Jacob, ein Mitglied unserer Gemeinde, erzählte mir vor Kurzem: „Ich bin seit einundzwanzig Jahren Christ. Doch anstatt ein einundzwanzigjähriger Christ zu sein, war ich bis jetzt einundzwanzig Jahre lang ein einjähriger Christ! Ich habe einfach nie aufgehört, immer wieder die gleichen Dinge zu tun.“
Während Angela erklärte, warum sie seit über fünf Jahren keine Gemeinde mehr besucht hatte, fragte sie mich: „Warum sind viele Christen als Menschen so kümmerlich?“
Ron, der Bruder eines Mitglieds unseres Hauskreises, lachte laut auf, als er das Thema meines Buches hörte: „Emotional gesunde Spiritualität? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?“
Unser Problem hat damit zu tun, dass wir biblische Wahrheit falsch anwenden und damit nicht nur unsere engsten Beziehungen schädigen, sondern auch Gott bei seiner Arbeit behindern. Er möchte uns nachhaltig verändern – und zwar auch in den Tiefenschichten unterhalb der Spitze des Eisbergs, der unser Leben darstellt.
Die zehn häufigsten Symptome einer emotional ungesunden Spiritualität
Der Weg für ein geistliches Lebens, wie ich ihn später noch beschreiben werde, ist radikal. Das kann bedeuten, dass es an die Wurzeln unseres bisherigen Verständnisses von Nachfolge Jesu geht. Hier und da ein paar Zweige zurechtzustutzen, indem wir zum Beispiel an einer Einkehrfreizeit teilnehmen oder in einem ohnehin schon übervollen Leben noch zwei neue geistliche Übungen etablieren, wird nicht ausreichen.
Bevor ich diesen Weg erläutere, ist es jedoch wichtig, die häufigsten Symptome zu identifizieren, die eine emotional ungesunde Spiritualität kennzeichnen und die in unserem persönlichen Leben und in unseren Gemeinden Unheil anrichten. Die folgenden zehn Symptome zeigen an, ob jemand an einem schweren Fall von emotional ungesunder Spiritualität leidet:
1. Gott benutzen, um vor Gott zu fliehen
2. Gefühle wie Wut, Traurigkeit und Angst ignorieren
3. Den falschen Dingen absterben
4. Die Auswirkungen der Vergangenheit auf das Heute leugnen
5. Das Leben in „säkulare“ und „heilige“ Bereiche aufteilen
6. Etwas für Gott tun, statt mit ihm zu leben
7. Konflikte geistlich übertünchen
8. Gebrochenheit, Schwachheit und Versagen bemänteln
9. Ohne Grenzen leben
10. Über die geistliche Entwicklung anderer urteilen
1. Gott benutzen, um vor Gott zu fliehen
Kaum ein Killervirus ist schwerer zu erkennen als dieser. Oberflächlich betrachtet scheint alles in Ordnung. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die vielen Stunden, die man sich in ein christliches Buch nach dem anderen versenkt … die vielen christlichen Aufgaben, die uns aus dem Haus treiben, oder die Seminare, die wir eins nach dem anderen besuchen … die vielen Fleißstunden im Gebet oder beim Bibelstudium. … Manchmal sind diese christlichen Aktivitäten der unbewusste Versuch, dem Schmerz zu entfliehen.
In meinem Fall benütze ich immer dann Gott für eine Flucht vor Gott, wenn ich mich in eine Menge „frommer Aktivitäten“ stürze und damit schwierige Bereiche in meinem Leben ignoriere, die Gott verändern möchte. Hier einige Beispiele:
• Wenn ich für Gottes Sache arbeite, um mir selbst zu gefallen und nicht ihm.
• Wenn ich in seinem Namen Dinge tue, um die er mich nie gebeten hat.
• Wenn es in meinen Gebeten nur darum geht, dass Gott meinen Willen tut, anstatt mich ihm zu überlassen.
• Wenn ich „christliches Verhalten“ an den Tag lege, damit wichtige Menschen gut über mich denken.
• Wenn ich mich auf bestimmte theologische Punkte konzentriere („Aber sorgt dafür, dass alles anständig und ordentlich vor sich geht.“ 1. Korinther 14,40), in denen es mehr um meine eigenen Ängste und unbewältigten Anliegen geht, als um den Wunsch nach Gottes Wahrheit.
• Wenn ich seine Wahrheit dazu missbrauche, über andere zu urteilen und sie abzuwerten.
• Wenn ich sage: „Der Herr hat mir gesagt, dass ich das tun soll“, wenn es in Wahrheit heißen müsste: „Ich denke, der Herr hat mir gesagt, dass ich das tun soll.“
• Wenn ich die Bibel dazu verwende, um die Sünde in meiner Familie, meiner Kultur oder Nation zu rechtfertigen, anstatt mein Werturteil unter seiner Herrschaft zu bilden.
• Wenn ich mich hinter frommem Gerede verstecke und mich damit dagegen wehre, meine inneren Brüche zu beleuchten, und mein eigenes Versagen herunterspiele.
• Wenn ich biblische Wahrheiten nur selektiv anwende und zwar dann, wenn sie meinen Absichten dienen, auf der anderen Seite aber Situationen vermeide, die mich dazu zwingen würden, mein Leben einschneidend zu verändern.
Ein Beispiel: John verwendet Gott dazu, um seine extremen Einstellungen zu allen möglichen Dingen zu rechtfertigen, sei es die angemessene Rocklänge im Gottesdienst, seien es Politiker, Geschlechterrollen oder seine Unfähigkeit, mit nichtchristlichen Kollegen am Arbeitsplatz zu verhandeln. Er hört nicht zu und überprüft auch nicht die unzähligen Vorurteile, die er sich über andere gebildet hat. Seine Freunde, seine Familie und seine Kollegen finden ihn nicht vertrauenswürdig und sogar herablassend.
In der Konsequenz überzeugt John sich davon, dass er auf der rechten Spur ist, indem er bestimmte Bibelverse falsch anwendet: „Natürlich muss mich dieser Mensch hassen“, redet er sich ein. „Jeder, der tut, was Gott will, wird auf Widerstand stoßen.“ Letztendlich benutzt er aber Gott, um vor Gott davonzulaufen.
2. Gefühle wie Wut, Traurigkeit und Angst ignorieren
Viele Christen sind davon überzeugt, dass Wut, Traurigkeit und Angst Sünden sind, die man vermeiden muss, weil sie ein Zeichen dafür sind, dass mit unserem geistlichen Leben etwas nicht stimmt. Wut ist gefährlich und eine Lieblosigkeit gegenüber anderen. Traurigkeit offenbart mangelnden Glauben an die Verheißungen Gottes. Depression ist ganz sicher ein Zeichen für ein Leben, das weit entfernt ist vom Willen Gottes! Und Angst? Die Bibel ist voll von dem Gebot: „Fürchtet euch nicht.“
Was tun wir also? Wir versuchen eine trügerische Zuversicht in uns zu schaffen, um diese Gefühle zu vertreiben. Wir zitieren die Bibel, wir beten die Worte der Bibel, wir lernen Bibelverse auswendig – wir tun alles, um nur nicht von diesen Gefühlen überwältigt zu werden.
Wie den meisten Christen ist auch mir beigebracht worden, dass so gut wie jedes Gefühl unzuverlässig ist. Gefühle verändern sich schnell, und sie sollten in unserem geistlichen Leben am besten keine Rolle spielen. Es stimmt zwar: Es gibt Christen, die das gegenteilige Extrem leben und ihren Gefühlen auf eine Art und Weise folgen, die ungesund und unbiblisch ist. Viel häufiger kommt es dagegen vor, dass man auf Christen trifft, die meinen, sie dürften nicht zu ihren Gefühlen stehen oder sie nicht offen zum Ausdruck bringen. Das gilt vor allem für die „schwierigeren“ Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Scham, Wut, Verletzungen und Schmerz.
Wie viele Christen habe auch ich gelernt: Gefühle sind unzuverlässig. Im geistlichen Leben sollten sie keine Rolle spielen.
Doch wie kann ich auf das hören, was Gott mir sagt, und mir ein Urteil darüber bilden, was in mir vorgeht, wenn ich derart eingesperrt bin?
Gefühle machen uns zu Menschen. Wenn wir unsere Gefühle abwerten oder leugnen, dann schaffen wir ein Zerrbild dessen, was es heißt, das Ebenbild eines persönlichen Gottes zu sein. In dem Maße, in dem wir unfähig sind, unsere Gefühle zum Ausdruck zu bringen, bleibt auch unsere Fähigkeit beeinträchtigt, Gott, andere und uns selbst wirklich zu lieben. Schließen wir unsere Gefühle aus unserem geistlichen Leben aus, dann schneiden wir damit einen Teil unserer Menschlichkeit ab.
Um mir selbst zu bestätigen, was ich fälschlicherweise über Gott und meine Gefühle dachte, berief ich mich auf das folgende bekannte Modell1:
Ich glaubte, ich könnte mein geistliches Leben ins richtige Gleis bringen, indem ich mit der Lokomotive anfing, die von den Fakten gesteuert wurde – von dem, was Gott in der Bibel sagt. Wenn ich beispielsweise wütend war, musste ich zunächst bei den Fakten beginnen: „Warum bist du wütend, Pete? Zugegeben, dieser Mensch hat dich angelogen und betrogen. Aber Gott sitzt auf dem Thron. Auch Jesus wurde angelogen und betrogen. Hör also auf, dich zu ärgern.“
Nachdem ich mir so die Fakten – die Wahrheit von Gott – klargemacht hatte, wandte ich mich meinem Glauben zu – dem Aspekt meines Willens. War ich entschlossen, meinen Glauben auf den Fakten aus dem Wort Gottes aufzubauen? Oder wollte ich meinen Gefühlen und „fleischlichen“ Gelüsten folgen, denen ich nicht vertrauen konnte?
Am Ende des Zuges befanden sich die billigen Plätze und das, worauf man sich nur zuallerletzt verlassen sollte – meine Gefühle. „Pete, verlass dich unter keinen...