Die hebräische Bibel
Wie die Werke von Homer, so spielt auch die hebräische Bibel (das Alte Testament) gegen Ende des 2. Jahrtausends v.u.Z., aber geschrieben wurde sie erst mehr als 500 Jahre später.[16] Im Gegensatz zu den Werken Homers wird die Bibel heute von Milliarden Menschen verehrt: Sie sehen in ihr die Quelle ihrer ethischen Werte. Die Bibel ist das meistverkaufte Buch der Welt, wurde in 3000 Sprachen übersetzt und liegt auf der ganzen Welt in den Nachttischen der Hotels. Orthodoxe Juden küssen sie mit ihrem Gebetsschal; Zeugen in amerikanischen Gerichtshöfen legen ihre Hand darauf, wenn sie einen Eid schwören. Selbst der Präsident berührt eine Bibel, wenn er den Amtseid ablegt. Aber trotz all dieser Verehrung ist die Bibel ein einziges langes Loblied der Gewalt.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Bei einer Weltbevölkerung von genau vier Menschen ergibt das eine Mordquote von 25 Prozent, ungefähr das Tausendfache der entsprechenden Quoten in den heutigen westlichen Demokratien.
Die Vermehrung der Menschen begann erst, als Gott zu dem Schluss gelangt war, dass sie Sünder sind und dass Völkermord die einzig angemessene Bestrafung ist. (In einem Sketch von Bill Cosby wird Noah von einem Nachbarn um eine Erklärung gebeten, warum er die Arche baut. Darauf erwidert Noah: »Wie lange kannst du auf Wasser laufen?«) Als die Flut zurückgeht, erteilt Gott dem Noah seine moralische Lektion, den Kodex der Blutrache: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.«
Die nächste wichtige Figur in der Bibel ist Abraham, der spirituelle Urvater von Juden, Christen und Muslimen. Abraham hat einen Neffen namens Lot, der sich in Sodom niedergelassen hat. Da die Bewohner dieser Stadt sich mit Analsex und ähnlichen Sünden vergnügen, verbrennt Gott alle Männer, Frauen und Kinder mit himmlischem Napalm. Auch Lots Frau wird für das Verbrechen, sich umzudrehen und einen Blick auf das Inferno zu werfen, zum Tode verurteilt.
Abrahams moralische Werte werden auf den Prüfstand gestellt, als Gott ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak auf einen Berggipfel zu bringen, zu fesseln, ihm die Kehle durchzuschneiden und die Leiche als Geschenk für den Herrn zu verbrennen. Isaak wird nur deshalb verschont, weil ein Engel im letzten Augenblick die Hand seines Vaters festhält. Jahrtausendelang rätselten die Leser über der Frage, warum Gott auf dieser entsetzlichen Prüfung bestand. Nach einer Interpretation griff Gott nicht deshalb ein, weil Abraham die Prüfung bestanden hätte, sondern weil er durchgefallen war, aber das ist anachronistisch: Gehorsam gegenüber göttlicher Autorität und nicht Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben war die Kardinaltugend.
Isaaks Sohn Jakob hat eine Tochter namens Dina. Diese wird gekidnappt und vergewaltigt, was damals offenbar die übliche Form der Brautwerbung war: Die Familie des Vergewaltigers bietet an, Dina ihrer Familie abzukaufen und dem Vergewaltiger zur Frau zu geben. Darauf erklären Dinas Brüder, dieser Transaktion stehe ein wichtiges moralisches Prinzip im Weg: Der Vergewaltiger ist nicht beschnitten. Also machen sie ein Gegenangebot: Wenn alle Männer in der Stadt sich die Vorhaut abschneiden, ist Dina die Ihre. Während die Männer mit blutenden Penissen außer Gefecht gesetzt sind, dringen die Brüder in die Stadt ein, plündern und zerstören sie, ermorden die Männer und nehmen Frauen und Kinder mit. Als Jakob sich Sorgen macht, die Nachbarstämme könnten aus Rache zum Angriff übergehen, erklären die Söhne, das Risiko habe sich gelohnt: »Durfte er unsere Schwester denn wie eine Hure behandeln?«[17] Wenig später bekräftigen sie erneut ihr Engagement für die familiären Werte, indem sie ihren Bruder Joseph in die Sklaverei verkaufen.
Jakobs Nachkommen, die Israeliten, gelangen schließlich nach Ägypten und werden für den Geschmack des Pharao zu zahlreich. Also versklavt er sie und befiehlt, alle Jungen gleich nach der Geburt umzubringen. Moses entgeht dem Massenmord an den Kindern – er wächst heran und fordert vom Pharao, dieser solle sein Volk ziehen lassen. Aber obwohl Gott, der doch allmächtig ist, das Herz des Pharao hätte erweichen können, macht er es stattdessen nur härter; das verschafft ihm den Grund, alle Ägypter mit schmerzhaften Pusteln und anderen Leiden zu schlagen, bevor er nun ihre erstgeborenen Söhne tötet. (Das Wort Pessach – engl. Passover – ist eine Anspielung auf den Todesengel, der an den Häusern mit hebräischen Erstgeborenen vorübergeht.) Auf diesen Massenmord lässt Gott einen zweiten folgen, als er die ägyptische Armee, die den Israeliten durch das Rote Meer folgt, ertränkt.
Die Israeliten versammeln sich am Berg Sinai und hören die Zehn Gebote, jenen großen Moralkodex, der in Stein gehauene Bilder und das Begehren von Haustieren verbietet, aber einen Freibrief für Sklaverei, Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Völkermord benachbarter Stämme ausstellt. Als die Israeliten darauf warten, dass Moses mit einem erweiterten Gesetzeswerk zurückkehrt, welches die Todesstrafe für Gotteslästerung, Homosexualität, Ehebruch, Widerspruch gegen die Eltern und Arbeit am Sabbat vorschreibt, werden sie ungeduldig. Um sich die Zeit zu vertreiben, formen sie die Statue eines Kalbes und beten sie an; auch dafür ist die Strafe – wie könnte es anders sein – der Tod. Auf Gottes Befehl töten Moses und sein Bruder Aaron insgesamt 3000 Gefährten.
Anschließend verwendet Gott sieben Kapitel des 3. Buchs Mose darauf, den Israeliten Anweisungen für die Schlachtung jenes stetigen Stromes von Tieren zu geben, die er von ihnen fordert. Aaron und seine beiden Söhne bereiten die Stiftshütte für das Opfer vor, aber die Söhne vertun sich und benutzen das falsche Räucherwerk; daraufhin lässt Gott sie verbrennen.
Als die Israeliten weiter in Richtung des gelobten Landes ziehen, treffen sie auf die Midianiter. Auf Gottes Befehl erschlagen sie die Männer, verbrennen ihre Stadt, plündern die Viehbestände und nehmen sowohl die Frauen als auch die Kinder gefangen. Als sie zu Moses zurückkommen, ist er empört: Sie haben die Frauen verschont, obwohl manche von ihnen die Israeliten verführt haben, Konkurrenzgötter anzubeten. Also befiehlt er seinen Soldaten, den Völkermord zu vollenden und sich mit den heiratsfähigen Sexsklaven zu belohnen, die sie nach ihrem Gutdünken vergewaltigen dürfen: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.«[18]
In den Kapiteln 20 und 21 des 5. Buchs Mose stellt Gott den Israeliten einen Freibrief für den Umgang mit Städten aus, die ihre Herrschaft nicht anerkennen: Zerschmettert die Männer mit des Schwertes Schneide und entführt Kühe, Frauen und Kinder. Natürlich steht der Mann mit einer hübschen neuen Gefangenen vor einem Problem: Da er gerade die Eltern und Brüder der jungen Frau erschlagen hat, ist sie vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für die Liebe. Gott sieht diese Beeinträchtigung voraus und bietet folgende Lösung an: Der Sieger sollte ihr den Kopf rasieren, die Fingernägel schneiden und sie einen Monat in seinem Haus einsperren, während sie sich die Augen ausweint. Dann kann er hineingehen und sie vergewaltigen.
Bei einer Liste genau benannter anderer Feinde (Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter) muss der Völkermord vollständig ausgeführt werden: »Du sollst nicht leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken … wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat.«[19]
Diese Anordnung setzt Josua in die Tat um: Er besetzt Kanaan und zerstört die Stadt Jericho. Nachdem die Stadtmauern zusammengestürzt sind, »vollstreckten [seine Soldaten] den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln«.[20] Und es bleibt noch mehr verbrannte Erde zurück: »So schlug Josua das ganze Land auf dem Gebirge und im Süden und im Hügelland und an den Abhängen mit allen seinen Königen und ließ niemand übrig und vollstreckte den Bann an allem, was Odem hatte, wie der Herr, der Gott Israels, befohlen hatte.«[21]
Die nächste Phase in der Geschichte der Israeliten ist das Zeitalter der Richter, das heißt der Stammeshäuptlinge. Der berühmteste unter ihnen, Samson, begründet seinen Ruf dadurch, dass er während seiner Hochzeitsfeier 30 Männer umbringen lässt, weil er ihre Kleidung braucht, um damit seine Wettschulden zu begleichen. Dann metzelt er 1000 Philister nieder und setzt ihre Felder in Brand, um Rache für den Mord an seiner Frau und ihrem Vater zu nehmen, und nachdem er der Gefangennahme entgangen ist, tötet er noch einmal 1000 mit dem...