Einführung
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum gesalzene Erdnüsse und Bier so gut zusammenpassen? Wissenschaftler kennen die Antwort: Die Wahrnehmung von Bitterem wird durch eine salzige Note gedämpft. Die Nüsse schwächen das Herbe des Biers ab und verhelfen anderen Aromen in den Vordergrund. Wenn man das einmal weiß, kann man das Prinzip auf vielfältige Weise anwenden. Reichen Sie etwa Nüsse (oder Brezeln) zu Gin Tonic. Oder geben Sie eine Extraprise Salz zum Brokkoli, wenn der einmal besonders bitter schmeckt. Auch Ihre Frühstücks-Grapefruit wird mit ein klein wenig Salz süßer schmecken.
Die Beschäftigung mit unserem Geschmackssinn bringt viele nützliche Erkenntnisse, von denen aber kaum jemand weiß. Denn es kommt in unserem Alltag kaum vor, dass wir uns eingehender mit dem Geschmack von Dingen beschäftigen. Wir analysieren unsere Geschmackserfahrungen nicht, und so kommt es, dass wir auch nicht darüber reden oder nachdenken. Ich möchte dies mit einem Gedankenexperiment beweisen: Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und rufen Sie sich Ihr Lieblingsmusikstück ins Gedächtnis. Wie ist es zusammengesetzt? Was macht es für Sie besonders? Der Saxofonpart in der Überleitung? Die Bearbeitung des Themas durch Geige und Cello? Die atemlose Spannung, bevor der Gesang einsetzt? Sicher können Sie mehrere Merkmale benennen, derentwegen Ihnen diese besondere Musik nahegeht. Sie können die Instrumente aufzählen, Sie kennen Melodie, Begleitung und Rhythmus und bei Vokalstücken auch den Text.
Versuchen Sie nun einmal, Ihre bevorzugte Apfelsorte ähnlich detailliert zu beschreiben. Warum mögen Sie, sagen wir, den Braeburn lieber als den Red Delicious? Meist wird dann Knackigkeit, Süße oder eben »guter Geschmack« angeführt. Aber wenn Sie nicht gerade ein ausgebildeter Apfeltester sind (diese Menschen gibt es!), werden Sie wahrscheinlich nichts weiter dazu sagen können. Nicht die Geschmackselemente so aufzählen wie die Instrumente Ihrer Lieblingsmusik, und genauso wenig das Geschmacksprofil nachzeichnen, das sich mit jedem Bissen aufbaut und dann verebbt.
Und diese Ungenauigkeit betrifft nicht nur Äpfel. Oder können Sie beschreiben, worin sich der Geschmack von Heilbutt und Rotbarsch unterscheidet? Oder der von Brie und Camembert? Für die meisten von uns bleibt der Geschmack von etwas ein unbestimmtes, wenig durchdrungenes Konzept. Wir sagen »dieses Gericht war wirklich lecker« oder »diese Weintrauben sind köstlich«, aber tiefer als diese gängigen Antworten schürfen wir nicht. Dabei nehmen wir den Geschmack von Lebensmitteln differenziert wahr, und jeder kann feststellen, dass die eine Apfel- oder Käsesorte anders schmeckt als die andere. Wir besitzen also sehr wohl den Wahrnehmungsapparat, um die Welt des Geschmacks tiefer zu erforschen. Allerdings wirkt es sich einschränkend aus, dass wir nicht viel über Geschmack wissen, obwohl wir ihn doch täglich wahrnehmen. Wir schlürfen morgens unseren Kaffee und essen mittags in der Kantine, ohne das komplexe Zusammenspiel von Aroma, Geruch, Anblick und auch Erwartung zu beachten, das den Geschmack ausmacht. So fehlen uns die Kategorien, mit denen wir unsere Geschmackserlebnisse beschreiben könnten, und wir nehmen deshalb oft die Feinheiten dessen, was wir essen und trinken, nicht im Einzelnen wahr. Als wäre die unglaublich vielfältige Welt des Geschmacks auf eine gängige Gaumennorm zurückgesetzt worden.
Manchmal reicht das natürlich auch aus, ein wenig Hintergrundmusik, einfach ein schneller Happen, den wir konsumieren, ohne viel darüber nachzudenken. In der Musik aber gehen viele von uns gerne einen Schritt weiter. Wir analysieren unsere Wahrnehmung und bereichern auf diese Weise unsere Erfahrung. Das wäre auch auf dem Gebiet des Geschmacks möglich – aber nur, wenn wir ihn besser erforschen. Wie nehmen wir Geschmack wahr? Wie entsteht er? Wie lässt er sich intensivieren, beim Anbau und in der Küche? Diesen Fragen möchte ich nachgehen.
Die Beschäftigung mit dem Thema Geschmack steigert unser diesbezügliches Wahrnehmungsvermögen. Dass wir wertschätzen, wie Dinge schmecken, ist ja wahrscheinlich eine rein menschliche Gabe. Die Biologie der Gattung Mensch – die Tatsache, dass wir in sozialen Gruppen leben, beinahe jeden Fleck der Erde bewohnen und als Allesfresser die verschiedensten Ernährungsgewohnheiten pflegen – bringt mit sich, dass unsere Vorfahren bestimmte Fähigkeiten besonders ausbilden mussten. Sie mussten Gesichter lesen, um Freund von Feind, Nachbarn von Familie, den Ehrlichen vom Betrüger zu unterscheiden. So sind nahezu alle Menschen in der Lage, subtile Unterschiede in den Gesichtern anderer zu erkennen. Wir erinnern uns an die Gesichter von Menschen, mit denen wir vor langer Zeit zur Schule gegangen sind, genauso wie an das Gesicht einer Zufallsbekanntschaft vom Abend vorher. Und das mit einem Blick, nicht nach eingehender Untersuchung von Nase, Ohren, Wangenknochen und Augen. Die besondere Fähigkeit zur Wiedererkennung beschränkt sich allerdings auf Gesichter, an ihren Händen zum Beispiel würden wir Menschen längst nicht so gut wiedererkennen.
Das Wiedererkennen von verschiedenen Geschmäcken ist genauso eine typisch menschliche Gabe. Als Allesfresser mussten unsere Vorfahren entscheiden, was essbar war und was nicht – sie taten dies über den Geschmack. Geschmackswahrnehmung gehört somit zu unserem biologischen Erbe. »Menschen sind genauso Geschmacksexperten, wie sie Gesichtsexperten sind«, schreibt der Psychologe Paul Breslin, der sich mit der Wahrnehmung von Geschmack beschäftigt. »Es geht hier buchstäblich um Leben und Tod. Denn wenn man das Falsche isst, stirbt man.« Wir erkennen den Geschmack einer Erdbeere, Ananas oder grünen Bohne auf Anhieb, ohne dass wir ihn immer genau benennen können.
Unser Geschmackssinn hat wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen, die Gattung Mensch zu dem zu machen, was sie ist. Der Anthropologe Richard Wrangham meint, wir hätten unsere großen und komplexen Gehirne niemals entwickeln können, wenn wir uns nicht einfach zugängliche Kalorien über das Kochen erschlossen hätten.1 Rohkost liefert nämlich nicht genug Kalorien zur Versorgung unserer modernen, großhirnigen Körper. Unsere Vettern, die Schimpansen, verbringen täglich Stunden damit, ihre rohe Nahrung zu kauen, um die darin enthaltenen Kalorien zu extrahieren. Diese Zeit und Energie können Menschen sinnvoller einsetzen. Wer sich von Rohkost ernährt, verliert deutlich an Gewicht, auch wenn Mixer und Entsafter das beständige Kauen ersetzen. Durch das Kochen werden unverdauliche Fasern aufgespalten, wodurch wir mit weniger Kraftaufwand einen größeren Kalorienertrag aus unserem Essen erhalten. Und nebenbei eröffnet sich ein ganzes Reich köstlicher neuer Geschmäcke.
Wir sind zudem die einzigen Lebewesen, die ihre Nahrung würzen – also deren Geschmack durch Pflanzenteile, die wir Kräuter und Gewürze nennen, bewusst verändern. Es ist gut möglich, dass unsere Vorliebe für das Würzen ihren Ursprung ebenfalls in der Evolution hat. Viele Gewürze haben nämlich eine antibakterielle Wirkung – allgemein gebräuchliche Würzmittel wie Knoblauch, Zwiebel und Oregano schränken das Wachstum von fast allen getesteten Bakterien ein.2 Küchen, in denen besonders viel Würze zum Einsatz kommt – in Thailand Knoblauch und schwarzer Pfeffer, in Indien Ingwer und Koriander, in Mexiko Chili –, gehören meist in warme Klimazonen, in denen durch Bakterien verdorbene Lebensmittel ein größeres Problem darstellen. Dagegen stammt die eher leicht gewürzte Küche Skandinaviens und Nordeuropas aus kühleren Klimazonen. Die den Menschen eigene Aufmerksamkeit für Geschmack und insbesondere die Angewohnheit, Speisen zu würzen, ist also aus einer existenziellen Notwendigkeit entstanden.
Unsere ungewöhnliche Anatomie trägt zur menschlichen Geschmackskompetenz bei. Der aufrechte Gang und unser (verglichen mit anderen Säugetieren) seltsam geformter Kopf sorgen dafür, dass unsere Nase sich weniger auf Gerüche der Außenwelt konzentriert und eher Aromen einfängt, die vom Essen aufsteigen. Die Geschmackswahrnehmung beansprucht überproportional große Hirnregionen. Wer ein Stück Käse, ein Glas Wein oder einen Keks konsumiert, lässt dabei mehr Hirnregionen arbeiten als bei jeder anderen Tätigkeit.3 Geschmack spricht unseren gesamten Wahrnehmungsapparat an: Wir schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen ihn. Zum einen ist das motorische System beteiligt, das den Kau- und Schluckvorgang steuert. Zum anderen werden unbewusste Verknüpfungen aktiviert, die Appetit, Hunger und Sättigung steuern. Und zu guter Letzt werden Denkprozesse angeregt, mit denen wir das Gegessene einordnen und bewerten, es in der Erinnerung speichern und entsprechend darauf reagieren. Ganz schön viel Betriebsamkeit also für einen kleinen Bissen.
Geschmack beschäftigt unser Gehirn unterschwellig, aber doch stark. Wenn eine Geruchsinformation – der wichtigste Bestandteil des Geschmacks – das Gehirn erreicht, wandert sie sofort in den Hirnstamm, der für Empfindungen und Erinnerungen zuständig ist. Erst einige Schritte später erreicht sie die Hirnrinde. Dieser Umstand bildet die neurowissenschaftliche Basis für die erstaunliche Fähigkeit des Geschmacks, uns zu berühren: Der Geschmack unseres Lieblingsgerichts bringt uns unmittelbarer und kraftvoller in unsere Kindheit zurück als ein Lied oder ein Foto es können. Immerhin wurde Marcel Prousts Mammutwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack einer in Tee eingetauchten Madeleine angefacht. Der emotionale Kick mag auch erklären, warum Immigranten weiter an ihren Essgewohnheiten festhalten,...