Geschwisterbande
Als ich angefangen habe, über das Thema Geschwister nachzudenken, hörte ich auf einmal viele Geschichten. Die Leute erzählten von ihren Erfahrungen mit den Geschwistern.
Und ich merkte, dass ich in der Begleitung Einzelner jetzt immer auch nach den Geschwistern fragte. Denn die persönliche Situation, in der sich jemand befindet, ist immer auch abhängig von seiner Beziehung zu seinen Geschwistern. Wenn ich Führungsseminare halte, erkenne ich in den Gesprächen, wie die Beziehung zu den Geschwistern sich auch auswirkt auf die Beziehung zu den Mitarbeitern, zu den Chefs und den Kollegen im Führungsgremium. Oft hängen Konflikte mit Mitarbeitern mit nicht gelösten Konflikten zwischen Geschwistern zusammen. Alle fordern von Führungskräften, dass sie Empathie für ihre Mitarbeiter aufbringen sollen. Aber wenn jemand keine Geschwister hatte, fehlt ihm die natürliche Entwicklung der Empathie. Denn im Miteinander der Geschwister lernen wir, mit den andern zu fühlen und sie zu verstehen.
Wenn ich mich an die vielen Erzählungen über Geschwister erinnere, dann freue ich mich über die guten Erfahrungen, die viele gemacht haben. Viele sind dankbar: Die Geschwister halten zusammen. Nach dem Tod der Eltern kann sich jeder auf seine Brüder und Schwestern verlassen. Alle treffen sich gerne. Und wenn einer in Not ist, darf er auf die Hilfe der andern hoffen. Sie stützen und tragen einander. Wenn einer von den älteren Geschwistern einen runden Geburtstag feiert, kommen auch die Kinder und Enkel. Weil die Geschwister zusammenhalten, hält die ganze Großfamilie zusammen. Man freut sich aneinander und fühlt sich getragen von seiner Familie.
Doch ich hörte auch von vielen anderen Erfahrungen. Da gibt es Konflikte zwischen den Geschwistern. Der eine ist neidisch auf den andern, weil er es weiter gebracht hat. Eine Schwester ist alkoholkrank und kümmert sich nicht um die anderen Geschwister. Aber sie erwartet ständig finanzielle Unterstützung, sowohl von den Eltern als auch von den Geschwistern. Wenn man ihr nicht hilft, dann klagt sie: »Alle sind gegen mich!« Sie möchte ihr Alkoholproblem nicht anschauen und ist vor allem neidisch auf die ältere Schwester, die etwas aus ihrem Leben gemacht hat.
Ein junger Mann erzählt, dass er sich schon als Kind mutterseelenallein gefühlt hat, obwohl er einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester hat. Aber die beiden hatten keinen Draht zu ihrem Bruder. Er galt für sie als Außenseiter. Wenn die Mutter heute Geburtstag feiert, dann fühlt sich der junge Mann völlig ausgeschlossen. Seine Schwester ignoriert ihn. Und mit seinem Bruder kommt kaum ein Gespräch zustande. Nur seine Mutter versucht, ihn in die Familie zu integrieren. Aber offensichtlich hat sie keinen Erfolg.
Die jüngste Tochter des jungen Mannes spürt diese Atmosphäre. Sie bekam einmal, so berichtet ihr Vater, so heftiges Kopfweh, dass er mit ihr und seinem Sohn schon nach einer Stunde die Geburtstagsgesellschaft verlassen musste. Es ging einfach nicht zusammen. Selbst die Enkelkinder der Großmutter spürten, dass da etwas nicht stimmt.
Andere erzählen, dass die Familie früher immer zusammengehalten hat. Doch jetzt hat die Schwester einen Mann geheiratet, der die ganze Familie spaltet. Er redet seiner Frau ein, dass sie von ihren Eltern immer benachteiligt worden ist, dass die Eltern in der Erziehung viele Fehler gemacht haben. Auf einmal wendet sich die Tochter gegen die Eltern, und sie will auch von ihren Geschwistern nichts mehr wissen. Nach einer heftigen Aussprache hat sie ihnen sogar Hausverbot erteilt. Offensichtlich hat sie Angst, dass ihre Geschwister sie verunsichern könnten in ihrer Haltung. Sie hat sich in ihre negative Haltung so hineingesteigert, dass sie niemanden aus der Familie mehr an sich heranlässt.
Das gute Miteinander wird gestört durch Rivalitäten unter den Geschwistern, in anderen Fällen durch die Ehepartner, die manchmal die Harmonie zwischen den Geschwistern trüben und oft sogar einen Keil zwischen sie treiben. Weil ihr Bruder seinen Schwager einmal kritisiert hat, hat die Schwester den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Oft entsteht bei den Erbauseinandersetzungen Streit. Die Familie dachte, sie würden immer zusammenhalten. Doch sobald es darum geht, das Erbe gerecht aufzuteilen, tauchen die Rivalitäten zwischen den Geschwistern auf. Was lange harmonisch wirkte, war doch nur ein Deckmantel, den man über alte Konflikte gebreitet hatte. Jetzt treten die Konflikte, die man lange verdrängt hatte, offen hervor. Auch hier werden die Auseinandersetzungen durch angeheiratete Schwager und Schwägerinnen noch erschwert und oft auch erst durch sie richtig angestachelt.
Bei Gesprächen erfahre ich von den verschiedensten Geschwisterkonstellationen. Da gibt es Geschwister, die sich gegenseitig stützen. Sie fühlen sich getragen durch die Familie. Die Geschwister haben Freude aneinander. Es gibt dabei immer einen Lieblingsbruder, eine Lieblingsschwester, mit der man sich besonders gut versteht, mit der man alle seine Probleme besprechen kann. Dann gibt es Geschwister, die nur noch einen lockeren Kontakt zueinander haben. Man streitet nicht. Aber man hat auch nicht allzu viel Interesse aneinander. Oft erzählen mir Menschen, denen ich begegne, dass die Beziehung zum Bruder oder zur Schwester sozusagen nur noch auf Sparflamme aufrechterhalten wird. Man kann sich bei gemeinsamen Familienfeiern treffen. Aber es entsteht kein persönliches Gespräch. Man wahrt die Fassade von Freundlichkeit. Aber eigentlich hat man sich nichts mehr zu sagen.
Andere haben gar keinen Kontakt mehr zum Bruder oder zur Schwester. Man geht auf Distanz, um sich zu schützen, weil man sich immer wieder aufs Neue verletzt oder kleingemacht fühlt. Über die Jahre ist eine hasserfüllte Feindschaft entstanden. Man bekämpft sich gegenseitig. Man korrespondiert nur noch über Rechtsanwälte. Immer wieder höre ich, wenn ich Menschen begleite, von solchen Fällen. Die Folgen solcher hasserfüllten Beziehungen sind oftmals: Man fühlt sich verletzt, allein, einsam. Ohne die Familie gibt es keinen wirklichen Halt mehr. Die Geschwisterbande, das Familiengefüge ist zu einer Belastung geworden, die einem viel Lebensenergie raubt.
Wenn ich mir solche Geschichten anhöre, bin ich umso dankbarer für meine Familie. Wir sind sieben Geschwister. Wir verstehen uns gut. Wir kommen gerne zu Familienfeiern zusammen. Und auch sonst haben wir immer wieder Kontakt miteinander. Alle fünf Jahre gibt es dann größere Treffen mit all den Cousinen und Cousins, die Verwandtschaft von unseren Müttern her, die aus der Eifel stammen. Meine älteste Schwester, Marie Luise, ist leider letztes Jahr gestorben. Lange habe ich um sie getrauert.
Je älter wir werden, desto wertvoller werden uns Geschwistern solche Treffen. Wir freuen uns aneinander, geben und nehmen Anteil an Freud und Leid.
Immer wieder höre ich zum Glück von einem ähnlichen Zusammenhalt in anderen Familien. Da gibt es doch auch viele Geschwister, die sich nach dem Tod ihrer Eltern gegenseitig stützen. Die Menschen in diesen Familien fühlen sich nicht allein. Sie sind getragen durch ihre Geschwister und deren Ehepartner.
Wenn ich an meine Familie denke und mir die vielen Geschichten von misslungenen Geschwisterbeziehungen anhöre, frage ich mich immer wieder: Was ist der Grund, dass eine Geschwisterbeziehung gelingt? Hängt es nur von den Eltern ab? Entstehen die Probleme durch die Andersartigkeit der Geschwister oder durch bestimmte Geschwisterkonstellationen? Oder projizieren manche ihre eigenen Probleme auf die andern? Weil sie das eigene Leben nicht gut bewältigen, vergleichen sie sich mit den Geschwistern und fühlen sich minderwertig. Diese Minderwertigkeit wird dann oft in Aggression gegen die andern ausagiert.
Wie können solche Probleme bewältigt werden? Was können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder sich später vertragen? Und was ist der Auftrag der Geschwister für ein gelingendes Leben? Was ist die Herausforderung, der jeder Einzelne sich stellen muss? Welche Haltungen sind nötig, damit ein gutes Miteinander über lange Zeit bestehen kann?
Diesen Fragen möchte ich in diesem Buch nachgehen.
Jeder hat Erfahrungen mit Geschwistern. Denn selbst wenn jemand Einzelkind ist, kennt er genügend Freunde, die Geschwister haben. Oder er denkt an die Geschwister seiner Eltern und die Erfahrungen, die sich damit verbinden. Er freut sich an gelingenden Beziehungen. Aber er leidet auch, wenn die Beziehungen sich problematisch gestalten.
Wer keine Geschwister hat, kennt die Sehnsucht, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, mit denen er sich austauschen kann, von denen er sich verstanden fühlt.
Die Erfahrungen, die ich in diesem Buch beschreibe, wird jeder mehr oder weniger für sich oder in seinem Umfeld gemacht haben.
Aber ich möchte mit diesem Buch nicht so sehr problematische Beziehungen und ihre psychischen Ursachen beschreiben. Vielmehr ist es mir ein Anliegen, in den Geschwistern die Sehnsucht nach einer guten Beziehung zu wecken. Die einen möchte ich bestärken in der Dankbarkeit für ihren guten geschwisterlichen Zusammenhalt. Allen, die an ihren Geschwisterkonflikten leiden, möchte ich Wege aufzeigen, wie sie mit schwierigen Beziehungen umgehen können, damit sie nicht ein Leben lang davon belastet werden. Und ich möchte verfeindete Geschwister dazu ermutigen, sich zu versöhnen. Dabei verzichte ich auf eine psychologische Analyse der Geschwisterkonflikte. Natürlich spielen psychologische Erkenntnisse immer auch eine Rolle dabei. Aber ich möchte die Menschen als...