Einleitung
«Frankreich ist unser Vaterland, Europa ist unsere Zukunft», pflegte François Mitterrand zu sagen. Er fasste so die Lehre zusammen, die für ihn aus dem 20. Jahrhundert zu ziehen war. Nach zwei Weltkriegen, die die Europäer an den Rand eines kollektiven Selbstmords gebracht hatten, nach dem Verlust der europäischen Hegemonie über die Welt bleibe den Bürgern des Kontinents keine andere Wahl, als sich ein neues, gemeinsames Vaterland aufzubauen. Das Thema dieser Buchreihe ist die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Gegenstand dieses Bandes ist Frankreich. Es stellt sich somit eingangs die Frage, welchen Platz Frankreich in der europäischen Zeitgeschichte einnimmt: Was ist charakteristisch an Frankreichs Entwicklung im letzten Jahrhundert? Worin unterscheidet sich das Land von den Staaten, die seine Partner in der Europäischen Union sind? Was ist besonders französisch an dieser Geschichte und was ist allgemein europäisch? Kurz: Was ist der Ort Frankreichs in der Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts?
Viele französische Autoren des letzten Jahrhunderts hätten auf diese Fragen geantwortet, dass ihr Land eine Ausnahme darstelle, dass es sich von dem Hauptstrom der europäischen Geschichte unterscheide. Die These von der französischen Ausnahme, der «exception française», bezog sich stets auf die Republik, die im europäischen Vergleich frühzeitig eingeführt und nicht nur als eine Staatsform, sondern auch als eine politische Idee, ein Modell gesellschaftlicher Integration und als ein Wertesystem verstanden wurde. Die Republik gab vielen Menschen den Impuls zum politischen und sozialen Engagement; sei es, um sie gegen innere und äußere Gegner zu verteidigen, sei es, um ihre Verheißungen zu verwirklichen. Das Bewusstsein von der eigenen Ausnahmestellung bezog sich aber auch auf die französische Zivilisation, Sprache und Lebensform, ihren weltweiten Ruhm und ihre Ausstrahlungskraft. Gleichzeitig aber entwickelte sich auch eine negative Version des Ausnahmeglaubens, die in Frankreich ein Land erblickte, das langsamer, ja schlechter als andere europäische Gesellschaften auf die Herausforderungen der Gegenwart reagiere. Immer wieder wurde die Auffassung vertreten, dass die französische Gesellschaft zu statisch und traditionsverhaftet sei, den Tendenzen der Moderne zu skeptisch gegenüberstehe und aus sich selbst heraus keinen Fortschritt bewirken könne. Diese unterschiedlichen Varianten des Exzeptionalismus weisen uns auf ein erstes Charakteristikum des französischen 20. Jahrhunderts hin: das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Europas politische Avantgarde zu bilden, und der Wahrnehmung einer unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft. Damit korrespondierten politisch-soziale Realitäten: Eine fortschrittliche politische Ordnung ging einher mit einer Gesellschaft, die teils verspätet, teils nie in der Industriemoderne ankam, beschränkte sich doch die Hochindustrialisierung Frankreichs auf einige wenige Regionen. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die Landwirtschaft den wichtigsten Beschäftigungssektor, während in Nachbarländern wie Großbritannien, Deutschland, Belgien und der Schweiz schon seit mehreren Jahrzehnten die meisten Menschen in der Industrie arbeiteten. Gleichzeitig lässt sich aus diesem Spannungsverhältnis die besondere Rolle erklären, die dem Staat in Frankreich zuerkannt wurde: Dieser galt nicht nur als der unverzichtbare Motor des Fortschritts, sondern auch als der rationale Erzieher einer zurückgebliebenen Gesellschaft.
In engem Zusammenhang damit stehen die besonderen Tendenzen des französischen Nationalbewusstseins. Die Vorkämpfer der 1870 gegründeten Dritten Republik erblickten in der französischen Nation eine Gemeinschaft von Bürgern, die die gleichen Rechte und Pflichten hatten, sich den gleichen Idealen verpflichtet fühlten und an einem gemeinsamen Projekt mitwirkten. Die Nation galt als «einheitlich und unteilbar», zusammengehalten nicht nur durch das immaterielle Band gemeinsamer Werte, sondern auch durch die Sprache als Fundament der französischen Zivilisation und durch den Staat als Garant einer einheitlichen Verwaltung. Dem Streben nach Einheit stand aber stets eine Realität der Vielfalt gegenüber, die sich auf lokale Identitäten, regionale Sprachen und Widerstand gegen den Zentralismus gründete. So sehr der Staat versuchte, diese Partikularismen einzuebnen, so sehr blieb die Diversität ein Kennzeichen der französischen Gesellschaft. Denn über das gesamte 20. Jahrhundert kamen Einwanderer unterschiedlichster Herkunft nach Frankreich und reicherten seine gesellschaftliche Vielfalt immer weiter an. Das Ziel einer einheitlichen Nation wirkte daher zunehmend unerreichbarer, bis hin zu der heute oft vernehmbaren Klage darüber, dass ein vereinendes Band zwischen Bürgern so unterschiedlicher Herkunft kaum noch existiere.
Die französische Republik verstand sich – ähnlich wie ihre 1776 gegründete amerikanische Schwester – als ein Projekt von universeller Reichweite. Denn ihre Prinzipien erhoben den Anspruch, nicht nur für Frankreich, sondern für die gesamte Menschheit Gültigkeit zu haben. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit galten als Werte, die allen Menschen zuteilwerden sollten, damit sie eine höhere Stufe der Humanität erreichen konnten. Aus dieser Perspektive kannte Frankreich keine festen Grenzen, sondern war beliebig ausdehnbar. So machte sich die Gründergeneration der Dritten Republik ans Werk, einen Kolonialbesitz zu erobern, dessen Reichweite nur vom britischen Empire übertroffen wurde. Typisch für das Universalitätsbewusstsein der Republik bezeichnete man die Kolonien als «la plus grande France», als hätten von Le Havre bis Hanoi, von der Seine bis zum Kongo die gleichen Gesetze und Werte gegolten.
Doch verwickelte der republikanische Imperialismus Frankreich in einen unauflösbaren Widerspruch: War schon die Inbesitznahme der Kolonien ein Gewaltakt der Unterwerfung, so wurde an keinem Ort der «plus grande France» ein Herrschaftssystem eingerichtet, das auch nur annähernd den Prinzipien der Republik entsprochen hätte. Somit erlebte die indigene Bevölkerung die Devise «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» als eine Verheißung, die ihr nur dann zuteilwerden konnte, wenn sie sich von Frankreich unabhängig erklärte. Demgegenüber waren die politisch Verantwortlichen in Paris lange Zeit unfähig, das Unabhängigkeitsstreben der Kolonien nachzuvollziehen, denn aus französischer Perspektive konnte der indigenen Bevölkerung kein besseres Schicksal widerfahren, als sich unter dem Schirm der Republik langsam emporzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich bei der Auflösung des französischen Kolonialreichs unvereinbare Positionen gegenüberstanden, warum dieser Prozess mit so viel Krieg und Gewalt verbunden war. Zugleich wird hier gewiss kein Sonderweg, so aber doch ein Charakteristikum Frankreichs innerhalb Europas sichtbar: Ein wichtiger Teil seiner Geschichte im 20. Jahrhundert spielte sich nämlich außerhalb Europas ab, und zentrale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, wie etwa der Regimewechsel von der Vierten zur Fünften Republik 1958, nahmen ihren Ausgangspunkt vom afrikanischen Kontinent.
Die von Ulrich Herbert formulierte und diese Buchreihe prägende Leitidee eines «langen 20. Jahrhunderts» erweist sich als besonders geeignet, um eine neue Sicht der französischen Geschichte zu präsentieren. Denn die wichtigsten Tendenzen des französischen 20. Jahrhunderts entstanden allesamt bereits in der Gründungsphase der Dritten Republik: die Verbreitung eines einheitlichen Nationalbewusstseins, die Konsolidierung der Republik oder die koloniale Expansion – für die großen Leitlinien bilden die 1880er Jahre den entscheidenden Einschnitt, nicht aber die Jahrhundertwende oder der Erste Weltkrieg.
Die Mitte des französischen 20. Jahrhunderts ist durch eine tiefe Zäsur gekennzeichnet: die katastrophale Niederlage des Sommers 1940. Das Land brach im Mai und Juni förmlich zusammen, als Millionen von Menschen vor dem deutschen Angriff flohen, das Militär sich auflöste und die zivile Führung die Besatzung eines Großteils des Landes akzeptierte. Der entehrende Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 markiert den absoluten Tiefpunkt der französischen Geschichte: Er löste die über Jahrhunderte hinweg errungene territoriale Einheit auf und bildete den Ausgangspunkt einer beispiellosen Verfeindung innerhalb der Bevölkerung, die in der Endphase der Besatzungszeit in einen regelrechten Bürgerkrieg mündete.
Mit dem Jahr 1940 endete der republikanische Sonderweg, den das Land in den 1930er Jahren noch hatte aufrechterhalten können, als die Demokratien in zahlreichen europäischen Ländern bereits durch autoritäre Führerstaaten ersetzt wurden....