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Die Grundlage jeder Seelsorge – auch der Seelsorge an der eigenen Person – ist ihr Menschenverständnis. In diesem Kapitel geht es daher darum, ein ganzheitliches Menschenbild zu beschreiben, wie es die Bibel zeigt. Leib, Seele, Geist: Woher kommen Störungen? Wie kann man sie verhindern? Ein Fazit: Die Störungen, unter denen Christen oft leiden, liegen nicht am Glauben, sondern an menschlichen Normen in der christlichen Gemeinschaft.
Kapitel 2
Menschenbilder – Wie wir uns und andere sehen
Peter ist 18 und geht auf das Abitur zu. Ein wenig ängstlich, wie er ist, will er ganz sichergehen, dass die Prüfungen gelingen, und arbeitet fleißig. Trotzdem kommt er ein paar Tage vor den schriftlichen Prüfungen in Panik zur Seelsorge: Er habe nicht regelmäßig genug seine Stille Zeit gemacht und befürchte nun, dass Gott ihn durch die Prüfung rasseln lässt… Die Angstzustände werden schlimmer, Peter wird krankgeschrieben und hat nun schon panische Angst vor dem nächsten Prüfungstermin.
Judy Funke ist an Leukämie erkrankt. Mit 25 Jahren und zwei kleinen Kindern ist das einfach furchtbar für sie und ihre Familie und Freunde. In der Gemeinde wird viel für sie gebetet, und die Verzweiflung ist groß, als die Blutwerte trotzdem immer schlechter werden. Judy stirbt nach einer mehrjährigen Leidenszeit, Knochenmarktransplantationen, Krankenhaus, entsetzlichen Schmerzen. Doch: Die Krankenschwestern berichten erstaunt, Judy habe bis in die letzten Momente hinein eine unglaublich freundliche Ausstrahlung gehabt, irgendwie sei sie getrost und geborgen gewesen und in Frieden mit sich und Gott gestorben. Sie habe viel von ihrer Liebe zu Jesus gesprochen.
Nach Judys Tod schließen sich zwei der Krankenschwestern, die sie gepflegt haben, einer christlichen Gemeinde an. Bei der Beerdigung singt die Gemeinde in Anspielung auf ihren Namen: »Ein Funke, kaum zu seh’n, entfacht doch helle Flammen …«
Ich habe Judy nicht erfunden, sie war eine Freundin. Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen, ihre Kinder sind erwachsen, auch sie sind Christen und alles deutet darauf hin, dass sie gesund sind und ihr Leben meistern. Und auch Peter gibt es wirklich, und das leider x-mal in verschiedenen Variationen.
Wie kann es sein, dass der Glaube an einen lebendigen Gott bei dem einen solche zerstörerische Kraft entwickelt und bei einem anderen zu einer übermenschlichen Stärke im Umgang mit Leid führt? Liegt es überhaupt am Glauben oder ist Peter einfach emotional labil und Judy stabil? Sind Unterschiede womöglich gar erblich – also körperlich – bedingt?
Letztlich kann man diese Fragen nicht beantworten. Aber wir tun manchmal so, als könnten wir ganz sicher wissen, wie sich der Glaube auf Denken und Fühlen, auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt; ich bin da gerne vorsichtig: Es hat immer alles mit allem etwas zu tun – aber wie ganz genau und in welchem Maß, das wissen wir oft nicht. Und was dabei Wirkung und was Ursache ist, ist auch so eine Sache: Bei genauer Betrachtung zeigt sich meistens, dass die Wirkung auch Ursache ist und die Ursache Wirkung.
Wie hängt Glaube mit seelischer und körperlicher Gesundheit zusammen?
In der Einleitung habe ich bereits zwei extreme Positionen dargestellt: Auf der einen Seite ist die Sicht von Freud und mancher seiner Anhänger, die fest davon überzeugt sind, dass religiös gläubige Menschen seelisch nicht gesund sein können. Für sie ist Gott ein Fantasieprodukt der gestörten Seele, eine Projektion unserer enttäuschten Vaterwünsche, kurz, eine Krücke, die mehr am Gehen hindert als es ermöglicht. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sagen, eine Störung im Wohlbefinden könne es bei einem Menschen, der wirklich richtig gläubig ist, eigentlich nicht geben – erst recht keine psychische Störung, geschweige denn Beziehungsstörungen, Probleme in der Erziehung oder Ähnliches. Wenn es nach diesen Christen geht, haben solche Probleme immer etwas mit dem Verstoß gegen göttliche Ordnungen (also Sünde) oder mangelndem Glauben zu tun. Im Extremfall lehnen sie medizinische Behandlung ab: »Wenn Gott mir eine Krankheit zumutet, dann muss ich sie erdulden« oder: »Wenn ich wirklich ganz auf Gott vertraue, dann wird er mich heilen.«
Beide Positionen finden sich bei fast jedem Christen abgeschwächt und manchmal nur etwas vorsichtig verborgen geäußert wieder.
Vielleicht haben Sie auch von anderen Christen schon einmal Sätze gehört wie: »Ja, wissen Sie, dass muss man verstehen, der ist sooo zwanghaft, aber der hat halt ein unheimlich frommes Elternhaus« oder: »Sie kommt aus einer gaaanz frommen Gemeinde – kein Wunder, dass sie depressiv ist.« Der Begriff »fromm« wird dabei nicht in seiner eigentlichen Bedeutung gebraucht, sondern im Sinne von engstirnig, stur, in Traditionen und Formen verhaftet, gesetzlich, einfach stockkonservativ bis zur Bewegungsunfähigkeit. Die Tatsache, dass wir einen Begriff, der eigentlich die im Alltag gelebte Nähe zu Jesus Christus beschreibt, so negativ belegt haben, zeigt übrigens, dass auch unter Christen das Freud’sche Misstrauen gegenüber dem Glauben recht verbreitet ist.
Auch die andere Position kennen wir, z. B. wenn man sich fragt: »Was will Gott mir mit dieser Krankheit sagen?« oder, in der Umkehrung, wenn es einem gut geht: »Der Herr hat uns reich gesegnet.«
Beiden Positionen kann ich auch leicht etwas Wahres abgewinnen: es ist ja wahr, dass unsere Gottesbilder wenigstens zu einem Teil Projektionen unserer Elternbilder sind, oder etwa nicht? Finden Sie in Ihrem Gottesbild nicht Papa und Mama wieder? Hat sich Ihr Gottesbild in den letzten zehn Jahren etwa nicht geändert, im Gleichklang mit Ihrer seelischen Reifung und Weiterentwicklung? Wahrscheinlich schon. Hoffentlich ist Ihr Gottesbild nicht fixiert und statisch – auch wenn Gott immer derselbe bleibt! In der Beobachtung unserer eigenen Vergangenheit erleben wir, dass wir uns unsere religiösen Überzeugungen doch auch ein Stück weit selbst zurechtschneidern und damit seelische Konflikte vermeiden, dass also auch unser persönlicher Glaube als Krücke in der Alltagsbewältigung herhalten muss. Aber wir erleben den Glauben auch als wirkliche Hilfe, z.B. als Trost oder Mutmacher. – Wenn es uns schlecht geht, beten wir um Besserung und erwarten von Gott, dass er eingreift und sich in unserem Leben zeigt. Und wir fragen nach dem Sinn einer Krankheit oder Lebenskrise in der Erwartung, dass Gott die Krise beendet, wenn wir seine Botschaft verstanden haben. Und wir danken ihm dafür, wenn es gutgegangen ist.
Nur zeigen uns die alltägliche Erfahrung wie auch die Berichte der Bibel, dass frommen Leuten schlimme Dinge passieren – und dass irgendwelche gottlosen Typen einen Sechser im Lotto ziehen. Nicht wenige Christen glauben daher »öffentlich«, dass Gott mit seinen Menschen Gutes im Sinn hat, und »privat«, dass man ihm wohl doch nicht so recht trauen kann.
Manche Christen lösen das Problem so, dass sie Glaube und Körper ganz und gar getrennt voneinander sehen, dafür aber Psyche und Glaube in eine Schublade werfen. Sie haben ein dualistisches Menschenbild und unterscheiden nur zwischen zwei Bereichen: Körper und Geist. Dabei gehören zum Bereich des Geistes alle ideellen Aspekte, so unterschiedliche Dinge wie Glaube, Seele und Psyche, prägende Erziehungserfahrungen und Beziehungsstrukturen – eben alles, was nicht materiell ist. Oft geht eine solche Zweiteilung mit dem mehr oder weniger ausgeprägten Denken einher, der materielle (körperliche) Bereich interessiere Gott nicht sonderlich, dagegen sei alles, was nicht mit Materie zu tun habe, ausschließlich seine Angelegenheit und der Mensch habe da nicht hineinzupfuschen. Also eine Einteilung Materie = irdische Welt, Ideelles = göttliche Welt. Und nichts dazwischen. Mit dem Körper geht man zum Arzt, mit der Seele zum Seelsorger – wobei hier Seelsorge als etwas verstanden wird, was sich nur geistlichen Themen widmet. Oft ist diese dualistische Einstellung mit einer ziemlichen Geringschätzung aller körperlichen Seiten verbunden: Der Körper wird als mehr oder weniger lästiges Gestell erlebt, auf dem man seine Seele aufhängt wie Kleider auf dem Ständer.
Und die Bibel?
Im Menschenbild der Bibel wird der Mensch als eine untrennbare Einheit von Geist, Psyche und Leib gesehen. Sehr deutlich wird z. B. im Segenswunsch des 1. Thessalonicherbriefes auf die Ganzheitlichkeit Bezug genommen: »… auf dass ihr untadelig und unversehrt bewahrt bleibt an Geist samt Seele und Leib …«(Kapitel 5,23).
Etwas kompliziert wird die ganze Sache dadurch, dass auch in der Bibel diese Begriffe nicht immer nur in einer einzigen Bedeutung gebraucht werden, so findet sich der Begriff »Seele« an manchen Stellen auch als Bezeichnung für den ganzen Menschen in all seinen Bezügen (wie auch in der deutschen Sprache, wo die Einwohner eines Dorfes mit »300 Seelen« auch körperlich und psychisch existieren). Also rede ich in Zukunft von »Psyche« (dem griechischen Wort für Seele), wenn ich die psychischen Aspekte meine: Denken, Fühlen, Beziehungen, Erziehung, Lebensgeschichte usw. Mit »Geist« meine ich dagegen den spirituellen Aspekt des Menschen.
Sehen wir uns diese drei Aspekte einmal etwas genauer in Bezug auf ihre Bedeutung für die seelische Gesundheit an:
Jeder Mensch ist Geist – das heißt: Menschen haben geistliche Aspekte und Bedürfnisse, die ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit beeinflussen, die zur Schaffung und Lösung von Problemen beitragen können. Ob es Fragen der Schuld sind, die einen Menschen belasten, oder das...