Einleitung
Vor kurzem noch galt es unter namhaften deutschen Soziologen als chic, anstelle der harten Barrieren der Sozialen Ungleichheit die bunte Vielfalt der Individualisierung und Pluralisierung zu beschwören. Anstatt die Hierarchie der Klassenformationen, auch der Eliten und der Unterschichten, zu analysieren, wurde stattdessen die Vorherrschaft vager Milieus und diverser Lebensstile ins Feld geführt. Die alldem widersprechenden empirischen Ergebnisse der realistischen Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker, die den Formwandel, aber eben auch die hartnäckige Resistenz der Ungleichheitsstrukturen unterdessen weiter herausarbeiteten, wurden von dieser modischen Denkschule kurzerhand ignoriert. Ihr folgten aber Teile des gehobenen Feuilletons und Sprecher der politischen Klasse nur zu bereitwillig, da der in Deutschland noch immer als marxistisch verpönte Klassenbegriff und die Realität der in Klassen gegliederten Marktgesellschaft auf diese Weise sprachkosmetisch verdrängt werden konnten.
Deshalb war es vielleicht folgerichtig, wegen der Abwegigkeit dennoch überraschend, dass ebenfalls noch vor kurzer Zeit die Prominenz aller politischen Lager in einer denkwürdig bizarren Diskussion sich unisono darin einig fand, dass es hierzulande überhaupt keine Unterschichten gebe. Aufgrund dieser verblüffenden Realitätsblindheit bemühte sie sich heftig darum, die Bundesrepublik als einziges Land der Welt ohne Unterschichten zu präsentieren – offenbar eine hierarchiefreie Insel der Glückseligen. Der flugs geltend gemachte, auf die Existenz der Unterklassen zielende Begriff des «Prekariats» konnte sich – zwar verschämt eingefärbt, doch auch um Wirklichkeitsnähe bemüht – nicht durchsetzen. Allzu weit blieb dieses semantische Verlegenheitskonstrukt von dem vertrauten Vokabular der Umgangssprache entfernt.
Inzwischen hat die soziale Realität all diesen Sprachspielen ein unmissverständliches Dementi entgegengesetzt. Auf der einen Seite: Abermillionen von Arbeitslosen; die zumal in Ostdeutschland, aber auch in westdeutschen Industrierevieren zu besichtigenden geradezu altertümlichen Formen krasser Ungleichheit; die Lage zahlreicher Hartz IV-Empfänger. Auf der anderen Seite: der obszöne Anstieg von Managergehältern in schwindelerregende Höhen; die Selbstbereicherung mit spektakulären Bonuszahlungen und Vorzugsaktien als begehrte Zusatzbelohnung für eine bereits übermäßig honorierte Leistung; die steile Gewinnsteigerung der Unternehmen bei gleichzeitiger, jahrelang währender Stagnation der Realeinkommen der Erwerbstätigen. Solche dramatischen Signale haben die Problematik der Sozialen Ungleichheit erneut unabweisbar auf die Tagesordnung gesetzt.
Der von einem blindwütigen, grenzenlos habgierigen Turbokapitalismus verursachte Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte, parallel dazu die seit 1929 schlimmste Depression der Realwirtschaft werden diese Problematik auf absehbare Zeit noch weiter verschärfen. Ihr Druck wird auch die Sozialwissenschaftler wieder zu kritischeren Analysen, die Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion zu einer realistischeren Sprache nötigen.
Mit der Zunahme der Sozialen Ungleichheit ist nicht nur eine enorme Belastung des Sozialstaats, sondern auch eine Veränderung der Mentalität, mit der die soziale Realität wahrgenommen und verarbeitet wird, unausweichlich verbunden. Als Folge dieses Perzeptionswechsels taucht ein genuin politisches Problem auf: Mit verschärfter Ungleichheit wird, über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt. Denn die Glaubwürdigkeit der modernen sozialstaatlichen Massendemokratie beruht vor allem darauf, dass sie eine allzu schroffe Ungleichheit der Lebenslagen erfolgreich bekämpft, die Gleichheitschancen überzeugend vermehrt statt vermindert. Kurzum: Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gewinnt eine neue Dringlichkeit, so sehr auch überzeugende Kriterien des Zustands, wann sie denn verwirklicht sei, zu bestimmen sind und so umstritten ihre normativen Grundlagen auch sein mögen. Soziale Gerechtigkeit – dieser Topos wird zum «Dauerbrenner» der innenpolitischen Diskussion in den kommenden Jahren aufsteigen.
Während dieser Debatte geht es zum einen darum, mit allen Kräften und mit Hilfe aller Ressourcen das Dauerphänomen der aufklaffenden Sozialen Ungleichheit auf ein erträgliches Maß abzumildern. Daran muss sich auch die Gestaltungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie bewähren, die sich freilich als Interventions- und Sozialstaat einer äußerst schwierigen Aufgabe gegenüber sieht. Ihre Lösung verlangt ein exzeptionelles Maß an Lernfähigkeit und Entscheidungskraft. Werden sie vorhanden sein?
Für beides: für die aufklärende Diskussion wie für das praktische Handeln sind möglichst genaue historische Kenntnisse von Nutzen, ja unentbehrlich. Bleibt doch die Geschichte – dies erneut gegen die geläufige Skepsis – das einzige Erinnerungs- und Denkmaterial, aus dem wir lernen können, denn allein Gegenwartskonstellationen und Zukunftsprojektionen reichen dafür nie aus. Historische Kenntnisse belehren über den gewöhnlich langsamen Gang der sozialen Evolution, die indes manchmal auch durch Katarakte beschleunigt hindurchgepresst wird. Sie belehrt darüber, wie sich mit der modernen Marktwirtschaft auch die Marktgesellschaft Schritt für Schritt durchgesetzt hat, in der die «marktbedingten Klassen» (Max Weber) die überkommenen ständischen Formationen effektiv verdrängt haben. Denn in dieser Marktgesellschaft entscheiden zusehends Marktprinzipien über die Zuteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken, da die erdrückende Mehrheit der Erwerbstätigen ihre denkbar unterschiedlichen Leistungskapazitäten auf Arbeitsmärkten anbieten muss, von denen sie zu marktkompatiblen Preisen abgerufen – oder aber ausgespien und in jene «Versorgungsklassen» (M. R. Lepsius) abgedrängt werden, in denen sie von öffentlichen Transferleistungen abhängen.
Sie belehren aber nicht zuletzt auch darüber, wie außerordentlich schwierig es ist, durch staatliche Steuerung die Ungleichheitsdistanz in der Sozialstruktur zu vermindern, etwa durch das Bildungswesen und das Steuerrecht, durch allerhand Transferleistungen und Förderungssysteme. All diese Anstrengungen mögen bereits am Mangel einsetzbarer materieller Ressourcen scheitern, da falsche Präferenzentscheidungen, etwa in Gestalt obskurer Subventionsleistungen, zu viele Mittel anderswo binden. Sie können aber auch an der kulturellen Hemmschwelle einer abwehrenden Mentalität oder eines feindseligen Habitus auflaufen: Die konstante Ablehnung höherer Bildung hält etwa die Kinder aus den Familien ungelernter Arbeiter von den Gymnasien und Universitäten trotz aller Bemühungen der Bildungsreformer weiterhin fern. Diese soziokulturellen Barrieren in den Köpfen der Menschen sind ungleich schwerer zu beseitigen als die Hindernisse im Gesetzgebungsprozess, wenn etwa überfällige Studiengebühren mit einem großzügigen Stipendiensystem auf Darlehensbasis verkoppelt werden sollen.
Einem Irrglauben muss man freilich so schnell wie nur irgend möglich abschwören. Das ist die verbreitete Vorstellung, dass die Märkte einer Wachstumsgesellschaft von sich aus für eine gleichmäßige Verteilung des Wohlstandes sorgen. Unstreitig ist der moderne Markt eine ingeniöse soziale Erfindung, die mit einem weltumspannenden Kommunikationssystem Nachfrage und Angebot koordiniert, Versorgungslücken mitteilt, Warnsignale sendet. Bisher ist keine überlegene Alternative entwickelt worden, die sich abseits des papiernen Entwurfs realiter bewährt hätte. Das radikale Scheitern der staatlichen Zentralplanwirtschaft ist das letzte Beispiel einer unterlegenen Option. Eins aber vermag der funktionstüchtige Markt nicht: nach der von ihm erzeugten Wohlstandssteigerung von sich aus auch noch zielstrebig Soziale Ungleichheit zu verringern. Um mehr kann es nicht gehen, da die Utopie der Gleichheit aller durch die Hierarchie jeder bekannten Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten, unterschiedliches soziales und kulturelles Kapital auswirken, dementiert wird. Verringern kann die Ungleichheitsdistanz nur der mächtigste Akteur: der moderne Staat. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat der Interventions- und Sozialstaat bewiesen, dass er dank der Unterstützung durch die großen politischen Parteien, mithin durch seine parlamentarischen Hilfstruppen, imstande ist, den ursprünglichen wildwüchsigen Privatkapitalismus durch ein Regelwerk zu zähmen, so dass er in den Dienst eines sozialstaatlichen Ausgleichs gestellt werden kann. Eben eines solchen Regelwerkes bedürfen auch der globale Kapitalismus und erst recht das System der internationalen Finanzmärkte, wie die Entwicklung seit dem Herbst 2008 jedermann demonstriert hat.
Die Crux ihrer Regellosigkeit kann ohne jeden komplizierten Fachjargon in gemeinverständlicher Sprache charakterisiert werden: Menschen können auf die Dauer nur friedlich zusammenleben, wenn sie allgemein akzeptierten Regeln folgen. Das ist eine anthropologische Konstante. Sie gilt selbstverständlich auch für jene Arena, in der sie ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit...