Das nächtliche Schlummern erfüllt für unseren Körper, unsere Psyche und unser Leistungsvermögen viele wichtige Aufgaben. Längst nicht alle hat die Wissenschaft bisher entschlüsselt. Schlaf ist aktive Regeneration, die Zellen erneuern sich, und unser Gehirn arbeitet währenddessen zeitweise auf Hochtouren. Kurz: Es gibt keinen so umfassenden Erholungszustand für Körper und Geist wie den Schlaf. Von seinen vielen unterschiedlichen Aufgaben möchte ich Ihnen als Erstes erzählen. Diese lassen sich am besten erkennen, wenn wir uns deutlich machen, was alles passieren kann, wenn Sie die Medizin Schlaf falsch dosieren.
Risiken und Nebenwirkungen von Schlafmangel
Wer wach sein will, muss schlafen, das weiß eigentlich jedes Kind. Und zwar ausreichend, nur ein paar Stündchen sind für die meisten viel zu wenig. Ohne regelmäßigen und vor allem genügenden Schlaf können wir uns am Steuer nur schwer vor dem Sekundenschlaf schützen, in Sitzungen das Einnicken kaum verhindern, sind in Schule oder Studium unkonzentriert und haben Mühe, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Zu wenig Schlaf macht uns launisch und gereizt. Viele werden unter dem Eindruck einer schlaflosen Nacht sogar unausstehlich! Schnell reißt der Geduldsfaden, und das Aggressionspotenzial erreicht Topniveau. Beim kleinsten Problem gehen wir an die Decke. Schlaflosigkeit über einen längeren Zeitraum verändert auch unsere Körperwahrnehmung: Wir spüren jedes Zipperlein überdeutlich, sind etwas wehleidig und werden schnell unleidlich.
Kurzfristig können wir den Schlafausfall gesundheitlich kompensieren, das hat uns die Evolution aus grauer Vorzeit mitgegeben. Damals musste sich der Mensch flexibel zeigen, wenn es um seinen Schlaf ging. Es gab keine beschützten Behausungen, man musste sich in der freien Prärie, hinter Büschen, auf Bäumen und in Höhlen zusammenrollen. Unsere Vorfahren konnten plötzlich von einem Unwetter überrascht werden, und überall lauerte Gefahr in Form von nächtlichen Jägern, für die unsere Ahnen ein gefundenes Fressen waren. Da konnte es schon mal vorkommen, dass auf den Schlaf verzichtet werden oder es auch mit weniger gehen musste. Diese Fähigkeit hat sich in unseren Genen verankert. Es ist dem Menschen möglich, kurzfristig mit weniger oder keinem Schlaf auszukommen, ohne dass dies zu wesentlichen Einschränkungen führt. Nur wer über einen längeren Zeitraum zu wenig Schlaf hat, muss mit gesundheitlichen und psychischen Konsequenzen rechnen.
Akuter Schlafmangel macht betrunken
Gleichwohl hat auch schon eine einzige Nacht mit weniger oder keinem Schlaf so ihre Nebenwirkungen, vor allem auf das Leistungsvermögen am nächsten Tag. Jim Horn, englischer Schlafforscher, hat das in einem wissenschaftlichen Experiment sehr anschaulich verdeutlicht. Er verglich die Wirkung von Alkohol und zu wenig Schlaf auf unser Reaktionsvermögen und konnte zeigen, dass bereits 17 Stunden Wachheit mit einem Reaktionsvermögen einhergeht, wie es 0,5 Promille Blutalkoholspiegel entspricht. Wer also morgens um 6 Uhr aufsteht, durchrackert und abends um 23 Uhr ins Auto steigt, ist im juristischen Sinne nicht mehr voll fahrtüchtig. Nach 22 Stunden quälender Wachheit hatten Horns Probanden das Reaktionsvermögen eines Betrunkenen mit 1,0 Promille Blutalkoholspiegel erreicht. 22 Stunden Wachheit heißt also, dass eigentlich nichts mehr geht: Wir sind quasi betrunken, zumindest was unsere Reaktionen angeht, und nur noch bedingt zurechnungs- und entscheidungsfähig. Wir machen Fehler, und das Unfallrisiko steigt.
Die Folgen von Schlafmangel zeigen sich zuerst bei der Bewältigung von geistigen Aufgaben. Wer körperlich arbeitet, bemerkt die Anzeichen nicht so deutlich. Körperliche Anstrengung aktiviert das Herz-Kreislauf-System und überdeckt Müdigkeit, sie macht wach. Oder sind Sie schon einmal beim Joggen eingeschlafen? Trotzdem schlummert die Müdigkeit bei körperlicher Aktivität natürlich weiter gefährlich im Hintergrund. Kommen wir dann zur Ruhe, kann sie gnadenlos zuschlagen. Wehe, das passiert an einem falschen Ort oder zur falschen Zeit. Der Sekundenschlaf kann einen in mannigfaltigen Formen ins Reich der Träume katapultieren. Und besonders gerne tut er dies in Situationen, in denen man hellwach sein muss.
Schlafmangel macht unbekümmert und risikofreudig
Inspiriert durch die langen Nachtsitzungen in Politik und Wirtschaft untersuchten wir in einem Experiment die Auswirkungen von Schlafmangel auf Entscheidungsprozesse und das Risikoverhalten. Dafür baten wir Studenten, für eine Nacht nicht zu schlafen. Um sicherzustellen, dass nicht trotzdem heimlich geschlummert wurde, verbrachten die Teilnehmer der Studie die Nacht gemeinsam. Mitgebrachte Spiele wurden gespielt, man unterhielt sich, lenkte sich ab und kontrollierte gegenseitig, dass keiner einschlief. Am Abend vor und am Morgen nach dem Schlafentzug hatten die Teilnehmer die Aufgabe, mithilfe eines Computerprogrammes virtuelle Luftballons aufzublasen. Je größer die Ballons, desto mehr virtuelles Geld gab es. Gingen sie allerdings zu viel Risiko und bliesen die Ballons bis zum Platzen auf, gab es kein Geld für die Teilnehmer.
Das Ergebnis war gleichermaßen beeindruckend wie erschreckend. Im Durchschnitt gingen die Probanden am Abend vor dem Schlafentzug deutlich vorsichtiger beim Aufblasen der Luftballons zu Werke und verdienten sich mehr Geld. Ohne Schlaf war es am Morgen eine ziemlich laute Knallerei. Mit Dollarzeichen in den Augen und Ringen darunter gingen die Probanden so viel Risiko ein, dass deutlich mehr Ballons als am Abend platzten.
Auch leichter Schlafmangel über mehrere Tage, so wie es viele von uns immer wieder mal im hektischen Alltag erleben, steigert die Risikobereitschaft. Forscher der Universität Zürich haben herausgefunden, dass viel eher Gefahren eingegangen werden, wenn der Mensch über mehrere Tage hinweg zu wenig schläft. Die Wissenschaftler hatten das Verhalten von 14 gesunden männlichen Studenten im Alter von 18 bis 28 Jahren untersucht. Schliefen diese eine Woche lang nur fünf Stunden pro Nacht, zeigten sie ein klar risikoreicheres Verhalten im Vergleich zu einer Schlafdauer von etwa acht Stunden. Besonders kritisch an den Ergebnissen: Die übermüdeten Studenten waren sich nicht bewusst, dass sie risikobereiter waren. Chronischer Schlafmangel führt also nicht nur zu Schläfrigkeit und verminderter Aufmerksamkeit. Zu wenig Schlaf macht auch unvorsichtiger, trübt die korrekte Einschätzung von Risiken und die Entscheidungsfähigkeit, ohne dass der Betroffene sich darüber im Klaren ist.
Berücksichtigt man diese Untersuchungen, sind die Ergebnisse langer Nachtsitzungen in Politik und Wirtschaft in einem anderen Licht zu sehen. Nach einer Umfrage des Allensbacher Institutes aus dem Jahr 2011 fühlen sich 61 Prozent der Politiker regelhaft unausgeschlafen, 57 Prozent geben an, schon einmal müdigkeitsbedingte Zugeständnisse gemacht zu haben. Trotzdem brüsten sich immerhin 31 Prozent der Spitzenpolitiker, weniger als fünf Stunden schlafen zu müssen. In diesem Kontext fällt mir ein Zitat von Sabine Christiansen, der ehemaligen Talk-Moderatorin, ein: In einer Sendung mit dem Titel »Deutschland vor dem Untergang – verschlafen wir die Zukunft?« verblüffte sie mit der Erkenntnis: »Die Deutschen schlafen zu lange. Eine Kuh beispielsweise kommt mit drei bis vier Stunden Schlaf am Tage aus. Und ich auch.« Ich musste nicht nur über die Naivität einer so intelligenten Frau hinsichtlich des menschlichen Schlafbedürfnisses schmunzeln, sondern auch wegen des vermutlich unbewusst gezogenen Vergleichs mit einer Kuh … Rainer Werner Fassbinder hielt Schlaf übrigens für gänzlich überflüssig: »Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin.« Sprach’s und verstarb mit 38 Jahren.
Totaler Schlafmangel kann bedrohliche Folgen haben
Aber wie lange kann man denn nun wach bleiben, ohne dass die Gesundheit leidet? Dieser Frage gehen die Forscher seit Jahrzehnten nach. Ein in der Schlafforschung viel zitiertes Experiment wurde von Randy Gardner, einem weißen College-Studenten, durchgeführt. Er stellte in den 1960er-Jahren den Weltrekord im Nicht-Schlafen auf. Gemeinsam mit einem inzwischen berühmten Schlafmediziner, William Dement, und zwei Freunden, die ihn wechselseitig wachhielten, verbrachte er 264 Stunden ohne Schlaf. Dieser Rekord wurde erst im Jahr 2007 von dem Briten Tony Wright um zwei Stunden überboten; sein Versuch wurde zwar von der BBC begleitet, aber weder medizinisch noch wissenschaftlich.
Randy Gardner, der erste Rekordhalter, wurde für dieses wissenschaftliche Experiment nicht im Labor festgehalten. Er durfte sich frei bewegen und tun und lassen, was er wollte. Er ging mit seinen Betreuern spazieren, ins Kino, Schwimmen oder am liebsten in eine Spielhalle. Während dieser elf Tage völliger Schlaflosigkeit baute er geistig und psychisch immer mehr ab. Bereits am zweiten Tag konnte er Alltagsgegenstände wie eine Tasse oder ein Buch allein mit dem Tastsinn nicht mehr gut erkennen. Am dritten Tag zeigte er Einschränkungen in...