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Einige biologische Grundlagen
Wer Lebensmittel kauft, verlässt sich darauf, dass sie immer die gleichen Eigenschaften haben. Man achtet streng darauf, dass ein Laib Brot stets das angegebene Gewicht hat. Auf Lebensmittelverpackungen ist zu lesen, aus welchen Bestandteilen der Inhalt zusammengesetzt ist, wie hoch der Zuckeranteil ist, ob sich ein Lebensmittel beispielsweise für Kleinkinder oder Allergiker eignet. Wer seine Lebensmittel nicht fertig kauft, sondern selbst zubereitet, also etwa einen Kuchen bäckt, braucht, wie es im Kinderlied heißt, sieben Sachen: Eier und Schmalz, Zucker und Salz, Milch und Mehl, schließlich Safran, der den Kuchen «gehl» macht, also gelb. Jeder Verbraucher geht selbstverständlich davon aus, dass diese Bestandteile von Nahrung, wenn man sie im Laden kauft, bestimmte Eigenschaften haben.
Doch dabei muss man bedenken, dass die diversen Zutaten eines Kuchens ihrer Natur nach einen grundsätzlich unterschiedlichen Charakter haben. Nur das Salz stammt nicht von einem Lebewesen, sondern wurde in einem Salzbergwerk abgebaut oder in einem Salzgarten am Meer gewonnen. Kochsalz hat eine feste chemische Formel. Daher kann reines Kochsalz tatsächlich immer das gleiche Produkt mit genau definierten Eigenschaften sein, wenn man es von anderen Salzen getrennt hat. Ähnlich verhält es sich mit Zucker: Er wurde zwar aus Pflanzen hergestellt, aber anschließend raffiniert, das heißt, es wurden verschiedene Zuckersorten voneinander getrennt. In der Zuckertüte, die man beim Herstellen des Kuchenteigs nimmt, ist in den meisten Fällen Glucose oder Traubenzucker enthalten. Man kann ebenfalls Fructose oder Fruchtzucker verwenden; das ist für Diabetiker wichtig.
Eier, Milch und Schmalz sind tierische Produkte. Diese Produkte haben nicht immer die gleichen Eigenschaften. Man muss einsehen, dass eine Kuh, die Milch liefert, ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, oder ein Schwein als «Produzent» von Schweineschmalz Individuen sind. Doch die Waren im Supermarkt sollen, so der allgemeine Wunsch, immer gleich sein, einen bestimmten Fettgehalt aufweisen, immer gleich viel wiegen. Das wirft Schwierigkeiten auf. Eier zum Beispiel sind kleiner oder größer. Man kann sie zwar nach Größenklassen sortieren, aber damit ist nicht gesagt, dass sie tatsächlich genau gleich groß und genau gleich schwer sind. Kein Ei gleicht dem anderen!
Selbst Mehl ist eine Ware mit bestimmten Eigenschaften: Es stammt von unterschiedlichen Getreidearten, es kann auch aus verschiedenen Mehlsorten zusammengemischt sein, es kann feiner oder gröber gemahlen sein, und es ist in unterschiedlicher Weise ausgesiebt. Angaben dazu lassen sich aus der Typenbezeichnung auf der Mehltüte ableiten: Die Zahl gibt an, welcher Anteil des Mehls beim Verbrennen als Asche zurückbleiben würde. Das Innere des Kornes, das aus reinem Mehl besteht, enthält fast keine Asche. Mineralstoffe, die große Bedeutung für unsere Ernährung haben, beim Verbrennen des Mehls aber als Asche zurückbleiben, sind vor allem in den äußeren Teilen der Körner enthalten. Mehl, aus dem die gröberen und mineralstoffreicheren äußeren Kornbestandteile ausgesiebt sind, weist einen sehr geringen Ascheanteil auf: Feines Weizenmehl enthält etwa 0,405 Prozent Asche, es hat die Typenbezeichnung 405. Gröberes Mehl, auch als Vollkornmehl bezeichnet, hat eine größere Zahl als Typenbezeichnung, denn es enthält einen größeren Mineralstoffanteil. Es gibt Weizenvollkornmehl Type 1050 (bei seiner Verbrennung bleiben 1,05 Prozent Asche zurück) und Roggenvollkornmehl mit der Typenbezeichnung 1370 (mit 1,37 Prozent Ascheanteil).
Bei Lebensmittelqualitätskontrollen wird regelmäßig überprüft, ob diese Zahlenwerte eingehalten sind, und Produzenten, die von den Normen abweichende Lebensmittel herstellen, liefern oder verkaufen, können dafür bestraft werden. Besonders schwierig sind Qualitätskontrollen bei einem Gewürz wie Safran, der aus dem Blütenstaub einer Krokusart besteht. Der Würz- und Farbstoff kann nur mit großer Mühe gewonnen werden; daher war in vergangenen Jahrhunderten die Versuchung groß, diese Ingredienz von Kuchen oder Brot zu «strecken» oder zu verfälschen. Das wurde und wird streng bestraft, lässt sich aber eventuell nur mit aufwendigen Methoden nachweisen: Mikroskopische und lebensmittelchemische Untersuchungen von speziell geschulten Lebensmittelkontrolleuren sind dazu notwendig.
Trotz aller Qualitätskontrollen muss aber davon ausgegangen werden, dass gewisse leichte Unterschiede der Waren bestehen bleiben. Denn sie stammen alle von Lebewesen ab, die Individuen sind. Doch auch das nehmen wir auf den ersten Blick oft nicht wahr. Auf dem Bauernhof werden Kühe häufig noch als Individuen erkannt; viele Bauern geben ihren Kühen Namen. Aber Schweine werden schon seltener als individuelle Lebewesen unterschieden, Hühner kaum einmal. Auch Pflanzen, deren Produkte wir als Lebensmittel verwenden, sind Individuen. Wer ein Weizenfeld sieht, hält zunächst alle dort wachsenden Pflanzen für identisch. Dass jede von ihnen einmalig ist, erfährt man, wenn man anfängt, die Pflanzen zu messen, etwa ihre Höhe oder die Länge der Ähren. Man kann die Blätter zählen, deren Längen und Breiten feststellen, die Körner in jeder Ähre zählen, man kann einzelne Körner mit einer Präzisionswaage wiegen, ihren Reifegrad feststellen, die Bestandteile der Körner untersuchen: Nun werden Unterschiede deutlich. Je intensiver die einzelnen Weizenpflanzen, ihre Körner oder das daraus gewonnene Mehl untersucht werden, desto besser treten ihre unterschiedlichen Eigenschaften zutage.
Der berechtigte Anspruch von Lebensmittelkäufern, stets die gleiche Ware im Einkaufskorb haben zu wollen, bleibt bestehen. Aber man sollte sich immer darüber bewusst sein, wie schwierig es ist, aus den Produkten individueller Lebewesen Lebensmittel mit stets der gleichen Qualität herzustellen. Denn alle Tiere und Pflanzen, die wir zu einer Art von Lebewesen zählen, unterscheiden sich, weil sie Individuen sind.
Ohne dieses Wissen kann man nicht verstehen, wie sich zunächst unter natürlichen Bedingungen, dann unter der immer stärker eingreifenden Hand von Menschen Kulturpflanzen und Haustiere herausbilden konnten. Genauso wie sich alle Individuen von Pflanzen und Tieren ihrem Äußeren oder ihrem Phänotyp nach unterscheiden, enthält jedes Lebewesen anderes genetisches Material; auch der Genotyp jedes Individuums ist daher stets einmalig. Zu jedem Lebewesen gibt es, wenn es nicht aus einer einfachen Zellteilung hervorgegangen ist, einen Mutterorganismus und einen Vaterorganismus, die beide unterschiedliche individuelle Eigenschaften besitzen. Das genetische Material beider Eltern wird im Organismus des Nachkommens auf neue Weise miteinander kombiniert. Die Jungpflanze oder das Jungtier ähnelt den Eltern, aber die neuartige Rekombination von genetischem Material lässt zudem neue Eigenschaften zum Vorschein kommen; der nachkommende Organismus besitzt also auch Eigenschaften, die die Eltern nicht hatten. Er kann sich also beispielsweise früher oder später entwickeln als die Eltern. Oder er kann an einem Ort wachsen und gedeihen, an dem dies den Eltern nicht möglich war. Alle Individuen der Nachkommen unterscheiden sich von denjenigen, die zuvor gelebt haben. Daher unterscheiden sich die Gruppen von Kühen, die ein Bauer im Lauf der Zeit im Stall stehen hat, und die Gesamtheit aller Weizenpflanzen auf einem Getreidefeld weist von Jahr zu Jahr andere Eigenschaften auf. Das ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber es offenbart sich bei genauen wissenschaftlichen Analysen.
Das macht die Herstellung von Lebensmitteln, die immer wieder die gleiche Qualität aufweisen sollen, vom Prinzip her noch komplizierter. Mehl kann eigentlich nicht immer die genau gleiche Qualität aufweisen. Es hat zum Beispiel unterschiedliche Eiweißgehalte, die sich beim Brot- oder Kuchenbacken auswirken können. Diese Unterschiede hängen aber nicht nur von abweichenden genetischen Konstitutionen ab, sondern auch von den Witterangsbedingungen während der Wachstumsphase und der Reifung der Körner sowie den Bedingungen der anschließenden Lagerung.
Die Vielfalt individueller Lebewesen wird dadurch noch stärker vergrößert, dass sich das genetische Material von Populationen im Lauf der Zeit verändert. Immer wieder kann es zu Mutationen kommen. Sie führen ebenfalls zur Herausbildung von Individuen mit Eigenschaften, die man zuvor noch nicht beobachtet hatte. Mutationen brauchen keinen erkennbaren Auslöser; sie können jederzeit auftreten. Durch bestimmte Chemikalien, radioaktive oder auch ultraviolette Strahlung wird ihre Häufigkeit erhöht. Jede einzelne Mutation führt mit der Zeit nicht nur zur Bildung eines einzelnen Individuums mit neuartigen Eigenschaften. Vielmehr entstehen im Verlauf zahlreicher nachfolgender Kreuzungen von Organismen viele Individuen mit weiteren Eigenschaften, die sich von denen anderer Individuen unterscheiden.
In einer Population von Pflanzen, beispielsweise auf dem Weizenfeld oder bei Buschwindröschen im Wald, gibt es Individuen, die unter feuchteren Bedingungen besser gedeihen, weil sie die mit dem Wasser herantransportierten Mineralstoffe gut nutzen und zugleich einen Sauerstoffmangel im dauernd nassen Boden ertragen...