Einleitung und persönliche Stellungnahme:
Ich interessiere mich schon seit meiner Kindheit für die unzähligen Ereignisse, welche die Welt des Menschen in unserer Vergangenheit geformt haben. Die Geschichtsschreibung beschäftigt sich mit Detailfragen aller Art. Jeder Mensch bringt seine persönliche Betrachtungsweise in die Darstellung der Vergangenheit ein, jedem kommt etwas anderes besonders wichtig vor, kaum jemand ist vollkommen frei von ideologischen Vorannahmen.
Die Weltgeschichte ist aber nicht nur eine Aneinanderreihung von ästhetisch glänzenden Schöngeistern, die dem materiellen Universum eine neue Dimension hinzufügen, sondern auch ein Panoptikum der perversesten Schwerverbrecher, deren Schandtaten jeden vernunftbegabten Menschen erschaudern lassen. (1)
Die Geschichtsphilosophie, wie die Philosophie überhaupt, zählt zu den Dingen, die das Leben erst lebenswert machen. Es scheint eine anthropologische Grundtatsache zu sein, dass der Mensch sich mit der Kontingenz und Sinnlosigkeit seiner Umwelt nicht abfinden kann. (2) Es ist eine Lebensaufgabe, sich einen Platz und eine sinnvolle Beschäftigung in dieser Welt zu suchen und damit die Wirklichkeit zu bewältigen. (3) Der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers behandelte in mehreren Aufsätzen die Frage, was uns zum Philosophieren bewegt. (4) Er geht von drei Hauptmotiven aus, die er als Staunen, Zweifel und Erschütterung des Menschen bezeichnet. Wenn wir beginnen, uns tiefere Gedanken über die Vergangenheit zu machen, haben wir genau dieselben Beweggründe. Die Neugier ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft: Wir begeistern uns grundlos und ohne Berechnung für etwas, das wir wahrnehmen oder wahrzunehmen glauben; Wir interessieren uns für die nützlichsten und nutzlosesten Gegenstandsbereiche. Die Vergangenheit lässt uns nicht kalt, ja wir empfinden das Bedürfnis, sie aufzuarbeiten. Wir nutzen unsere Mußestunden, um unsere Neugier zu befriedigen. Der Zweifel befreit das menschliche Denken von den Ketten der Tradition. Wenn sich der gärende Zweifel zu einem radikal skeptischen Ansatz weiterentwickelt, bleiben auch unsere Hypothesen über die Vergangenheit nicht verschont. Wir zweifeln an der Richtigkeit der Überlieferung, wir zweifeln an der Angebrachtheit gewisser Interpretationen, wir erkennen, wie schwer es ist, den anderen zu verstehen. Kurzum unsere Schemata und Systeme der Vergangenheitsbetrachtung sind auf Sand gebaut, unsere Erklärungen scheitern an den Phänomenen. Die Skepsis ist zugleich Befreiung und Enttäuschung. Auch die persönliche Betroffenheit, das jaspersche Erschüttertsein, ist ein wichtiges Motiv des Geschichtsdenkens: Denn einerseits machen wir die Geschichte, andererseits ruft sie elementare Angst- und Schuldgefühle hervor. Die eigene Schwäche und Ohnmacht ist eine Grenzsituation, die den Geist stärken kann. Die eigene Macht führt uns leicht in Situationen, in welchen Machtmissbrauch eine verführerische Alternative zu verantwortungsbewusstem Handeln ist.
Wer historisch denkt, kann den Augenblick nicht so genießen, als ob er nie sterben würde. Wer historisch denkt, wird auf Schritt und Tritt an die Vergänglichkeit und an das radikal Böse im Menschen erinnert. Wie schon bemerkt, sind Schuld und Sinnlosigkeit ein Ansporn für unsere Deutungsversuche. Jedes Kind denkt historisch, sobald es das Heute vom Gestern unterscheiden kann. Gerade die Kinder werden jeden Tag mit den geschriebenen und ungeschriebenen Traditionen ihrer Kultur berieselt. Gerade die Kinder bemerken ja die Spannungen und Veränderungen, die sich in der Welt ihrer Eltern abspielen. Gerade die Kinder werden von Neugier und Zweifel angeregt, wenn sie beginnen, sich spielerisch die Welt anzueignen. (5)
Eine Voraussetzung des historischen Denkens ist die Fähigkeit, die Gegenstände als Mitwirkende von raum-zeitlichen Prozessen aufzufassen, eine zweite ist das Verstehen des Fremden als verschieden und doch verwandt. Die Wandelbarkeit der Welt, ein nicht statisches Universum, ist für den „ Hausverstand“ eine Erfahrungstatsache, die man nicht hinterfragen soll. (6) Dennoch täuschen wir uns oft in der Annahme, dass Dinge notwendigerweise so sein müssten, wie sie sind. Man kann also sagen, dass wir sowohl zu historisch als auch zu unhistorisch denken. Der Kulturrelativismus und der Eurozentrismus, welche gleichermaßen eine Schande für die Idee der universellen Werte sind, sind ein Beweis für die Bedeutung unserer Fragestellung. Ein weiterer Beweis für die Implikationen des geschichtsphilosophischen Denkens ist die Frage nach der Möglichkeit, die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zukunft mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu prognostizieren. (7)
Die Geschichtsphilosophie im weitesten Sinne des Wortes ist also keine rein akademische Frage, sondern ein Problem, das uns verfolgt, wenn wir gesellschaftlich handeln. Die Ethik muss sich auch mit historischen Fragen beschäftigen, da die Forderungen, die sie an das Individuum stellt, unbrauchbar wären, wenn sie nicht zumindest prinzipiell realisiert werden könnten. Die politische Philosophie und die Sozialphilosophie setzen die Veränderlichkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen voraus, also sind sie, obwohl sie sich bemühen über systematische Erkenntnisse zu reflektieren, auch besondere Formen des historischen Denkens. Wenn man sich über Fragen wie die beste Staatsform oder die Höherwertigkeit einer Kultur beziehungsweise eines Kunststils den Kopf zerbricht, hat man meistens bereits implizite geschichtsphilosophische Annahmen. Die praktische Philosophie ist also ohne historisches Denken nahezu unvorstellbar. Dem Laien bleibt es meistens verborgen, wie viel dem historischen Wandel unterliegt, denn er tendiert dazu, Geschichte auf die Fakten zu reduzieren, die ihm durch eine tendenziöse und wissenschaftlich wertlose, aber sehr einflussreiche Sekundärliteratur übermittelt worden sind. Die Geschichtsphilosophie im engeren Sinne ist meiner Ansicht nach ein Versuch, über die unbewussten Voraussetzungen der praktischen Philosophie zu reflektieren.
Ich werde deshalb eine Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter Geschichtsphilosophie einführen, da fast alle Denker, die sich der Geschichtsschreibung oder der politischen Theorie gewidmet haben, gelegentlich eine philosophische Inspiration verspürten. Implizite Geschichtsphilosophie ist also auch in Werken enthalten, die niemand als philosophisch, geschweige denn als geschichtsphilosophisch bezeichnen würde. Wir werden in Disziplinen der praktischen Philosophie sowie in literarischen, historischen, theologischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Hervorbringnissen auf sie stoßen. Erst wenn das gesellschaftliche Reflexionsniveau sehr weit fortgeschritten ist und die Kultur einer Beschäftigung mit der Vergangenheit positiv gegenübersteht, kann eine explizite Geschichtsphilosophie entstehen, die diesen Namen führt und den Anspruch erhebt, ein wichtiger Beitrag zur Erkenntnis der Welt des Menschen zu sein.
Die Geschichtsphilosophie muss auch von der Methodologie der Geschichtswissenschaften unterschieden werden, da die meisten Autoren, die sich mit dieser Thematik befasst haben, die deskriptive Betrachtung der Vergangenheit mit dem Ziel der Wahrheitsfindung transzendieren wollten. So wissenschaftlich sie sich auch gebärdet haben, war ihr Denken doch von Metaphysik durchsetzt. Andererseits ist aber auch die Methodologie nicht theoriefrei, da sie mit normativen Forderungen an den Wissenschaftler herangeht. Ideale wie Objektivität und eine Einschränkung der eigenen Parteilichkeit auf eine distanzierte Stellungnahme machen einen Diskurs über den Forschungsgegenstand überhaupt erst möglich. Es ist eine umstrittene Frage, ob die Methodologie wirklich allgemein verbindliche Methoden vorschreiben kann. Ich vermute, dass man zwar gewisse Methoden als unwissenschaftlich verwerfen, aber nicht die akzeptierten Methoden als für alle Problemstellungen geeignet empfehlen kann. (8) Die Wahl zwischen verschiedenen zulässigen Methoden kann ihrerseits metaphysisch oder ideologisch motiviert sein. Beispielsweise kann man Geschichte von einem individualistischen oder von einem kollektivistischen Standpunkt aus schreiben, wobei sich der Autor für eine anthropologische Grundannahme entschieden hat. (9) Die Darstellung der Entwicklung eines Forschungsgegenstandes, die ohne philosophische Inspiration auskommt, würde steril und langweilig wirken und die Frage nach dem Warum des Geschehenen nicht beantworten können. Deshalb ist eine Ansammlung von uninterpretierten Fakten nicht das, was wir von einem Sachbuchautor erwarten. Jeder Mensch hat philosophische Probleme. Hätte er keine, würde er sich auch für die Vergangenheit nicht interessieren. Die Wahl der Methode ist häufig genug von den unsystematischen philosophischen Ansichten des einzelnen Forschers bestimmt. Wenn sich dieser mit den unterdrückten Massen identifiziert, wird er sich für andere Themen und andere Methoden entscheiden als ein Historiker, der den Machtapparat verflossener Epochen glorifiziert. Darum ist das Auftauchen der expliziten Geschichtsphilosophie rational erklärbar. Denn die philosophischen Probleme lassen den Menschen, der das Verhalten seiner Artgenossen im Wandel der Zeit studiert, nicht los.
Ein Sonderfall der Geschichtsphilosophie ist die Geschichtstheologie, der Versuch das Wirken eines höchsten Wesens im Jammertal der irdischen Wandelbarkeit aufzuspüren. Wenn ein Denker Theist ist, muss er...