die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, vorweggenommen und damit den «Haß der Ausgegrenzten» auf sich gezogen. «Seitdem ist dieser Haß in der Welt und kann nur im Rückgang auf seine Ursprünge überwunden werden.»[8] Der Monotheismus als Gegenreligion des Hasses, der antike, von Ägypten ausgehende Kosmotheismus, für den Gott und Welt im letzten eines sind, als «Grundlage für Toleranz und interkulturelle Übersetzung»: Assmann macht sich eine Deutung zu eigen, die sich bis auf Spinoza und einige Autoren der Aufklärung zurückverfolgen läßt.[9] Steht der Monotheismus also am Beginn einer weltgeschichtlichen Fehlentwicklung?
Unduldsamkeit gegenüber anderen Göttern, die nur noch Götzen sein konnten, und gegenüber jeder Art von Götzendienst war die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß sich der mosaische Monotheismus historisch durchsetzen konnte. Der Gott Moses’ war die theologische Antwort auf die Frage nach dem Schöpfer der Welt und dem Verhältnis des Menschen zu ihm – eine Frage, der mit polytheistischen Mythen rational nicht beizukommen war. Der jüdische Monotheismus bedeutete also in der Tat einen gewaltigen Schub in Richtung Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung.
Da Moses’ Gott der unmittelbare Urheber der Zehn Gebote und aller anderen auf Moses zurückgeführten biblischen Vorschriften, mithin des gesamten Rechts, war, ließ sich das Wohlergehen seines auserwählten Volkes fortan damit erklären, daß dieses seinen Anweisungen folgte. Wenn es wider seinen Herrn sündigte oder gar in den Götzendienst zurückfiel, brach es den mit Gott...