Renate Menger, 1937
Frühe Begegnungen
Mein Glaube an Gott ist Leben mit einem verborgenen Gegenüber. Ich erzähle, wie ich ihm als Kind begegnet bin. Es war für mich nicht nur wichtig, wer er ist, sondern auch, wie er ist. Das ist mein Weg mit ihm.
Mein Zuhause war ein Dorf mit Tieren und Ställen in Südhessen. In einer Scheune schaute ich zu, wie die Katzen furchtlos über den schmalen Dachbalken spazierten. Aber wir Kinder? Hier konnte man sich die Angst vor der Tiefe abgewöhnen.
Wir standen in unseren schweren Schuhen zu dritt dort oben, ich als die Grösste war in der Mitte und hielt an jeder Hand einen der Zwillinge, ganz fest. Und gleich wollten wir springen – aber die Angst hielt eines von uns zurück.
Was machen? Beten? Gesagt, getan. Aus drei Mündern tönte es: „Müde bin ich, geh’ zur Ruh’, schliesse beide Äuglein zu“. Doch, doch, ich meinte es ernst. Was hätte ich anderes beten sollen? Ich kannte kein anderes Gebet. Und ich hatte grosse Angst, zumal ich die Kleinen zu diesem Abenteuer anstiftete. Beten, beide Äuglein schliessen und springen – das war mein Ernst.
Sechs schwer beschuhte Füsse flogen uns um die Köpfe. Wir landeten lachend im Heu, ich rieche es heute noch. Beim nächsten Mal war die Angst schon kleiner.
Glaubenslieder
Es war ein heisser Tag. Ich war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt. Die Schulstunde fand im Freien unter den blühenden Linden statt, etwas ganz Aussergewöhnliches. Ich musste sehr gut hinhören, damit ich die Lehrerin verstand. Draussen tönt Unterricht anders. Es muss eine meiner ersten Religionsstunden gewesen sein.
„Weil ich Jesu Schäflein bin“, ein Kinderlied: Die Lehrerin sprach es uns langsam vor. Ich sog den Text in mich auf. Im Nu hatte ich ihn auswendig gelernt. Noch heute ist mir die Stimmung, die mich damals erfüllte, gegenwärtig. In mir blühte grosse Freude auf. So schöne Bilder! Für mich als Landkind ganz nachvollziehbar, sah ich doch oft die Hirten, die ihre Schafherden auf den Rheinauen weideten.
Dieses Lied habe ich nach Hause gebracht. Ich ging in die kühle Stube, die Fensterläden waren noch angelehnt. Ich zog einen Stuhl ans Fenster, kniete drauf und stützte mich auf die Fensterbank. „Weil ich Jesu Schäflein bin“ – ich sang es lauthals aus den leicht angelehnten Fensterläden hinaus. Nicht nur einmal. Ich sang es den heimkehrenden Fuhrwerken zu, den Leuten, die vom Bäcker kamen mit einem Brotlaib unterm Arm. Ich sang es aus lauter Freude einfach solange weiter, bis unsre Mutter uns zum Mittagstisch rief.
Winterabende
Gegen Ende 1945 fand man sich an den Abenden oft in der Stube der Grosseltern ein: Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins. Die jungen Männer kamen, nachdem sie das Vieh gefüttert hatten. Sie waren – bis auf einen – aus dem Krieg heimgekehrt. Es war gemütlich, ich ging gern mit meinem Vater dorthin. Es duftete nach Bratäpfeln. Ich war die Jüngste in der Runde. Ich spielte mit Knöpfen, die ich in die kleinen Karos der grün bedruckten Wachstischdecke legte, während die Grossen plauderten: Was gibt es Neues im Ort? Wie geht’s dem lieben Vieh? Wie fiel die Ernte aus? Und natürlich das unerschöpfliche Thema: „Beim Barras“ (bezeichnet in der Soldatensprache das Militär).
Als ich lange genug mit den Knöpfen gespielt hatte, bettelte ich: „Grossvater, hast du kein Bilderbuch für mich?“
„Wir haben doch keine Bilderbücher mehr!“
Er brachte mir aber die grosse, alte Bibel. Ich blätterte darin und fand den neunzigsten Psalm. Den las ich so, wie eine Achtjährige eben liest: Langsam, halblaut. Der Anfang gefiel mir: Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Das hat mir Eindruck gemacht. Die Worte wurden wie Bilder. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre.
Alte Menschen kannte ich ja, bis ich selbst siebzig oder achtzig wäre, würde es noch sehr lange dauern.
Damals entschloss ich mich, diesen Psalm auswendig zu lernen, auch wenn ich vieles nicht verstand. Warum? Ich weiss es nicht. Immer, wenn ich mit dem Vater zu den Grosseltern gehen durfte, las und lernte ich in diesem Psalm weiter.
Inzwischen bin ich achtzig Jahre alt. Heute kommen mir diese Worte wie ein Vermächtnis ins Herz: Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang – so lautet der 14. Vers desselben Psalms. Ich danke Gott, dass er mich schon so früh in meinem Leben hineingenommen hat in sein Geheimnis. Erahnen konnte ich es damals noch nicht.
Adam und Eva – und Fragen über Fragen
An einem Sonntag nach dem Kindergottesdienst, ich war um die acht oder neun Jahre alt, kam ich auf den Gedanken, in der Bibel zu lesen. Es gab auch bei uns zu Hause keine grosse Auswahl an Büchern: einige Bilderbücher, das Gesangbuch, die Bibel und irgendwo versteckt „Mein Kampf“ und ein Ehebuch.
Ich begann auf der ersten Seite des Bibelbuches: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.
Es war so spannend, diese Geschichte weckte Frage um Frage in mir. Aber da war niemand, dem ich sie hätte stellen können. Ich las laut weiter und weiter.
Und Gott sprach, das war das immer wiederkehrende Wort. Zu wem sprach Gott? Wer hat es gehört? Oh, war das ein Märchen? Gott setzte zwei Menschen in einen wunderbaren Garten. Alles, was sie brauchten, war da. Aber es gab eine Ausnahme: Vom Baum der Erkenntnis sollten sie nicht essen. Warum nicht? Was war das für ein geheimnisvoller Baum? – Dann die Drohung: An dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben. Furchtbar! Hat das eine Hexe gesagt? Noch mehr Fragen.
Und dann kam die Geschichte mit der Schlange. Sie machte mir richtig Angst. Die Schlange konnte reden: „Eva, du kannst doch von diesem Baum essen.“ Gleich lief Eva zu dem Baum und holte sich eine wunderschöne Frucht und brachte auch dem Adam davon.
Und Gott sagte zu der Frau: Warum hast du das getan?!
Gott und die Schlange, diese zwei gehören doch nicht zusammen! Ich spüre heute noch meine damalige Aufregung: Die Schlange muss weg! Was hat sie in dem schönen Garten zu suchen? Warum gehört den beiden Menschen nicht alles?
Und weil sie etwas Verbotenes taten, sollten sie aus dem Paradiesgarten hinausgetrieben werden? Es kommt noch schlimmer: Verflucht ist der Acker deinetwegen. Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang, Dornen und Disteln soll er dir tragen, sagt Gott zu Adam.
Die Disteln kannte ich. Sie wuchsen auf den Feldern und auch in unserem Garten. Dort war ich oft mit meiner Mutter, um Unkraut zu jäten. Bei der Gartenarbeit schrie ich einmal meiner Mutter zu: „Warum hat Gott die Menschen nicht so gemacht, dass sie einfach immer folgen? Ich bin doch nicht schuld! Wegen diesen beiden Menschen müssen wir alle sterben!“ Ich stellte mir oft vor, was wäre, wenn Eva und Adam Gott gehorcht hätten. Und wieder war niemand da, den ich fragen konnte.
In einer alten Bilderbibel* begegnete ich einem Holzstich „Die Austreibung aus dem Garten Eden“. Ein schlimmes Bild! Eva, gekrümmt, ein strenger Engel mit einem Schwert hinter ihr. Die Hand des Engels liegt schwer auf Evas Rücken. So wird sie aus dem schönen Paradies ausgestossen. Engel sind doch liebe Engel, warum tun sie das? Eva tat mir schrecklich leid.
Gott, „der liebe Gott“, straft seitdem – warum?
Wer hätte meine Fragen hören wollen? Ich blieb mit ihnen allein, und mit einer grossen Leere und Traurigkeit.
Diese Geschichte ging mit mir ins Leben und prägte sich tief in meiner Seele ein: Ist Gott gut?
Erst nach vielen Jahrzehnten gewann ich den Mut zu fragen, um in einem helfenden Gespräch der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Gott braucht das „Wort“ der Bildsprache, er will sich uns so nähern, wie anders könnten wir seine Schöpfung erahnen? Für mich entstand in jenem Erkennen ein neuer Pflanztrieb des Glaubens. Heute kann ich sagen, Gott gab mich dieser Verlorenheit nicht preis. Er schützte mich in der Unwissenheit. Das Trauma des jungen Kindes wurde überwunden.
Die Geschichten sind nachzulesen in 1. Mose, Kap. 1 bis 3
Wichtiger als Flötenstunden
Unsre neue Gemeindehelferin und Organistin hielt ihren ersten Jugendkreisabend. Ihre Vorgängerin hatte mir Flötenunterricht erteilt. Ich nahm mir vor, sie nach dem Abend zu fragen, ob sie Fortsetzung machen würde. Ich ging scheu auf sie zu und stellte meine Frage. Ich bekam keine befriedigende Antwort: Es gebe doch Wichtigeres als Flötenstunden. Wortlos sass ich da. Am liebsten wäre ich weggelaufen. Was sollte wichtiger sein?
Sie sprach vom „Zum Glauben kommen“. Glaubte ich denn nicht? Eben erst war ich konfirmiert...