1. EINLEITUNG - Menschenopfer eingeplant
Antje Bultmann/Andrea Surkus
„Das 20. Jahrhundert ist das erste, in dem die Gattungsfrage, das heißt die Frage nach den Weiterlebenschancen der Menschheit, allgemein und unüberhörbar gestellt wird.“ -
Carl Amery
„Ich will wissen, für wen ich ein Restrisiko bin!“ -
Sönke Rehr1
Gewinne um jeden Preis
In den USA wurde in den siebziger Jahren in Konkurrenz zum deutschen VW Käfer ein Kleinwagen gebaut und äußerst knapp kalkuliert. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass der Tank fehlerhaft konstruiert war und bei Zusammenstößen leicht explodierte. Der Hersteller berechnete, dass die Behebung der Schwachstelle pro Auto elf Dollar kosten würde. Gutachter der Firma stellten fest, dass es sie billiger käme, die Schadensersatzkosten der 180 tödlich Verunglückten pro Jahr zu übernehmen, anstatt alle Wagen nachzurüsten. Bis 1977 wurden fast 20 Millionen Wagen verkauft. Als Folge der Fehlkonstruktion starben jedoch statt der prognostizierten 720 Fälle in vier Jahren 9000 Menschen.2
In den letzten Jahrzehnten zeichnet es sich immer deutlicher ab: Fortschritt, Technologie und Wirtschaftswachstum fordern ihre Opfer. In einer Grauzone zwischen Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unwissenheit werden die Menschen immer neuen Risiken ausgesetzt. Erheben sich Einwände, kommt das Argument: „Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in Gefahr.“ Die Neigung unserer Gesellschaft, Risiken zu vermeiden, bedrohe den technologischen Fortschritt, heißt es.
Dennoch muss es diese Technikkritik geben. Eine offene und ehrliche Diskussion ist notwendiger denn je. Wissenschaftliche Forschung und komplizierte moderne Technologien greifen immer öfter in elementare Menschenrechte ein. Sie unterhöhlen die Grundlagen des Lebens: Als „Nebenwirkungen“ verändern sich Erbgut, Fruchtbarkeit, Intelligenz, Psyche, Lebensqualität und Gesundheit. Viele Menschen sehen nur einzelne Schadenswirkungen, blicken nur in ihren eigenen Hinterhof. Die Gesamtbedrohung wird verkannt, ignoriert oder geleugnet.
Heilige Kuh: „Wirtschaftsstandort Deutschland“
Der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ wird heute als heilige Kuh glorifiziert. Wer den leisesten Ansatz macht, die Wachstumsgläubigkeit durch eine dauerhafte und für die Zukunft gesicherte nachhaltige Wirtschaftsweise ersetzen zu wollen, wird als Technikfeind ins Reich der Outsider verwiesen. Gewinnmaximierung und schnelle Bedürfnisbefriedigung sind das Gebot der Stunde. Unternehmer- und Politikerkreise setzen sich damit gegenüber einer langfristigen Wirtschaftsweise durch, die ökonomische und ökologische Aspekte miteinander verbindet und den Bedürfnissen der kommenden Generationen Rechnung trägt.
Die Möglichkeit des Menschen, heute bereits in die Keimbahn eingreifen zu können, verleitet zu Selbstüberschätzung und Arroganz. Ist tatsächlich der achte Schöpfungstag angebrochen, wie mancherorts behauptet wird? Jürgen Rüttgers, Zukunftsminister unter der Regierung Helmut Kohl - im Namen seines Amtes eigentlich dazu verpflichtet, in seine Entscheidungen vorausschauend auch künftige Generationen miteinzubeziehen -, will Deutschland zum Biotechnologiestandort Nummer eins machen. Nur die Brüsseler Vorschriften stünden dem noch im Weg, so der Minister. Deutschland sei ein guter Standort für Gentechnik. Eine Begründung gibt zu denken: In Deutschland bestünde im Gegensatz zu den USA eine Höchstgrenze für Haftungspflichten. Für Schäden, die darüber hinausgehen, komme der Steuerzahler auf.3 Soll das heißen, dass vor allem Unternehmen, deren Forschung ein hohes Risikopotential in sich trägt, in Deutschland ihr Eldorado finden?
Eine solche Politik steuert in die falsche Richtung. In der Zukunft geht es nicht um immer höheren monetären Wohlstand, (was ohnehin nicht machbar ist), sondern mehr Gerechtigkeit und einen höheren qualitativen Wohlstand für alle. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst weltweit. Es ist absurd, wenn heute 358 Milliardäre fast ebenso viel besitzen wie die Hälfte der Menschheit, wie im Jahresreport des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) nachzulesen ist.4
Alles und bitte sofort
Moderne Technik lässt sich nicht gänzlich verteufeln. Ohne Kino und Fernsehen, ohne Auto, Computer, ohne elektrische Haushaltsgeräte kann man sich das Leben kaum noch vorstellen. So geht es in diesem Buch nicht um die Ablehnung jeder Technik, sondern um deren lebensfeindliche Auswüchse. Es geht auch nicht um simple Schwarz-Weißmalerei. Im Kapitalismus gerät die Kritik an dem, was sich technischer Fortschritt nennt, allerdings oftmals zu kurz. Fortschritt kann nie so verstanden werden, dass er sich gegen das Leben richtet. Wir haben es fertiggebracht, zum Mond zu fliegen, also müsste es auch möglich sein, eine lebensfreundliche Technik zu entwickeln - eine Technik, die mit Natur und Mensch weitgehend harmoniert. Jose Lutzenberger, Träger des alternativen Nobelpreises und ehemaliger Umweltminister von Brasilien, befasst sich in diesem Buch mit dem Scheinfortschritt (siehe S. 51).
Die Vision der unbegrenzten Machbarkeit und die Vorstellung vom ständigen Wirtschaftswachstum verdrängen in der Gesellschaft die Sensibilität für Entscheidungen, bei denen es um Lebensrisiken geht. Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, steigt. Der Mensch wird Teil einer Technologie. Er wird zunehmend - auch bedingt durch die scharfe Konkurrenz - auf dem Markt zur Ware, in Versicherungspolicen zum Kostenfaktor. Mathematische Größen machen vergessen, dass sich hinter ihnen Kinder, Mütter und Väter, junge und alte Menschen verbergen, die ihre Gesundheit und Lebensqualität der Konsumgesellschaft unfreiwillig opfern. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt. Entscheidungen für oder gegen Technologien werden allzu oft nur unter dem Gesichtspunkt der Gewinnoptimierung gefällt. Betroffene Minderheiten werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Der Mensch wird reduziert auf einen Kostenfaktor, Leben gegen Geld aufgerechnet.
Wieviel Euro ist ein Menschenleben wert?
Plötzlich ist die Frage erlaubt, ob von einer bestimmten Kostengrenze an der Schutz des Lebens überhaupt noch ökonomisch zu rechtfertigen sei. Wieviel Euro ist ein Menschenleben wert?
In der Wirtschaftswoche hat Brigitte Wettwer sich mit solchen Berechnungen auseinandergesetzt. Ob es sich denn lohne, für den Kampf gegen die Rinderseuche in Europa viele Milliarden Euro auszugeben, wenn nicht einmal sicher sei, wie viele Menschen dadurch überhaupt gerettet werden könnten? Nach ihrer Meinung ist die Reaktion in Europa auf die Rinderseuche Massenhysterie. „Wann sind die Kosten für den Verbraucherschutz noch zu rechtfertigen?“, fragt sie.
Umgerechnet knapp 0,9 Millionen Euro setzten die Ökonomen des britischen Verkehrsministeriums für jeden Inselbürger bei der Projektplanung an. Das ist die Summe, die dem Land durch dessen Tod entsteht. Sie berechnet sich nach dem Sozialprodukt und den Leistungen, die das Opfer im Rest seines Lebens erarbeitet hätte. Davon wird sein Konsum abgezogen. Diese Summe wird wiederum dem gegenübergestellt, was für jedes gerettete Leben ausgegeben wird. „Je leerer die öffentlichen Kassen werden, desto weniger kann das Argument überzeugen, ein gerettetes Menschenleben sei jeden Preis der Welt wert“, so das Fazit Wettwers in der Wirtschaftswoche. Ihre Meinung: In Wohlstandsstaaten sei irgendwann der Punkt erreicht, an den zusätzlichen Risikoreduzierungen nur noch für astronomische Summen zu haben seien.5 Um Kostenberechnungen von Menschenleben geht es auch in dem Beitrag von Christoph Bals von „German Watch“ (siehe S. 134).
Natürlich kann für ein Menschenleben nicht jedes Geld der Welt ausgegeben werden, auch wenn es jedes Geld der Welt wert ist. Wettwer macht es sich allerdings zu leicht, wenn sie auf die ethische Problematik solcher Berechnungen erst gar nicht eingeht, sondern sie a priori als notwendig hinstellt. Ihre Denkweise wird allein durch marktwirtschaftliche Gesichtspunkte bestimmt. Auch in einer kapitalistischen Gesellschaft kann der Mensch jedoch nicht einseitig als Humankapital betrachtet werden. Das mündet in einen Sozialdarwinismus, der das „Survival of the Fittest and Richest“ propagiert.
Dieser eine bin ich nicht
Während die Sorge um das eigene Leben individuell eine zentrale Rolle spielt, wird in vielen Fällen - ohne nachzudenken - wie selbstverständlich über das Leben anderer Menschen bestimmt. Manche Experten sprechen inzwischen davon, dass die Gesellschaft bereit sei, eine neue Technologie zu akzeptieren, wenn sie nicht mehr als einen Toten auf 10.000 Menschen im Jahr fordere. Andere nehmen sogar ein Risiko von 4:10.000 in Kauf - beides aus dem Hut gezogene Zahlen. Jeder Versuch, dieses Risiko, sprich: mögliche Todesfälle, als sozial und zivilisatorisch adäquat zu verkaufen, ist in höchstem Maße fragwürdig, auch wenn es „nur“ in Form von Zahlen hinter dem Komma geschieht. Menschenopfer dergestalt etablieren und juristisch legitimieren zu wollen widerspricht unserem Grundgesetz. Die Problematik wird jedoch verdrängt, weil viele Menschen sich damit nicht belasten wollen und denken: „Dieser eine bin ich nicht.“
Vom Schreibtisch aus ebnen Wissenschaftler, Ingenieure, Manager und Gutachter den Weg dafür, Risiken wie Atomkraft, das weltweite Gefährdungspotential durch Chemie und Elektrosmog, lückenhafte Emissions- und Wasserverordnungen, Staudämme, Flussbegradigungen etc. einzugehen. Solange sie nur über ihre eigene Lebensqualität und ihre Gesundheit bestimmen, kann niemand etwas dagegen...