I. Ursprünge
1. Vor- und frühgeschichtliche Zeugnisse
Steinzeit. Die Anfänge menschlicher Lebensregungen auf dem Gebiet des heutigen Landes Hessen bewegen sich im Dämmerlicht der Vorgeschichte. Erste archäologische Zeugnisse stammen aus der Altsteinzeit (ca. 500.000 v. Chr.). Fundplätze in der stets eisfrei gebliebenen Wetterau und im Schwalm-Eder-Gebiet belegen eine dort entwickelte Steinindustrie. Die Epoche der Mittelsteinzeit (ca. 8000–5000 v. Chr.) war auch in Hessen durch eine Jäger-, Fischer- und Sammlerexistenz der damals dort lebenden Bewohner charakterisiert und ist durch Bodenfunde um Arolsen und Hofgeismar, im Vogelsberggebiet und im Mündungsraum des Mains nachgewiesen. An ihrem Ende, im Übergang zur Jungsteinzeit (ca. 5000–1800 v. Chr.), wandelte sich die menschliche Lebensweise von unstetem Umherschweifen zur Seßhaftigkeit, verbunden mit der Aufnahme von Ackerbau und Viehhaltung und mit der Anlage dorfartiger Siedlungen, die bereits feste Häuser und Höfe besaßen. Frühe Bauernkulturen dieser Art gab es auf hessischem Boden im unteren Lahntal, im Rhein-Main-Gebiet, im Amöneburger Becken und in der Gegend um Fritzlar. Das dort ergrabene Fundgut gehört zur Gruppe der Bandkeramik, die ihren Namen den bandförmigen Ornamenten der Tonkeramik verdankt. Alle steinzeitlichen Entwicklungsetappen weisen die Region als einen Durchgangsraum im Schnittpunkt geographischer Linien aus, deren spezifische Beschaffenheit den Austausch von Personen, Gütern und Gebräuchen außerordentlich begünstigte. Hessen hat diesen Charakter eines Transitlandes über die Jahrtausende hinweg behalten. Man kann in ihm geradezu eine Grundbedingung der hessischen Geschichte erblicken.
Bronze- und Eisenzeit. Die Bronzezeit (ca. 1800–750 v. Chr.) zeichnete sich in Süd- und Mittelhessen durch die Vorherrschaft der zwischen 1200 und 800 v. Chr. zu datierenden «Urnenfeldkultur» aus. Ihre Bezeichnung folgt dem damals vorherrschenden Bestattungsritus des Leichenbrands. Aufwendig angelegte und ausgestattete Fürstengräber enthielten zudem Waffen, Geschirr und Geräte aus Bronze, was Rückschlüsse auf eine bereits deutlicher ausgeprägte Differenzierung im sozialen Bereich zuläßt. Doch finden sich auch für das letzte vorchristliche Jahrtausend noch unbezweifelbare Zeugnisse, die auf die Praxis des Kannibalismus und des Menschenopfers verweisen. In der Eisenzeit (ca. 750–50 v. Chr.), der letzten Etappe hessischer Frühgeschichte, in der Bodenfunde das Nichtvorhandensein schriftlicher Quellen ersetzen müssen, dominierten erneut Körpergräber mit oftmals reichem Ringschmuck. Auch läßt sich nun die Bevorzugung befestigter Höhensiedlungen feststellen. Das verweist bereits auf den Anbruch einer neuen Epoche, deren Eigenart sich mit dem Namen der Kelten verbindet.
2. Kelten und Chatten
Keltische Frühzeit. Die Kelten etablierten im südwestlichen Hessen, im Rhein-Main-Gebiet, in der Wetterau und auf dem Glauberg während des 4. Jahrhunderts v. Chr. Elemente einer Hochkultur, die maßgebliche Neuerungen in der Region nach sich zog, besonders auf dem Feld der Goldschmiedekunst. Charakteristisch für die soziale Gliederung der keltischen Stämme war die herausgehobene Position ihres Fürstenstandes, wovon reichhaltig ausgestattete Wagen- und Reitergräber mit Goldschmuck, Waffen, Gerätschaften und Keramik zeugen. Belegt ist darüber hinaus die von den Kelten erstmals betriebene Nutzung warmer Quellen des Landes in Wiesbaden und Alzey. Wie weit die keltische Herrschaft in Hessen tatsächlich gereicht hat, ist indes umstritten. Denn während die Kelten den mittleren und südlichen Teil des Landes kontrollierten, traten ihnen von Norden her germanische Stämme entgegen, von denen die Chatten die bedeutendsten gewesen sind. Das zweite vorchristliche Jahrhundert war ausgefüllt von chattisch-keltischen Auseinandersetzungen, in deren Gefolge die Kelten schließlich unterlagen. Weder ihre fortgeschrittene Kultur noch ihr eindringliches Bemühen um den Ausbau eines soliden Befestigungssystems mit zahlreichen Wällen und Burganlagen konnte diesen Untergang aufhalten.
Die Chatten. Man hat die Kelten gelegentlich als ein «fliehendes Volk» bezeichnet, das überall nichts weiter zurückließ, als die Spuren seiner Flucht. Nach ihrer Verdrängung während der letzten vorchristlichen Jahrzehnte setzten sich die Chatten in der niederhessischen Berg- und Hügellandschaft fest. Ihre Mittelpunkte lagen im Gebiet um Fulda, Eder und Lahn, aber auch im Raum von Kassel und Fritzlar sowie am Mittelrhein. Anfangs noch mit den stammesverwandten Cheruskern und Mattiakern verbündet, gelang es ihnen bald, beide auszuschalten, was wohl nicht zuletzt ihrem ausgesprochen kriegerischen Habitus zu verdanken sein mochte, den der römische Historiker Tacitus in seinen beiden Geschichtswerken, der «Germania» und den «Annales», als weithin dominierenden Charakterzug der Chatten herausgestellt hat. Dort werden sie als kampferprobter Menschenschlag geschildert, tatkräftig und abgehärtet, mit gedrungenem Gliederbau und unbeirrbarem Wagemut. «Auch im Frieden», so berichtete Tacitus (Germania 31,4–5), «mildert sich ihr Blick nicht zu freundlicherem Aussehen. Keiner hat Haus oder Acker noch sonst ein Geschäft; wo sie hinkommen, werden sie verköstigt, verschwenderisch mit fremdem Gut, Verächter eigenen Besitzes; bis endlich das marklose Alter sie so rauher Tapferkeit unfähig macht.» Die Hauptorte der Chatten, zugleich religiöse Zentren und Begräbnisplätze, waren Geismar, Metze und Gudensberg. Jedenfalls durften sie am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. als das germanische Kernvolk der Region schlechthin gelten. Und in dieser Funktion waren sie auch die Hauptträger jener Abwehr- bzw. Angriffsfront, die sich seitens der Germanen gegen die wenige Jahrzehnte zuvor auf rechtsrheinischem Gebiet installierte römische Herrschaft herauszubilden begann.
3. Römische Herrschaft
Eroberung und Herrschaftssicherung. Römische Legionen hatten im Jahr 10 v. Chr., ausgehend von ihrer befestigten Militärbasis Mogantiacum (Mainz), den Rhein überschritten und damit erstmals den Boden des heutigen Landes Hessen betreten. Ihr Ziel war der Ausbau einer «Provinz Germania», deren Ostgrenze bis zur Elbe reichen sollte. Die Chatten waren die ersten Gegner auf germanischer Seite, mit denen sich die Römer auseinanderzusetzen hatten. Vielleicht war auch dies ein Grund für deren vergleichsweise häufige Erwähnung in der römischen Historiographie – bei Tacitus erschienen die Chatten ebenso wie bei Florus, Plinius und Strabo. Die römisch-chattischen Kämpfe zogen sich durch die gesamte Kaiserzeit. Dabei gelang den Eroberern aus dem Süden in den folgenden Jahrzehnten die Ausweitung ihres rechtsrheinischen Macht- und Einflußgebiets und dessen Absicherung durch den Bau von Kastellen in Wiesbaden, Hofheim und Friedberg, dem nördlichsten Vorposten Roms in Hessen. Als bekanntestes römisches Kastell gilt die Saalburg, unweit von Bad Homburg gelegen, die ihre Rekonstruktion im Säkularjahr 1900 dem imperialen Selbstverständnis Kaiser Wilhelms II. verdankte. Angesichts ständiger Zusammenstöße mit den Chatten begannen die Römer im Jahr 83 n. Chr. mit der Errichtung einer befestigten und überwachten Schutzanlage, dem obergermanischen Limes. Zunächst nur ein gerodeter Grenzweg, vorzugsweise auf den Kämmen der Berge, mit weiter Aussicht auf das unruhige und unbefriedete chattische Hinterland, entwickelte sich der Limes zu einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Kulturgrenzen in der europäischen Geschichte.
Römische Zivilisationsleistungen. Hessen wurde durch den Limes zweigeteilt, Südhessen war nun römisches Reichsgebiet. Im Schutz des Limes vollzog sich eine Romanisierung des eroberten Landes, der Provinz «Germania superior», Ober-Germanien, mit der Provinzhauptstadt Mainz (Mogantiacum). Zahlreich waren die von den Römern getroffenen verwaltungsmäßigen, städtebaulichen und infrastrukturellen Maßnahmen. Das Territorium der Provinz wurde in civitates eingeteilt, das waren Stammesgemeinden bzw. Gebietskörperschaften mit eigenständiger Zivilverwaltung. Auf hessischem Boden gab es davon drei: «civitas Taunensium» (Hauptort: Nida, heute: Frankfurt-Heddernheim), «civitas Mattiacorum» (Hauptort: Wiesbaden), «civitas Audeniensium» (Hauptort: Dieburg). Alle Bewohner der Provinz Ober-Germanien waren steuerpflichtig, doch profitierten sie zugleich von den landespflegerischen Aktivitäten der römischen Verwaltung, die überall das Lateinische als Umgangssprache einführte. Feste Straßen wurden ebenso angelegt wie steinerne Brücken, beides diente der Förderung des Handelsverkehrs und der Aktivierung wirtschaftlicher Mobilität. In Waldgirmes bei Lahnau entstand ein befestigtes Handels- und Marktzentrum (Römisches Forum), dessen Errichtung ab dem Jahr 4 v. Chr. als frühester greifbarer Beleg für die Verwendung von Steinmauern in der von den Römern besetzten Germania rechts des Rheines (Germania magna) gilt. Es entstanden zahlreiche Gutshöfe (villae...