[25]2 Der Glaukomschaden
Wie bereits in der Einleitung gesagt, müssen wir zwischen dem Glaukomschaden und den Risikofaktoren, die zu diesem Schaden führen können, klar unterscheiden.
2.1 Phänomenologie des Glaukomschadens
Die Phänomenologie beschreibt zunächst einmal das Erscheinungsbild eines Schadens, ganz unabhängig von seiner Ursache [phainomenon gri Erscheinungsbild]. Beim Glaukomschaden lassen sich zwei phänomenologische Aspekte beschreiben: Ein morphologischer und ein funktioneller. Zum morphologischen Aspekt: Die Morphologie beschreibt in diesem Zusammenhang die am Sehnervenkopf sichtbaren Formveränderungen, nämlich seine Aushöhlung (siehe Kap. E 1) [morphae gri Form/logos gri Lehre]. Die funktionellen Veränderungen beschreiben die Ausfälle der Sehfunktion, beim Glaukom stehen natürlich die Gesichtsfelddefekte im Vordergrund. Entsprechend wichtig ist für den Augenarzt die Betrachtung des Sehnervenkopfes und die Gesichtsfelduntersuchung.
2.1.1 Der Nervenfaserverlust beim Glaukom
Wie bereits erwähnt, gehen beim Glaukom Nervenzellen der Netzhaut mitsamt ihren Nervenfasern zugrunde, die Verbindung zwischen Auge und Gehirn wird unterbrochen. In der Abbildung 1.2 haben wir den Verlauf der Nervenfasern schematisch gesehen, nun betrachten wir ihn einmal als Fotografie. Da Nervenfasern durchsichtig sind, sind sie auf einem normalen Farbfoto kaum sichtbar (Abb. 2.1). Zur Erstellung der Abbildungen 2.2 und 2.3 haben wir uns eines Tricks bedient und die Fotografie im rotfreien Licht durchgeführt. Jetzt lassen sich die Fasern mehr oder weniger erahnen. Abbildung 2.2 zeigt die Nervenfasern eines Gesunden, Abbildung 2.3 die Nervenfaserschicht eines Glaukompatienten.
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Abb. 2.1: Foto des Augenhintergrundes: Die Nervenfasern sind kaum sichtbar.
Abb. 2.2: Foto des Augenhintergrundes: Einige Nervenfasern sind rot eingezeichnet.
Abb. 2.3: Dieses im rotfreien Licht aufgenommene Fundusfoto zeigt einen Nervenfaserbündelausfall (*).
Jedes Auge ist mit etwa einer Million Nervenfasern mit dem Gehirn verbunden. Die Nervenfasern verlaufen fächerförmig in der Netzhautoberfläche, sammeln sich in der Papille und verlassen dann als Sehnerv das Auge. Auch beim Gesunden gehen im Laufe des Lebens Nervenfasern im Rahmen des natürlichen Alterungsprozesses verloren. Beim Glaukompatienten ist dieser Faseruntergang mehr oder weniger stark beschleunigt, er läuft quasi im Zeitraffer ab.
2.1.2 Der glaukomatöse Gewebeschwund
Ein Gewebeschwund wird auch als Atrophie bezeichnet. Atrophie bedeutet im eigentlichen Sinne nichts anderes als «nicht ernährt» [trophein gri ernähren]. Unter einer Papillenatrophie verstehen wir ein teilweises oder gänzliches Absterben der Nervenfasern, die durch den Sehnervenkopf verlaufen.
[27]Eine Papillenatrophie kann neben dem Glaukom auch völlig andere Ursachen haben: Sie kann z.B. entstehen, wenn der Sehnerv bei einem Unfall durchtrennt wird oder kann bei Vitaminmangelerkrankungen und bei bestimmten Erbkrankheiten auftreten. Wir sprechen dann von einer blanden (einfachen) Papillenatrophie.
Im Folgenden möchten wir kurz aufzeigen, worin sich die blande Papillenatrophie von der glaukomatösen Papillenatrophie unterscheidet. Abbildung 2.4 zeigt einen normalen Papillenbefund, Abbildung 2.5 eine Papille mit blander Atrophie und Abbildung 2.6 eine glaukomatöse Papillenatrophie. Links haben wir jeweils ein Foto einer «lebenden» Papille, und in der Mitte jeweils ein entsprechendes Foto von einem Leichenauge angeordnet. Warum ein Leichenauge? Da die Netzhaut am Toten nicht mehr durchblutet ist, ist sie [28]nicht mehr durchsichtig und kann besser betrachtet werden. Jetzt leuchten die gelben Areale (= gelber Fleck) besonders auf, denn der Rotton des Hintergrundes fehlt. Ganz rechts finden Sie einen histologischen Schnitt durch die Papille [histion gri Gewebe]. In der Histologie wird ein speziell vorbereitetes Gewebe in sehr dünne Scheiben geschnitten und kann dann unter einem Mikroskop betrachtet werden. Das Gewebe kann auch zusätzlich mit verschiedenen Farbstoffen angefärbt werden, wenn man zum Beispiel in einem Mischgewebe bestimmte Strukturen besser sichtbar machen möchte. So färbt sich beispielsweise Nervengewebe anders an als Muskelgewebe, in Gewebe eingelagerter Zucker stellt sich anders dar als Fett usw. Eine blande Papillenatrophie ist also charakterisiert durch den Verlust von Nervenfasern aber, im Gegensatz zum Glaukom, ohne gleichzeitigen Verlust der anderen Gewebeanteile der Papille.
Abb. 2.4: Normale Papille: Links am Gesunden, in der Mitte an einem Leichenauge, rechts im histologischen Schnitt.
Abb. 2.5: Blande Atrophie der Papille: Links an einem Patientenauge, in der Mitte an einem Leichenauge, rechts im histologischen Schnitt.
Abb. 2.6: Glaukomatöse Papillenatrophie: Links an einem Patientenauge, in der Mitte an einem Leichenauge, rechts im histologischen Schnitt.
Abb. 2.7: Am Exkavationsrand erscheinen die Blutgefäße wie abgeknickt (→).
Abb. 2.8: Kleine Blutung am Papillenrand (→).
Abb. 2.9: Peripapilläre Aderhautatrophie (→).
[29]Glaukomatöse Papillenatrophie zeigt folgende Charakteristika:
• An der Papille kommt es zu einer ganz typischen Aushöhlung, der sog. Exkavation. Hierbei gehen nicht nur die Nervenfasern, sondern auch das Stützgewebe und die Blutgefäße weitgehend verloren, und darunter liegende Strukturen, wie die sog. Lamina cribrosa, werden nach hinten ausgebuchtet. Dies ist ein Prozess, der meist sehr langsam, innerhalb von Jahren oder Jahrzehnten, abläuft.
• Fakultativ kann es zur Abknickung von Blutgefäßen im Exkavationsbereich (Abb. 2.7), zur lokalen Einengung der Blutgefäße, zu kleinen Papillenrandblutungen (Abb. 2.8) und zu peripapillärer Aderhautatrophie kommen [peri gri um, herum] (Abb. 2.9), d.h. es kommt unter Umständen auch zum Gewebeschwund um die Papille herum. Die Sinneszellen und die Pigmentepithelzellen (siehe Kap. E 1) in der unmittelbaren Nachbarschaft der Papille können ebenfalls absterben.
2.1.3 Die Funktionsausfälle beim Glaukom
Wenn Nervenfasern absterben, ist es nicht verwunderlich, dass dies zu entsprechenden Sehstörungen beim Betroffenen führt. Erstaunlich aber ist die Tatsache, dass relativ viele Fasern absterben können, bevor die Ausfälle auch subjektiv wahrgenommen werden. Das Sehen ist ein sehr komplexer Vorgang, der viele verschiedene Aspekte beinhaltet, wie z.B. räumliches Auflösungsvermögen, Farbsinn, Bewegungswahrnehmung usw. Alle diese Funktionen können beim Glaukompatienten gestört sein. Relativ früh treten Farbsinnstörungen, Kontrastsinnstörungen und eine gestörte Anpassung an Dunkelheit (Dunkeladaptation) auf. Da dies sehr langsam vor sich geht, werden die Veränderungen zunächst vom Patienten nicht bemerkt. Im späteren Stadium kann eine vermehrte Blendungsempfindlichkeit auftreten, welche vom Patienten z.T. als sehr unangenehm empfunden wird.
Am häufigsten aber sind die Ausfälle im Gesichtsfeld. Das Gesichtsfeld ist der Raum, den ein fixierendes (also ein sich nicht bewegendes) Auge um sich herum wahrnimmt. Ausfälle in diesem Raum [30]nennt man auch Skotome (Abb. 2.10). Es befinden sich sozusagen «Löcher» im Gesichtsfeld. Wir unterscheiden ein absolutes und ein relatives Skotom. Beim absoluten Skotom liegt ein kompletter Ausfall in einem Teil des Gesichtsfeldes vor, beim relativen Skotom ist die Wahrnehmung im Bereich des Skotoms lediglich vermindert, aber noch nicht ganz ausgefallen (Abb. 2.11). Die Skotome nimmt der Patient meist nicht wahr. So wie der Gesunde seinen blinden Fleck nicht sieht, so bemerkt auch der Glaukompatient, wie bereits erwähnt, seine Ausfälle nicht oder erst sehr spät. Noch einmal muss man sich die Tatsache vergegenwärtigen, dass die Sehschärfe auch bei ausgedehnten Gesichtsfeldausfällen noch normal sein kann. Eine in einem [31]normalen Sehtest ermittelte 100-prozentige Sehschärfe bedeutet deswegen keineswegs, dass der Patient auch normal sieht. Ein Glaukompatient mit ausgedehnten Gesichtsfelddefekten kann unter Umständen noch kleinste Schriften problemlos lesen oder zum Beispiel die Zeit an einer Kirchturmuhr ohne Mühe erkennen.
Abb. 2.10: Gesichtsfeld eines Glaukompatienten: Die schwarzen Areale zeigen die Skotome.
Abb. 2.11: Gesichtsfeld eines Glaukompatienten mit beginnenden relativen Skotomen.
Abb. 2.12: Gesichtsfeld eines Glaukompatienten mit mittelschwerem Schaden.
Abb. 2.13: Gesichtsfeld eines Glaukompatienten mit weit fortgeschrittenem Schaden.
Abbildung 2.12 zeigt einen mittleren, Abbildung 2.13 einen schweren Gesichtsfeldausfall. Wenn es Sie interessiert, wie Gesichtsfelder gemessen und ausgewertet werden, können Sie Ergänzungskapitel 10 lesen. Auch in Kapitel 6.5 werden wir die Gesichtsfeldausfälle noch ausführlich besprechen.
2.2 Wie entsteht ein Glaukomschaden?
Der Glaukomschaden ist definiert als Untergang von Nervenzellen und der von ihnen ausgehenden Nervenfasern, die im Sehnerv zur Sehrinde ziehen. Zusätzlich kommt es zu einem Umbau und teilweise auch Verlust des Stützgewebes in der Netzhaut, im Sehnerven, vor allem aber im...