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E-Book

Gestalt begreifen

Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie

AutorStefan Blankertz
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783752845143
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Dieses Buch will die Frage beantworten, wie gestalt­therapeutische Praxis und gesellschaftskritische Theorie verzahnt sein müssen, damit aus Gestalttherapie keine Anpassungstechnik wird. Es ist die Quintessenz aus fast fünf Jahrzehnten Studien zu Paul Goodman, dem Mitbegründer der Gestalttherapie, der Reflexion therapeutischer Theorie sowie Erfahrungen in der gestalttherapeutischen Aus- und Weiterbildung.

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller. Seit nahezu 50 Jahren beschäftigt er sich mit Paul Goodman und seinem Werk in philosophischer, in therapeutischer sowie in literarischer Hinsicht; seine erste Buch- Veröffentlichung war die Übersetzung von Goodmans schulkritischer Kampfschrift "Compulsory Mis-education" (1964) als "Das Verhängnis der Schule" (1975). Seine Doktorarbeit (1983) und Habilitationsschrift (1986) handeln von Paul Goodman. Zur Erläuterung von Goodmans gestalttherapeutischer Theorie hat er u.a. die Bücher "Gestalt begreifen: Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie" (erstmals 1996, 2018 in der 5. überarbeiteten Auflage erschienen) sowie die Streitschrift "Verteidigung der Aggression: Gestalttherapie als Praxis der Befreiung" (2010) geschrieben. Mit Erhard Doubrawa verfasste er die "Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen" (2000; Gesamtauflage über 40.000 Exemplare) und das "Lexikon der Gestalttherapie" (2005/2017). Zu Goodmans 100. Geburtstag 2011 stellte er den Reader "Einmischung" zusammen und widmete ihm seinen Roman "Die Literatte".

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Leseprobe

Personal: Wer war Paul Goodman?


Ein »Werkleben«

Goodman: ein unbequemer Zeitgenosse, eine unbequeme Hinterlassenschaft für die Gestalttherapie. An seiner Person scheiden sich, rund dreißig Jahre nach seinem Tod und ungefähr fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches »Gestalt Therapy«, die Geister: Für die einen ist er bloß der Mitautor jenes Buches und keiner weiteren Erwähnung wert. Für die anderen ist er heute mehr denn je der Garant für eine nicht-angepasste und theoretisch fundierte Psychotherapie.

Wer ist die Person Paul Goodman? Was war er für eine Person, ehe er die Gestalttherapie mitbegründete? Und was für eine, als er dann zum »Star« des anti-autoritären Bürgerprotestes wurde – und nach dem Abklingen der Protestbewegung auf den Misthaufen der Geschichte geworfen werden sollte? War er, wie manche es gern verstehen möchten, einfach ein erfolgloser Gossendichter und Querkopf, dessen wirres Gerede nur in einer wirren Zeit kurze Aufmerksamkeit erregen konnte? Oder gibt es einen roten Faden, der sein Leben und sein Werk durchzieht und auch heute noch interessant macht?

Kindheit und Jugend

Paul Goodman, jüdischer Abstammung, wurde 1911 in Greenwich Village, New York, geboren. Durch die Eltern, von Beruf Schausteller, vernachlässigt, wuchs er unter der Sorge seiner Schwester Alice und verschiedener Tanten auf. Sein Bruder Percival (Jahrgang 1904) hatte sich früh selbstständig gemacht und in Paris an der »Ecole des Beaux Arts« studiert. Er wurde Architekt.

Paul musste sich sein Studium der Literatur und Philosophie, das er 1931 in Chicago begann, durch Jobben verdienen. Nebenbei eignete er sich autodidaktisch Deutsch und Griechisch an; Latein und Französisch hatte er bereits auf der Schule gelernt. in diese Zeit fallen seine ersten literarischen Arbeiten von Wert, die er teils in kleinen Avantgarde-Magazinen veröffentlichen konnte.

Nachdem Goodman mit der – unveröffentlichten – Arbeit »The Formal Analysis of Poems« und mündlichen Prüfungen u.a. über Erkenntnistheorie und Kants Ästhetik zum Ph.D. promoviert hatte und an der »University of Chicago« einen Lehrerposten antrat, schien seine Karriere festzustehen. Sein Thema war Shakespeare. Die Methode seiner Deutung war die sich auf Aristoteles stützende immanente (d. h. »formale«) Analyse der »Chicago School of Critics«, aus der Goodman entstammte.

Allerdings verlor Goodman seine Stelle 1940, weil er ein offenes Ausleben seiner Homosexualität sowohl als sein Recht als auch als pädagogisch sinnvoll proklamierte. Aus dem gleichen Grund musste er seine danach angetretene Tätigkeit an der »Manumit School« und am »Black Mountain College« aufgeben, beides renommierte »alternative« Institutionen. Zur selben Zeit wurde seine Kurzgeschichte »A Cerimonial« (1940) gedruckt, die in literarischen Kreisen für Aufsehen sorgte. Susan Sontag zählt Goodmans frühe Kurzgeschichten zur wichtigsten Prosa der nordamerikanischen Literatur.

Der rebellische Schriftsteller

Da ihm der Zugang zu den akademischen Institutionen versperrt war, lebte Goodman weiterhin von Gelegenheitsjobs und sein Einkommen lag nur knapp über dem Existenzminimum. Seine Bücher wurden von kleinen Verlagen, die keine Honorare zahlen konnten, in geringen Auflagen gedruckt. Obwohl er unter den Literaten ein Geheimtipp war, verkauften sich seine Bücher nur schlecht. 1941 erschien »Stop Light: 5 Dance Poems«, fünf Bühnenstücke, für die er die Form des japanischen »Noh« benutzte. Das war während des Krieges – kurz nach Pearl Harbor – nicht sehr populär. Ein Jahr später, 1942, schrieb er »Don Juan, or: The Continuum of the Libido«. Dieses ungewöhnliche, in keine literarische Gattung einzuordnende Buch wiesen alle Verleger auf Grund der offenen Behandlung der Sexualität zurück; es erschien vollständig erst nach Goodmans Tod. indem er dieses »Museum der Libido« (so seine eigene Charakterisierung des Buches) schrieb, lehnte er die Anpassung an seinen Ruf als ein »Avantgarde-Phänomen« und den Kompromiss mit der Kulturindustrie radikal ab. Offenheit der Sprache empfand er als Voraussetzung für gute Literatur. Er gebrauchte sexuelle Themen jedoch nie als »unterhaltsame Provokation«, sondern im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit den »Fakten des Lebens«, die den Leser mit einbezog.

Aus den Elementen Literatur, akademischer Bildung und Erfahrung als Deklassierter entwickelte sich bei Goodman ein Denken und ein Stil von bemerkenswerter Intensität. Schon die Kurzgeschichte »A Cerimonial« (1940) und der Roman »The Grand Piano« (1941) zeigten das Wesen von Goodmans Kritik: gegen die Institutionen und gegen die Unbekümmertheit der Menschen, die sich von Institutionen ein »übliches« Leben aufzwingen lassen. »A Cerimonial« beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Werbesprache, ausgehend von einer gegen die Werbung gerichteten direkten Aktion. in »The Grand Piano« steht ein New Yorker Junge im Mittelpunkt des Geschehens, der sich um die Schulpflicht herumdrückt. »Die Stadt als Schule. Zurück zu Sokrates.«

Gegen Ende des Jahres 1944 sollte Goodman zum Wehrdienst eingezogen werden. Seine strikte Weigerung brachte ihn in die Gefahr, ins Gefängnis zu kommen. (Er wurde dann aber doch ausgemustert.) Die Frage, ob ein Revolutionär den Wehrdienst in jedem Falle verweigern sollte, oder das »kleinere Übel« zu wählen habe, war unter den progressiven Literaten und radikalen Linken heftig umstritten. Bereits während des Krieges sah Goodman den deutschen Faschismus nicht als »Natur«-Katastrophe an, sondern als Folge auch der Vorkriegspolitik der Vereinigten Staaten. Der Mehrheit des amerikanischen Volkes war bis zum Kriegsausbruch dies zumindest vage bekannt. Die »Isolationisten« vermochten jedoch keine wirklichkeitsmächtige Politik zu entwickeln. Dieser Zusammenhang wurde im Krieg auch und gerade von den Linken vergessen, verdrängt und seine Benennung ausgegrenzt.

Gegen die Logik vom »kleineren Übel« lautete Goodmans Argumentation: Wenn es in einer konkreten Situation nur die Wahl zwischen einem »größeren« und einem »kleineren« Übel gäbe, hätten wir, die Bürger, politisch etwas falsch gemacht. Anstatt uns der Wahl zu unterwerfen, müssten wir den Fehler ausfindig machen und mit aller Kraft beseitigen. Auf den Weltkrieg bezogen hieß das für Goodman: Anstatt zwischen faschistischem Terror, demokratischem Imperialismus und totalitärem Stalinismus zu wählen und dabei – was immer man wählte – selbst zum Militaristen zu werden, forderte er nun erst recht zum konsequenten Pazifismus auf. Diese Überlegung fand Verständnis bei den Anarchisten. Die literarischen Avantgarde-Blätter und die marxistisch orientierten Zeitschriften, die bis dahin einige seiner Arbeiten veröffentlicht hatten, strichen Goodman allerdings nun aus dem Programm.

Seine Gedanken über die Pflicht zur Wehrdienstverweigerung, gegen die Idee der Koalition mit dem kleineren Übel und zu den Umständen, unter denen man Gefängnisstrafen in Kauf nehmen muss, bildeten sein erstes weder literarisches noch literaturkritisches Werk, »The May Pamphlet« (1945). in diese Zeit fallen auch eine Reihe von psychologisch-politischen Essays, in denen Goodman eine »linke« Freud-Deutung über Wilhelm Reich hinaus versuchte.

Nach dem Krieg betätigte sich Goodman weiter literarisch; er veröffentlichte daneben allerdings immer mehr politische, soziologische und psychologische Arbeiten. Persönlich befand er sich dabei in einer Sackgasse: Seine politischen Ansichten und sein bisexueller Lebensstil machten ihn zu einem Aussätzigen.

Mitbegründung der Gestalttherapie

Die Wende in seinem Leben begann, als er 1947 Lore und Fritz Perls traf. Die beiden hatten Goodmans psychologisch-politischen Essays im südafrikanischen Exil gelesen und beschlossen, ihn an ihrem Projekt der Gründung einer neuen psychotherapeutischen Richtung zu beteiligen. Goodman schrieb an dem Buch »Gestalt Therapy«, war Mitbegründer des »Institute for Gestalt Therapy« in New York und arbeitete einige Jahre als Psychotherapeut. Zum ersten Mal verdiente er ein wenig mehr, als unbedingt zum Leben notwendig ist.

Gleichwohl nannte Goodman seine Tagebuchnotizen aus den Jahren 1955 bis 1960 »Five Years: thoughts during a useless time«. Anerkennung blieb ihm versagt, seine literarische Kraft verebbte, politische Veränderungen erschienen als Utopie.

Der Titel jedoch ist falsch. Goodmans Veröffentlichungen, seine Vorträge in kleinstem Kreise, seine Diskussionen, seine Unbeugsamkeit und sein schöpferisches Engagement – alles das war Teil der Vorbereitung auf das Aufbegehren der Jugend und vieler Bürger in den 1960 er Jahren.

Der...

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