In dem Kapitel 4 wird auf die europäisch-deutsche Migrations- und Fluchtgeschichte eingegangen. Angefangen vom Dreißigjährigen Krieg, über die Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland, bis hin zur Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand.
Durch den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 waren einige deutsche Gebiete stark zerstört und viele Landstriche waren entvölkert. Aus diesem Grund warben die jeweiligen Landesherren erwerbsfähige und steuerpflichtige Personen aus anderen Regionen an. Die kriegszerstörten Gebiete sollten dadurch wieder aufgebaut werden und mehr Geld in die Landeskasse fließen. Somit wurden große Teile der deutschen Gebiete zu zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Des Weiteren zogen Glaubens-flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Die wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Einwanderungsgruppe waren die Hugenotten. Von ihnen zogen ca. 30.000 bis 40.000 in die Gebiete nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die Hansestädte und in die welfischen Herzogtümer. Diese Einwanderungsbewegung dauerte bis Mitte des 18. Jahrhunderts an. Danach dominierte bis 1830 die Abwanderung nach Südost- und Osteuropa. Zusätzlich immigrierten zwischen 1816 und 1914 rund 5,5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort stellten die deutschen Einwanderer von 1820 bis 1860 mit 30% die zweitstärkste und von 1861 bis 1890 die stärkste Einwanderungsgruppe dar (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). In den Vereinigten Staaten hatten es die Deutschen nicht leicht, das neue Land als ihre Heimat zu bezeichnen. Sie waren dort vielen Schwierigkeiten und dem Argwohn der hiesigen Bevölkerung ausgesetzt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren bereits ein Drittel der Bevölkerung von Pennsylvanien deutsche Migranten/innen und viele von ihnen waren noch auf den Weg von Deutschland in die Vereinigten Staaten. Deswegen sprach man vielen Orts von einem deutschen Problem in Amerika. Benjamin Franklin schrieb dazu folgenden Satz:
„Warum sollte Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, eine Kolonie von Fremden werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, anstatt das wir sie anglisieren?“ (Meier-Baum 2015, S. 24).
Dieser Satz spiegelt die allgemeine Stimmung gegen die deutschen Einwanderer wieder. Hier lässt sich deutlich die Angst vor einer Überfremdung und einer anderen Kultur herauslesen. Der/die Deutsche wurde als Eindringling gesehen, der/die eine andere Sprache, ein anderes Temperament, einen anderen Kleidungsstil und eine andere Esskultur hatten. Die Politik diskutierte über das deutsche Problem in Amerika und man versuchte mit einigen Interventionsmöglichkeiten darauf zu reagieren. So bot man auch deutschen Einwanderer/innen eine kostenlose englische Schulbildung mit der Hoffnung an, dass diese lieber eine kostenfreie englische Schule besuchen würden, als eine kostenpflichtige deutsche Schule, denn die deutschen Einwanderer/innen waren dafür bekannt, dass sie ihre eigene Sprache sehr schätzten und liebten. Ein weiterer politischer Vorschlag war keine weiteren Deutschen mehr in den Staat Pennsylvania einreisen zu lassen. Auf den Vorschlag, Ehen zwischen Deutschen und Angloamerikanern staatlich zu subventionieren, reagierte Benjamin Franklin mit folgendem Satz:
„Den sechsten Vorschlag, Mischehen zwischen den Angloamerikanern und den Deutschen mittels Geldspenden zu fördern, halte ich entweder für zu teuer oder ohne Aussicht auf Erfolg. Die Deutschen Frauen sind im Allgemeinen so wenig anziehend für einen Engländer, dass es enorme Mitgift erfordern würde, Engländer anzuregen, sie zu heiraten“ (Meier-Baum 2015, S. 24).
Man kann gut erkennen, dass die deutschen Einwanderer ähnliche gesellschaftliche Probleme hatten wie die Flüchtlinge und Migranten/innen, die heute nach Deutschland kommen. Auch sie waren Vorurteile der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt.
Durch die industrielle Revolution und der verbundenen Ausweitung wirtschaftlicher Chancen sowie der Agrarmodernisierung in Deutschland ebbte die transatlantische Migrationsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 sanken die Auswanderungszahlen erheblich. Gleichzeitig war der Beginn des 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Flüchtlinge in Europa. Das Deutsche Kaiserreich war kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges zu einem asylfeindlichen Staat geworden. Das änderte sich aber mit Ausbruch des Krieges im Jahr 1914. Da viele Männer zum Militär eingezogen wurden, stieg der Bedarf an Arbeitskräften vor allem in der Rüstungsindustrie an. Dieser Arbeitskräftebedarf führte zu einem starken Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Der erfolgte in den meisten Fällen nicht freiwillig. Zwangsarbeit dominierte das Beschäftigungsverhältnis der ausländischen Arbeiter/innen (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Weimarer Republik Ziel vieler Flüchtlinge, die vor den Folgen der Oktoberrevolution von 1917 aus Russland nach Deutschland immigrierten. Auch durch die Etablierung des Sowjetsystems im alten Zarenreich und des anschließenden Bürgerkrieges, haben viele Russen das Land in Richtung Westen verlassen. Hinzu kamen Zehntausende Juden aus Osteuropa, die vor antisemitischen Strömungen und Pogromen in Deutschland Schutz suchten (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2).
Dieses Unterkapitel geht verstärkt auf die Flüchtlinge ein, die ab 1933 Deutschland verlassen mussten. Weiterhin wird die Situation der Menschen dargestellt, die sich während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verstecken mussten und untergetaucht sind, um der Deportation zu entgehen. Ebenso wird dem/der Leser/in die Konferenz von Evian vorgestellt.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde Deutschland wieder zu einem asylfeindlichen Staat. Zusätzlich vertrieben die Nazis etwa eine halbe Millionen Menschen aus dem deutschen Reichsgebiet. Das betraf politische Gegner des NS-Regimes, solche, die die Machthaber dafür hielten sowie Künstler/innen, Wissenschaftler/innen und Personen, die nicht in das ideologische Schema des Nationalsozialismus passten. Dazu zählte vor allem der jüdische Teil der Bevölkerung, von denen ca. 280.000 aus Deutschland flüchten konnten. Insgesamt nahmen über 80 Staaten Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich auf (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach 1933 vertrieben wurden, beträgt in etwa 500.000 Personen. Davon stammten rund 360.000 aus Deutschland und 140.000 aus Österreich, welches 1938 von Deutschland annektiert wurde. Nach dem im April 1933 das Gesetz zu Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen wurde, verloren die deutschen Universitäten ein Viertel ihres Lehrkörpers. Aus politischen und rasseideologischen Gründen wurde eine Vielzahl von Personen aus dem Hochschulbetrieb entlassen. Kurze Zeit später kam das Parteienverbot hinzu. Daraufhin wurden im Sommer 1933 die ersten Ausbürgerungslisten angefertigt. Bis Anfang 1945 kamen noch weitere 358 solcher Listen hinzu. Die Verbote und Listen hatte zur Folge, dass die Anzahl flüchtender Deutschen zunahm (vgl. Krohn 2011, S. 1f.). Die Meisten flohen nach der Machtübernahme in die unmittelbaren Nachbarländer Deutschlands. So gingen Viele in die Tschechoslowakei, Frankreich, Schweiz, Niederlande oder nach Skandinavien mit der Hoffnung, dass die NS-Herrschaft bald ein Ende haben würde. Teile der SPD-Führung flohen nach Prag. Aufgrund der repressiven Einreisebedingungen gingen nur wenige Mitglieder der KPD in die Sowjetunion. Die Türkei und Palästina (Letztgenanntes unter britischem Mandat) hatten seit 1933 durch spezielle Abkommen eine gezielte Einwanderung gefördert. Jedoch hatte die britische Regierung die Zahlen der Einwanderung in Palästina begrenzen wollen. Die Organisation Jewish Agency sorgte durch ein Transferabkommen mit Deutschland dafür, dass Flüchtlinge aus dem wohlhabenden Mittelstand nach Palästina kommen konnten. Die Türkei, unter der Regierung von Kemal Pascha Atatürk (Gründer der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg), warb nach 1933 gezielt entlassene deutsche Wissenschaftler nebst Familienangehörigen an, von denen sich Atatürk einen Beitrag zu Modernisierung der noch jungen Türkei (bis 1923 noch Osmanisches Reich) erhoffte (vgl. Krohn 2011, S. 2).
Zunächst beschränkten sich die Fluchtbewegungen überwiegend auf die Nachbarländer Deutschlands und die Türkei und Palästina. Das änderte sich ab 1938 mit den „Anschluss“ Österreich an das Deutsche Reich, der Besetzung des Sudetenlandes und der Tschechoslowakei und nach der Reichspogromnacht. Nachdem Italien ebenfalls die Rassegesetze nach deutschem Vorbild einführte und Spanien nach dem Bürgerkrieg von einer faschistischen Regierung geführt wurde, boten diese Länder auch keine sichere Zufluchtsstelle für Flüchtlinge mehr. Hin und wieder gelang es größeren...