VORWORT
Verantwortung in einer wissenschaftlich technischen Welt
Werner Buckel
Die Forderung nach verantwortlichem Handeln und Beispiele von Verantwortungslosigkeit sind wohl so alt wie die Menschheit. Dabei konnte verantwortungsloses Handeln immer schon schweres Leid über Einzelne und ganze Gemeinschaften bringen. In unserer Zeit, im 20. Jahrhundert, hat sich durch die explosionsartige Entwicklung der Naturwissenschaften und der darauf fußenden Technik eine neue Qualität ergeben. Am eindringlichsten wird diese neue Dimension in der Möglichkeit deutlich, die uns die moderne Kerntechnik gibt. Damit ist dem Menschen eine Macht in die Hand gegeben, wie er sie nie zuvor zur Verfügung hatte. Die Atombomben demonstrieren diese Macht. Mit den vorhandenen Vorräten kann unsere schöne Erde mehrfach völlig unbewohnbar gemacht werden. wie wir diese Macht benutzen, liegt nur bei uns.
Heute erschließt die moderne Gentechnologie der Biologie und Medizin unvorstellbare Möglichkeiten. Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Dr. Wolfgang Frühwald, schreibt in einem Vorwort zu der jüngst erschienenen Denkschrift Forschungsfreiheit: „Das in Jahrmillionen entstandene Erbmaterial des Lebens auf dieser Erde (steht) der Wissenschaft im Prinzip zur freien Disposition.“ Wer könnte da noch behaupten, dass die Wissenschaftler, die uns diese Macht gegeben haben, nicht auch in besonderem Maße für den humanen Umgang mit dieser Macht verantwortlich sind.
Die Flut von Publikationen, die zahlreichen Gründungen von Ethikkommissionen und die vielen Diskussionen zeigen, dass das Problem erkannt ist. Die Konsequenzen jedoch, die aus dieser Erkenntnis gezogen werden, sind leider noch sehr gering. Wir haben erkannt, dass wir uns eine ungeheure Macht über die Natur angeeignet haben, aber wir haben noch nicht gelernt, mit der Macht nur positiv umzugehen. Wenn die drohenden Katastrophen deutlich sichtbar werden, so besteht die Hoffnung, dass man sie von allen Seiten zu verhindern suchen wird. Das hat uns wohl während des „Kalten Krieges“ vor der Vernichtung unseres Planeten bewahrt.
Wenn aber die Folgen unseres Handelns nicht so klar durchschaubar sind und wenn diese Folgen insbesondere erst auf einer Zeitskala von Generationen wirksam werden, wie das zum Beispiel beim Klimaproblem der Fall sein kann, so ist die Bereitschaft zum verantwortlichen Handeln sehr viel geringer. Kurzfristige Ziele, wie .Wirtschaftswachstum, erhalten Priorität. Das CO2-Problem ist ein überzeugendes Beispiel für dieses Ausweichen in die Verantwortungslosigkeit. Trotz aller Beschlüsse und Beteuerungen auf Weltklimakonferenzen wird deutlich, dass nicht genügend konsequent, das heißt genügend verantwortungsvoll, gehandelt wird, um die festgelegten Ziele zu erreichen.
Es ist wohl eine menschliche Eigenschaft, Anstrengungen, vielleicht sogar Opfer, zur Verhinderung einer Katastrophe nicht auf sich zu nehmen, wenn die mögliche Gefahr erst in etwas weiterer Zukunft droht. Man flüchtet sich zu leicht in die Ausrede: „Es wird schon nicht so schlimm kommen.“
Diese Verdrängung von Verantwortung findet leider auf allen Ebenen statt, nicht nur bei den globalen Problemen. Wie verantwortungslos, ja kriminell, wird häufig mit gefährlichem Sondermüll umgegangen. Wie verantwortungslos verschmutzen wir unsere Böden und damit unser Grundwasser durch Überdüngung.
Was aber kann man gegen dieses verantwortungslose Handeln tun? Der Einzelne fühlt sich häufig hilflos. Nicht selten muss er auch ernste Nachteile befürchten, wenn er gegen verantwortungsloses Handeln, etwa seiner Vorgesetzten, protestiert. Findet ein Ingenieur oder Wissenschaftler den Mut, die Öffentlichkeit über Tatsachen zu informieren, die von seiner Regierung geheim gehalten werden - erwähnt seien nur die Falle Mordechai Vanunu (siehe S. 159) und Vil Mirzajanov (siehe S. 168) -, so muss er mit schwerwiegenden Folgen rechnen. Dabei haben solche Menschen ihrem Gewissen entsprechend gehandelt und der Gesellschaft einen Dienst erwiesen.
Wir brauchen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der solches Handeln als ehrenvoll anerkannt wird. Zur Schaffung dieser Atmosphäre kann jeder Einzelne durch sein Verhalten beitragen. Wo immer wir von Fällen hören, in denen Einzelne verantwortungsvoll gehandelt haben, sollten wir dies öffentlich begrüßen. Wir sollten in unserem Bekanntenkreis für diese Menschen engagiert eintreten. Verantwortungsloses Handeln sollten wir ebenso engagiert und öffentlich verurteilen. Dies wäre ein Beitrag zur Veränderung der Atmosphäre.
Es muss aber sehr sorgfältig darauf geachtet werden, da es sich bei den betrachteten Fällen um wirkliche Gewissensentscheidungen handelt. Oft ist das nicht leicht sichtbar. Viele Handlungsweisen können unter verschiedenen Aspekten gesehen werden. Oft hängt ein Urteil darüber, ob ein Verhalten als verantwortungsvoll oder verantwortungslos bezeichnet werden muss, von den Bedingungen ab, unter denen es geschah.
Ein besonders eindringliches Beispiel für diese Schwierigkeit der Beurteilung stellt das Manhattan-Projekt dar. Haben die Wissenschaftler, die im Zweiten Weltkrieg in Amerika die Atombombe entwickelten, verantwortungslos gehandelt? Ich glaube, dass man das nicht sagen kann. Joseph Rotblat, der zusammen mit der Pugwash-Bewegung 1995 den Friedensnobelpreis erhielt, beschreibt die Situation in diesem Buch (siehe S. 329). Die Wissenschaftler wussten nicht, wie weit die Deutschen mit dem Bau einer Atombombe eventuell waren. Sie waren aber zutiefst überzeugt, dass die Nationalsozialisten nicht als Erste in den Besitz dieser schrecklichen Waffe kommen durften. Nachdem wir heute alle Verbrechen dieses Regimes erfahren haben, können wir ermessen, wie Recht die Wissenschaftler hatten. Unrecht hatten sie aber in ihrem Glauben, dass man diese Waffe kontrollieren könne.
Hier waren sie naiv. Kaum war das schreckliche Mordwerkzeug entwickelt, wurde es auch eingesetzt - gegen den Willen der Mehrheit der Wissenschaftler, wie Rotblat als glaubwürdiger Zeuge berichtet.
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Sind Otto Hahn und sein Mitarbeiter Straßmann für die Existenz der Atombombe verantwortlich? Otto Hahn hat den Rest seines Lebens darunter gelitten, dass seine Untersuchungen zur Uranspaltung zu dieser schrecklichen Waffe geführt haben. Trotzdem wäre es absurd, Otto Hahn für die Atombombe verantwortlich zu machen. Er konnte bei seinen Untersuchungen nicht ahnen, was er finden würde. Es war die allgemeine Lehrmeinung aller damaligen Physiker, dass das Uran bei Beschuss mit Neu-tronen allenfalls kleine Bausteine, wie Protonen oder Teilchen (Heliumkerne), aussenden könne. Ein Zerfall in zwei etwa gleich große Bruchstücke galt allgemein als unmöglich. Erste Versuche schienen aber gerade diesen Zerfall zu
zeigen. Otto Hahn war ein exzellenter Radiochemiker. Auch er konnte seinen Ergebnissen zunächst nicht glauben und wiederholte die Experimente mit großer Sorgfalt. Schließlich war klar, dass wirklich ein Zerfall in zwei etwa gleich große Bruchstücke unter Aussenden von einigen Neutronen stattfand. Damit war die wissenschaftliche Grundlage für den Bau von Kernreaktoren, aber eben auch der Atombombe, bekannt.
Ich habe dieses Beispiel etwas ausführlich behandelt, weil manchmal gefordert wird, die wissenschaftliche Forschung einzustellen, wenn aus den Ergebnissen der Forschung negative Folgen für die Menschheit zu befürchten sind. Forschung, die diesen Namen verdient, stößt grundsätzlich in Neuland vor. Der Forscher kann nicht mit Sicherheit vorhersagen, was er finden wird. In jedem Fall erhofft er sich neues Wissen über die Welt, in der wir leben. Dieses Wissen wird uns aber in aller Regel zusätzliche Macht geben - Macht, die in positivem und meist auch in negativem Sinn verwendet werden kann.
Verbote von Forschung können - von krassen Fällen abgesehen, etwa der Erforschung und Entwicklung von Gift- oder Nervengasen - unser Problem nicht lösen. Wir müssen lernen, unsere Macht richtig zu gebrauchen. Sie hat ja auch sehr viel Gutes bewirkt. Ohne diese Macht, die uns die Wissenschaft und die Technik gegeben hat, könnten auf unserer Erde die fünf Milliarden Menschen wohl nicht leben. Das sollte man auch nie vergessen.
Zur Verhinderung von negativen Folgen scheint es mir besonders wichtig, die Öffentlichkeit vorbehaltlos über erkanntes unverantwortliches Fehlverhalten zu informieren. Ebenso vorbehaltlos sollten mögliche negative Folgen von Forschungsergebnissen der Öffentlichkeit bekanntgemacht werden. Sie müssen öffentlich diskutiert werden, um Mittel und Wege zu finden, sie zu verhindern. Die Diskussion möglicher negativer Folgen wird bei uns jedoch sehr oft vermieden. Bringt man sie zur Sprache, so wird man rasch zum Fortschrittsfeind erklärt. Nicht selten geschieht dies, weil die Wissenschaftler schädliche Folgen für die Finanzierung der Forschung befürchten, wenn zu viel von möglichen negativen Entwicklungen geredet wird. Dagegen könnte, nach meiner Meinung, gerade das Gegenteil eintreten. Die rückhaltlose, öffentliche Diskussion der positiven wie der möglichen negativen Folgen wissenschaftlicher Ergebnisse könnte der Wissenschaft das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen, das sie immer mehr verliert.
Ein aktuelles Beispiel soll das erläutern. Die Gentechnik wird von vielen als bedrohlich empfunden. Das ist verständlich, wenn man die Möglichkeiten bedenkt, die der eingangs zitierte Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit bewundernswerter Klarheit dargelegt hat. Es steht außer Zweifel, dass die Wissenschaft in Zukunft aus der genetischen Information eines Menschen bedrohliche Entwicklungen in dessen Leben wird...