2. Wik und Hammaburg
Die Landschaften Norddeutschlands sind zum großen Teil durch die Kräfte der Eiszeiten geprägt, deren letzte – die Weichsel-Eiszeit – vor etwa zehntausend Jahren zu Ende ging. Das Vorrücken und anschließende Abschmelzen der Gletscher, die große Geröllmengen aus dem skandinavischen Raum mit sich führten, brachte die charakteristischen Grund- und Endmoränen hervor; das Schmelzwasser grub die Tunnel- und Urstromtäler, während sich im Vorfeld der Gletscher der im Schmelzwasser mitgeschwemmte Sand ablagerte und die Sanderflächen schuf. Neben den eiszeitlichen Moränen und Sanderflächen bildete sich mit der ebenen Marsch aber auch noch lange nach dem Ende der letzten Eiszeit eine weitere Geländeformation heraus. Alle drei Geländetypen finden wir auf engstem Raum auch im Bereich des heutigen Hamburger Stadtgebietes; ja, es war gerade diese landschaftliche Vielfalt, die die Entwicklung der Stadt begünstigte.
Bei der Betrachtung der Frühgeschichte Hamburgs ergänzen sich wie anderenorts auch archäologische und schriftliche Quellen. Für Hamburg ergibt sich das besondere Problem, daß durch die jahrhundertelange Bautätigkeit sowie durch die verheerenden Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges nur wenige archäologische Baudenkmäler aus früheren Jahrhunderten existieren; zudem fiel auch ein Großteil der städtischen Archivbestände 1842 und noch einmal 1943 den Flammen zum Opfer. Dennoch läßt sich heute anhand jahrzehntelanger intensiver stadtgeschichtlicher Forschungen ein mehr oder weniger klares Bild von der Frühzeit und dem mittelalterlichen Hamburg entwerfen. Besonders ergiebig waren in diesem Zusammenhang die archäologischen Untersuchungen im Zuge des Wiederaufbaus der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Anfänge Hamburgs sind im Kontext der Herausbildung von Fernhandelsplätzen im niedersächsischen Raum zu sehen –den sogenannten Wiken. Diese sind für die Zeit seit etwa 800 n. Chr. sowohl im nordwestdeutschen Marschgebiet als auch im Binnenland archäologisch nachweisbar und unterschieden sich in ihrer Funktion als oft nur saisonal bewohnte Handelsniederlassungen deutlich von den umliegenden, landwirtschaftlich geprägten Siedlungen. Beispiele für frühe Wike mit kaufmännischer und handwerklicher Bevölkerung im nordwestdeutschen Raum sind unter anderem Emden, Groothusen und Grimersum in Krummhörn an der Emsmündung, Nesse bei Dornum, Langwarden in Butjadingen, Haithabu im dänisch-schleswigschen Raum und eben auch das frühe Hamburg. Ein besonderes Charakteristikum der meisten, in der Regel im 9. Jahrhundert noch unbefestigten Wike stellt ihre oft unmittelbare Nähe zu Burgen weltlicher oder geistlicher Herrscher dar. Diese boten mit ihren Befestigungsanlagen im Kriegsfall Schutz und lieferten gleichzeitig zahlungskräftige Konsumenten für die im Wik angebotenen Handelsprodukte – gute Voraussetzungen zur Herausbildung einer Markt- und Zentralfunktion des jeweiligen Ortes. Viele Wike waren wie auch Hamburg durch ihre Einstraßenlage gekennzeichnet; das heißt, die Kaufleute- und Handwerkerhäuser reihten sich wie an einer Schnur längs eines Fernhandelsweges auf und verfügten darüber hinaus oftmals über einen direkten Zugang zum Wasser – im alten Hamburg den 1877 zugeschütteten Reichenstraßenfleet.
Für die frühen Wike im nordwestdeutschen Raum, die als Umschlagplätze vom Land- zum Seehandel dienten, war der Zugang zu schiffbaren Gewässern von großer Bedeutung. Ebenso war trockener, fester Baugrund für die Errichtung der Siedlung erforderlich. Entsprechend entstanden jene meistens in Wassernähe auf Dünenzügen (Bremen) oder Geestvorsprüngen. Dabei ging es nicht allein darum, das Gewässer – meist den Fluß – als Handelsweg nutzbar zu machen, sondern diesen auch möglichst leicht in Querrichtung überschreiten zu können. Seit vor- und frühgeschichtlicher Zeit lag denn auch der geographische Mittelpunkt Hamburgs und seiner sächsischen Vorläufer an einem natürlich begünstigten Geländesporn am Zusammenfluß von Alster und Bille, der etwa 14 Meter über das umliegende Marschland aufragte und über jene Voraussetzungen verfügte. Hier bestand nicht nur eine Verbindung zum Wasser, sondern es existierte auch ein Landübergang über die Alster.
Die Bezeichnung Hamburg leitet sich von einer ersten Festungsanlage an dieser Stelle – der Hammaburg – ab. Der altsächsische Begriff ham bedeutet ungefähr «Ufergelände» oder «Marschland» und beschreibt genau die geographische Lage Hamburgs am Übergang der Geest zu den feuchten Niederungen von Elbe, Alster und Bille. Seit dem 13. Jahrhundert entwickelten sich aus dieser Bezeichnung die Namen Hammenburg und Hambueg als Vorläufer des heutigen Stadtnamens.
Neben der geographischen spielte auch die ethnische Situation mit den daraus resultierenden Kontakten und Konflikten eine herausragende Rolle bei der Entstehung der Wike. Das trifft in besonderem Maße auch auf das frühe Hamburg zu. So begegneten die im Frühen Mittelalter im norddeutschen Raum siedelnden Sachsen den seit dem 7. Jahrhundert von Osten her in Richtung Ostholstein einwandernden slawischen Stammesgruppen (Obotriten). Unruhen innerhalb der slawischen Bevölkerungsgruppen und deren Vorstöße in sächsisches Gebiet zogen auch immer wieder das junge Hamburg in Form von Überfällen und Plünderungen in Mitleidenschaft. Hinzu kamen seit dem 8. Jahrhundert die Expansion des Fränkischen Reiches in Richtung Elbe und die allmähliche Unterwerfung der Sachsen durch die Franken. Im Laufe des 9. Jahrhunderts erwuchs der Siedlung außerdem mit der Expansion der Dänen nach Süden sowie den Beutezügen der Wikinger ein weiterer Bedrohungsherd.
Bereits im 7. Jahrhundert n. Chr. hatte ein befestigtes sächsisches Dorf mit einer Doppelgrabenanlage in der Nähe des Alsterüberganges bestanden. Die slawischen Obotriten, die Karl den Großen bei seiner Expansion in Richtung Norden militärisch unterstützt hatten und denen er 804 Nordelbien als Siedlungsgebiet zur Grenzsicherung gegenüber den Dänen überließ, gründeten auf dem Gelände dieses Dorfes eine eigene Siedlung. Im Jahre 808 besiegten jedoch die Dänen die nordelbischen Obotriten und schalteten damit einen wichtigen Verbündeten Karls im Norden aus. Diese Entwicklung veranlaßte den Frankenherrscher, selbst die nördlich der Elbe gelegenen Gebiete zu besetzen und die Reichsgrenze von der Elbe an die Eider zu verlegen. So fiel auch die Gegend des heutigen Hamburg 811 unter die direkte Herrschaft der Karolinger.
Auf dem Gelände der zunächst sächsischen, dann obotritischen Siedlung oder in deren Nähe entstand vermutlich in den 820er Jahren eine in frühen päpstlichen Quellen als «Hammaburg» bezeichnete Festung zur Sicherung der karolingischen Herrschaft an der Elbe. Spätestens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts existierte auf dem späteren Domgelände eine befestigte Siedlung. Ob diese allerdings mit der anfänglichen «Hammaburg» identisch ist, konnte archäologisch bislang nicht belegt werden. Wie archäologische Untersuchungen des Museums für Hamburgische Geschichte zwischen 1947 und 1957 sowie erneut in den 1980er Jahren zeigten, besaß die Anlage eine Grundfläche von einem Hektar und war von einem im Norden durch eine Palisade verstärkten Wall sowie einem Graben umgeben. Über die Bebauung im Inneren lassen sich kaum Aussagen machen. Die Hammaburg stellte aber zweifellos keine Burg in der modernen, landläufigen Vorstellung von einer mittelalterlichen Adelsburg dar. Statt dessen dürfte sie als befestigter Zentralort mit spezifischer gesellschaftlicher Schichtung und Arbeitsteilung stadtähnliche Funktionen wie Rechtsprechung, Handel und Gewerbe im sonst weitgehend städtelosen nordwestdeutschen Gebiet wahrgenommen haben. Nach kanonischem Recht hatte auch ein Bischof in einer Stadt zu residieren – und so dürfte die Hammaburg allein aus kirchenrechtlichen Gründen bald schon nominell zur Stadt avanciert sein.
Südlich und westlich der Hammaburg entstand in dieser Frühzeit ein Wik aus Hütten, die mit Flechtwänden oder aus Holzbohlen gebaut und mit Strohdächern versehen waren. Zudem wurden bei Ausgrabungen an der heutigen Kleinen Bäckerstraße die Überreste von mit Pfählen und Bohlen errichteten Schiffsanlegestellen entdeckt. Hier wurden neben Getreideresten vor allem Importgüter aus dem Frankenreich – wie Waffen, Keramik oder Tuche –, slawische Keramik und norwegischer Speckstein gefunden, die auf einen lebhaften Handel deuten. Auch wenn ein Marktprivileg, welches dem Fernhandel Schutz und Rechtssicherheit gewährt hätte, aus dieser Frühzeit Hamburgs nicht überliefert ist, deuten jedoch indirekte Hinweise aus späterer Zeit darauf hin, daß bereits damals ein solches, vom fränkischen König ausgestelltes Privileg für einen Markt beim heutigen Alten Fischmarkt existierte.
Die aus Burg und Wik bestehende karolingische Siedlung am Alsterübergang wurde in der Folgezeit zu einem wichtigen...