Das deutsche Gesundheitswesen 2001 bis 2015 aus der Versichertenperspektive
Gerd Marstedt, Hartmut Reiners
Reformen im Gesundheitswesen als Daueraufgabe der Politik
Seit über 25 Jahren finden eine Reihe von Reformgesetzen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) statt, gemeinhin »Gesundheitsreformen« genannt. Es begann mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 21. Dezember 1988. Die damals verbreitete Vorstellung, man könne das Gesundheitswesen beziehungsweise die gesetzliche Krankenversicherung mit einer großen »Jahrhundertreform« (Norbert Blüm) in zwei oder drei Stufen nachhaltig verändern, hat sich als Illusion erwiesen. Das Gesundheitswesen ist ein sehr komplexer Wirtschaftszweig, in dem über fünf Millionen Menschen mehr als elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Davon werden knapp 80 Prozent öffentlich finanziert. Daher müssen Anpassungen an sich verändernde Anforderungen, die in anderen gesellschaftlichen Sektoren über den Markt ablaufen, von der Politik realisiert werden. Das führt zu einer im Prinzip unendlichen Kette von Rechtsänderungen nach dem Motto »Nach der Reform ist vor der Reform«.
Dabei handelt es sich um eine Mischung aus größeren Weichenstellungen und einem Nachjustieren der vorgegebenen Entwicklungspfade auf verschiedenen Steuerungsebenen. Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 bildete mit einer Organisationsreform der GKV die Grundlage für alle nachfolgenden Reformgesetze. Es beendete die noch im 19. Jahrhundert verhaftete Gliederung der GKV in Pflichtkassen für Arbeiter und Wahlkassen für Angestellte und führte ab 1996 die freie Wahl der Krankenkassen für alle Versicherungsberechtigten ein. Damit zog der Wettbewerb ins GKV-System ein, der durch einen bundesweiten Risikostrukturausgleich (RSA) flankiert wurde, welcher die Risikoselektion verhindern sollte. Daraus ergaben sich weitere Steuerungsprobleme, die in nachfolgenden Gesetzen angegangen wurden.
Ein weiterer Meilenstein war die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung mit dem Pflege-Versicherungsgesetz vom 24. Mai 1994, das seither in mehreren Gesetzen weiterentwickelt wurde. Allein in dem hier zur Diskussion stehenden Zeitraum seit dem Jahr 2001 wurden über 50 Bundesgesetze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung verabschiedet (Knieps und Reiners 2015: 321 ff.). Die wichtigsten Reformgesetze davon waren:
– Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. November 2003 führte den Grundsatz der evidenzbasierten Medizin als Kriterium für die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein und gab dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zeitliche Vorgaben für diese Prüfungen. Außerdem erhielten erstmals Medizinische Versorgungszentren (MVZ) mit angestellten Ärzten die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.
– Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. März 2007 führte den Gesundheitsfonds mit einem allgemeinen Beitragssatz ein, der für alle Krankenkassen gilt und gesetzlich festgelegt wird. Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds pro versicherte Person einen nach Alter, Geschlecht und Morbidität gewichteten Betrag. Kommt eine Krankenkasse mit dieser Zuweisung nicht aus, muss sie einen Zusatzbeitrag erheben.
– Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008 führte Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (z. B. Demenzkranke) und Pflegestützpunkte für das Fallmanagement ein.
– Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) vom 22. Dezember 2010 gab den Krankenkassen die Möglichkeit, mit den Herstellern neu zugelassener Medikamente in Preisverhandlungen zu treten, und baute die Rabattverträge der Kassen für Arzneimittel weiter aus.
Hinzu kommen Gesetze, die im Befragungszeitraum (2010 bis 2015) erst kurze Zeit Geltung hatten. Zu nennen sind das Erste Pflegestärkungsgesetz (PSG I) vom 17. Dezember 2014, das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) vom 22. Juli 2015 sowie mehrere im Oktober und November 2015 verabschiedete Gesetze (Krankenhausstrukturgesetz – KHSG, Pflegestärkungsgesetz II – PSG II, Hospiz- und Palliativgesetz – HPG).
Diese wachsende Regulierungsdichte ist nicht das Ergebnis von Politikversagen, sondern Konsequenz der komplizierten Strukturen des Gesundheitswesens (z. B. föderale Steuerung, Einfluss von Verbänden, Krankenkassen, Leistungserbringern), die für die meisten Bürger undurchschaubar bleiben. Diese interessieren sich eher für die persönlich spürbaren Auswirkungen der Gesundheitspolitik, weniger für deren meist nur Fachleuten zugänglichen Abläufe.
Dieser Beitrag geht den folgenden Fragestellungen nach und knüpft damit an eine frühere Veröffentlichung des Gesundheitsmonitors an (Braun und Gerlinger 2008):
– Gibt es im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten nennenswerte Veränderungen in den Urteilen der Bevölkerung? Wie gezeigt, wurden in diesem Zeitraum mehrere Gesundheitsreformen mit spürbaren Konsequenzen für Versicherte und Patienten verabschiedet. Die Frage ist, ob und wie sich diese Reformen in den Urteilen der Versicherten niederschlagen.
– Lassen sich markante Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen in der Beurteilung der Versorgungsstrukturen und Finanzierungsmodalitäten im Gesundheitssystem finden? Zeigen sich beispielsweise in der Bewertung der Versorgungsstrukturen signifikante Unterschiede zwischen chronisch Erkrankten und Gesunden, zwischen GKV- und PKV-Versicherten? Oder unterscheiden sich bei der Bewertung der Solidarprinzipien in der GKV die Versichertengruppen voneinander, etwa Alleinstehende von Gesunden, Besserverdiener von Jüngeren?
– Sind die Bewertungstendenzen für das Gesundheitssystem mit allgemeinen Wertorientierungen und Kenntnissen in der Bevölkerung verknüpft? Beeinflussen Kenntnisse über das Gesundheitswesen oder das System der Patientenrechte auch deren Bewertung? Welchen Einfluss haben Moralvorstellungen oder Gerechtigkeitsprinzipien auf die Bewertung von Solidarprinzipien in der gesetzlichen Krankenversicherung?
Die Grundlagen der Analysen bilden durchweg Befragungsergebnisse des Gesundheitsmonitors – für das Kapitel »Kontinuität und Veränderungen 2001 bis 2015« aus den Jahren 2001 bis 2015. Hier liegen den vorgestellten Befunden insgesamt 22 Datensätze mit jeweils über 1.500 Befragten im Alter von 18 bis 79 Jahren zugrunde. Die Datensätze sind repräsentativ hinsichtlich der Merkmale »Lebensalter«, »Geschlecht«, »Bildungsniveau« und »regionale Verteilung«. Da zwischen erster und letzter Erhebung rund 15 Jahre liegen, wurden für die Analyse im Kapitel »Einflussfaktoren und Gruppenunterschiede« nur Daten der Gesundheitsmonitor-Wellen 2010 bis 2015 verwendet, für einige spezielle Fragestellungen auch nur zwei Datensätze.
Kontinuität und Veränderungen 2001 bis 2015
Strukturreformen im Gesundheitswesen haben ein größeres Echo bei den Versicherten, wenn sie unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen haben. Das aber ist eher die Ausnahme als die Regel. Ein Beispiel ist das GKV-Modernisierungsgesetz aus dem Jahr 2003, das zwei wichtige Neuerungen brachte: ein effektiveres Verfahren zur Kosten-Nutzen-Beurteilung von medizinischen Innovationen sowie die Zulassung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) mit angestellten Ärzten zur vertragsärztlichen Versorgung.
Die Effekte dieser Neuerungen sind für die Patienten und Versicherten nicht direkt spürbar – im Unterschied zu der mit demselben Gesetz eingeführten Praxisgebühr und der Umstellung der Zahnersatzleistungen der Krankenkassen von einer Sachleistung zu einem Festzuschuss. Die Proteste gegen diese Leistungskürzungen übertönten das zudem auch nur verhaltene Lob der Fachwelt für die verbesserte Qualitätssicherung der von der GKV gebotenen medizinischen Leistungen. Bei den Bürgern erweckte zudem der in der Politik entfachte Streit über das Gesetz den Eindruck, das Gesundheitswesen sei marode. Das wiederholte sich beim GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das im März 2007 nach fast einjährigen Kontroversen in der damaligen Koalition aus Union und SPD verabschiedet wurde. Mittlerweile werden die Auseinandersetzungen über Gesundheitspolitik etwas moderater geführt, was sich in einer etwas besseren Beurteilung der Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens niederschlägt (Abbildung 1).
Diese empfindliche Reaktion der Bürger auf politische Kontroversen zeigt sich auch bei den Befürchtungen für die zukünftige Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung (Abbildung 2). Die Angst, keine ausreichende medizinische Versorgung im Alter zu haben, hatten Anfang der 2000er-Jahre auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte über einen angeblich nicht zu finanzierenden Sozialstaat fast 80 Prozent der Befragten. Die Quote liegt aktuell bei unter 40 Prozent, ein zwar immer noch hoher Wert, aber doch ein Indikator für eine...