Einleitung:
Von Helden und Antihelden
Mit der Geschichte Siziliens haben sich in den vergangenen zweihundert Jahren nicht nur Historiker beschäftigt. Vielmehr waren es Puppenspieler und fahrende Sänger, die Cantastorie, die Geschichten aus der Geschichte dieses uralten Kulturlandes in Episoden kleideten und immer wieder erzählten. Das Marionettentheater besitzt auf Sizilien eine Tradition, die bis ins 17. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist. Es war das Theater der Analphabeten, was noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichbedeutend war mit dem größten Teil der Bevölkerung Siziliens. Als Gegenentwurf zu den großen Opernhäusern in Palermo und Catania entstand die Opera dei Pupi. Auf Bühnen aus Sperrholz und Pappmaché wurden vor gemalten Kulissen die Geschichten von Odysseus, Karl dem Großen, dem rasenden Roland und berühmten Banditen in Episoden nacherzählt. Der fahrende Cantastorie benutzte die Plätze der alten Barockstädte als Bühne, die historischen Fassaden als Kulisse. Er brauchte nur einen Stock, mit dem er seine Sätze skandierte und den er blitzschnell in das Schwert eines seiner Helden verwandeln konnte. In dieser Form wurde Geschichte anschaulich und begreifbar. Der Puppenspieler übernahm bei wechselnder Stimmlage alle Rollen: In einem Moment konnten aus Eroberern Eroberte werden. Im Handstreich wurden aus Feinden alles Fremden eifernde Verteidiger einer Kultur, die in Sizilien seit dem Mittelalter als eine dreisprachige Kultur gerühmt wurde. Sizilien ist die mehr als 3000 Jahre alte Bühne, auf der die Sizilianer die Haupt- und Nebenrollen übernahmen und die Rolle des Publikums dazu. Keine Episode dieser Geschichte endete ohne einen Königs- oder Tyrannenmord, was in Sizilien keinen Unterschied machte, weil beide Rollen immer von demselben Protagonisten gespielt wurden, nur in unterschiedlichen Kostümen. Doch der Vorhang auf der Bühne Siziliens fällt nie. Die abschließenden Verbeugungen vor dem Publikum leiteten immer schon die nächste Episode ein. So ist es bis heute geblieben.
Die Episoden von Rache, vendetta, und Edelmut wiederholten sich auf den Dorfplätzen Siziliens ebenso wie im Teatro Massimo in Palermo oder im Teatro Bellini in Catania. Was bei Pietro Mascagni um 1890 in seiner Oper Cavalleria Rusticana – die literarische Vorlage Giovanni Vergas lokalisiert dieses Eifersuchtsdrama in das ostsizilische Bergdorf Vizzini – als Verismus gepriesen wurde, erfuhr in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine Wiedergeburt in den neorealistischen Filmen Luchino Viscontis (Die Erde bebt) und Roberto Rossellinis (Stromboli). Spätestens seit dem 5. Jahrhundert vor Christus wurden Geschichtsschreiber bemüht, den Stoff dieser Heldendramen akribisch festzuhalten. Was für das antike Sizilien Thukydides war, das sind heute die Medien mit drei von dem Wirtschaftsmagnaten Berlusconi kontrollierten Fernsehsendern. Erzählstoff gibt es genug. Die höchsten Einschaltquoten der letzten Jahre hatten die von den staatlichen Rundfunkanstalten produzierten Verfilmungen der populären Kriminalromane Andrea Camilleris (Commissario Montalbano). Sein Welterfolg liegt auch darin begründet, dass er seine Mafiageschichten in sizilianischer Volkssprache schreibt. Sizilianisch ist nämlich kein italienischer Dialekt, sondern eine seit Jahrtausenden gewachsene, man ist fast geneigt zu sagen: adamitische Ursprache. Camilleri setzt diese Sprache keineswegs als exotischen Unterhaltungsfaktor ein, sondern vielmehr als Mittel gesellschaftlicher Kritik, ja als ein Instrument außerparlamentarischer Opposition. Denn eine offizielle politische Opposition hat in Sizilien traditionellerweise nur eine kurze Lebenserwartung. Mag das für mitteleuropäische Ohren zynisch klingen, so ist es doch bittere Realität. Es scheint so, als ob sich die autonome Region Sizilien keine handlungsfähige politische Opposition leistet (wie nach der Wahl 2008), weil die Sizilianer, das heißt ihre von Urmüttern und Paten beherrschten Familienclans ebenso wie ihre von unzähligen Naturkatastrophen heimgesuchte terra, selbst das Korrektiv ihres Handelns sind. Das Vermächtnis der Alten war ein fest geschnürtes Paket althergebrachten Regelwerks, dem immer dann besondere Autorität beigemessen wurde, wenn es in Gefahr war, nicht eingehalten zu werden. Gleichzeitig empfahlen sich die Alten der nächsten Generation, indem sie dieses Regelwerk besonders «flexibel» handhabten. Nicht selten wurde auch alles Bestehende über Bord geworfen, wohl wissend, dass sich nichts verändern würde. Es war ein Sizilianer, der Schriftsteller Tomasi di Lampedusa, der dieses Charakteristikum Siziliens in einem Satz festhielt: «Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.»
In Sizilien gehörten seit alters das gesellschaftliche Rollenspiel, das Klientelwesen und ein Fatalismus dem eigenen und fremden Leben gegenüber zum Alltag. Was bleibt da von der sagenhaften Kultur Siziliens? Ist sie nur ein von Cicero bis Camilleri gut gehüteter Mythos? Oder greift unser akademisch aufpolierter Kulturbegriff nicht? Die Kultur Siziliens greif- und begreifbar zu machen, kommt einer archäologischen Arbeit gleich. Denn sie besteht nicht aus einem oberflächlich abgesteckten Terrain, sondern aus vielfältigen übereinanderliegenden und untrennbar zusammenhängenden Kulturschichten. Die Kultur der Sizilianer, das heißt ihre Sprache, die Uneigentlichkeit ihrer Gestik und ihre indirekte, allusive Ausdrucksweise, ihre nobelpreisgekrönte Literatur und stilbildende Kunst, Musik und Architektur sind keine voneinander getrennten Phänomene. Vielmehr sind sie wie übereinanderliegende transparente Folien lesbar. Die enge Überlagerung von – oft widersprüchlichen – Verhaltensweisen und Ausdrucksformen stellt in ihrer Summe die eigentliche sizilianische Kultur dar. Nur so werden die Anachronismen und Archaismen, die das Leben in Sizilien heute noch bestimmen, überhaupt beschreibbar und manchmal auch fassbar
Wer Geschichte und Kultur Siziliens annähernd verstehen will, muss sie gegen den Strich lesen. Er muss versuchen, sie nicht nur aus dem Blickwinkel des Helden, sondern wechselweise auch aus der Position des Gegenparts, des Antihelden, zu lesen.
Während im übrigen Europa die Geschichte von Herrscherdynastien, Ordensgemeinschaften, Logen und Parteien geschrieben wurde, verhielt es sich in Sizilien anders. Es waren immer Einzelne, die das Schicksal der Insel bestimmten: Prokonsuln, Könige, Richter und Regionalpräsidenten. Einzelne wurden zu Helden und Antihelden zugleich, zu Haupt- und Nebendarstellern wie im Fall Giuseppe Garibaldis, dessen nationalgeschichtlich bedeutsame Geste des Handschlags mit dem Savoyerkönig Vittorio Emanuele 1860 nur der kurze Moment des Triumphs vor dem Verlust seiner Hauptrolle war. Garibaldi war nach seiner spektakulären Landung in Marsala der populärste Politiker Siziliens –, zu dem er sich selbst erklärte. Ein berühmtes Gemälde des in Bagheria bei Palermo geborenen Renato Guttuso hob diesen Mythos erst 1952 aus den Angeln. Die Episode des Handschlags zwischen dem Revolutionär und dem König fand nicht in Sizilien, sondern auf dem italienischen Festland statt. Doch sie wäre ohne die Begeisterung und die politischen Visionen der sizilianischen Jugend nicht denkbar gewesen. Deshalb wurzelt der Heldenmythos Garibaldi noch heute tief im Selbstverständnis der Sizilianer. Immer aber brauchten diese Helden einen ebenbürtigen Gegenpart, um ein Profil zu gewinnen oder um überhaupt zu existieren, zu agieren und zu verführen.
König Roger II. von Sizilien, der Normanne, baute sein junges Königtum auf einem wackeligen feudalistischen Fundament, das aus einem Treueschwur bestand. 1053 wurde dieser Schwur dem gefangen genommenen Papst Leo IX. abgerungen, ein Belehnungseid, der den normannischen Söldnerführern Sizilien als Lehen garantierte. Allerdings war die Insel schon seit 200 Jahren vergeben und von muslimischen Machthabern beherrscht. Statt sich an dem islamischen Halbmond aufzureiben, bedienten sich die Normannen des Papsttums als zutiefst gespaltener politischer Institution. Als sich Roger II. im Jahre 1130 als erster König der Normannen von dem Gegenpapst Anaklet II. krönen ließ, untermauerte er seinen absoluten Machtanspruch dadurch, dass er aus dem Lateranspalast in Rom zwei antike Porphyrsessel zu rauben versuchte. Es handelte sich dabei um zwei symbolträchtige Throne, auf denen die Päpste die Insignien ihrer weltlichen Macht erhielten. Der damalige Kontrahent Rogers war der vom deutschen König legitimierte Papst Innozenz II., der trotz seiner Kritik an Rogers Machtpolitik zeitlebens selbst damit beschäftigt war, königlichem Purpur und antikem Porphyr nachzujagen.
Anna Magnani, die schwarzhaarige Hauptdarstellerin in Dieterles Melodram Vulcano, stand 1949 als Anti-Diva zu Ingrid Bergmann auf der gleichnamigen Insel vor der Kamera. Noch heute bezeugt eine Marmortafel den Ort, an dem die blonde Diva während der Dreharbeiten zu Rossellinis Stromboli wohnte. Auf einer der archaischsten Inseln vor Sizilien wurde ein unscheinbares Haus zum Monument und Pilgerziel tausender Reisender. Wer das Publikum in Sizilien auf seiner Seite hat, braucht auch Einbußen an Popularität und...