Einleitung
Es war an einem verregneten Sonntag in Zürich vor zwölf Jahren. Remo Largo und ich wollten eine gemeinsame Lesung über die Entwicklung eines Kindes vom Säugling zum Kleinkind vorbereiten, seinen Erläuterungen über die Besonderheiten der kindlichen Entwicklung sollten meine mütterlichen Reflexionen gegenüberstehen. Videosequenzen über wackelige Krabbelversuche und den Triumph der ersten Schritte wurden gesichtet sowie Dias über die ungebremste Forscherlust von Zweijährigen aus Remos reichem Bilderfundus hervorgekramt. Dann, noch bevor wir uns mit den Einzelheiten des Programms auseinandersetzen konnten, platzte es in einer Mischung aus Verzweiflung und eiserner Haltung aus mir heraus.
»Wir haben uns getrennt!«
Ich hatte mir vorgenommen, das Gespräch auf meine persönliche Situation zu lenken – allerdings erst nach getaner Arbeit und zu angemessener Zeit. Würde Remo Largo, Entwicklungsspezialist und feinfühliger Kenner der Kinderseele, mir vielleicht sagen können, was nun aus meiner damals dreijährigen Tochter werden wird? Diese Frage lastete schwer auf meinen Schultern.
»Wenn ihr als Eltern die Bedürfnisse eurer Tochter weiterhin ausreichend abdeckt und es euch selbst nach der Trennung gut geht, wird nichts passieren«, sagte er.
Meine Tochter war mit nach Zürich gereist. Sie war früh aufgestanden, die ganze Autofahrt über hellwach geblieben und erst kurz vor Zürich eingeschlafen. Wenn sie allerdings einmal schlief, war sie kaum zu wecken, und so hielt ich mein schlummerndes Mädchen im Arm, während ich redete.
»Du meinst, sie würde keinen Schaden nehmen, wenn wir uns trennten und schließlich auch scheiden lassen würden?« Ich war einigermaßen erstaunt. »Wahrscheinlich meinst du, der Schaden ließe sich begrenzen, könnte – gemessen an dem Schaden, den unglückliche, sich ewig streitende Eheleute anrichten – vielleicht sogar das kleinere Übel sein? Aber kein Schaden?«
»Trennung und Scheidung sind für die Eltern sehr schmerzhafte Erfahrungen. Aber für das Kind muss eine Trennung nicht zu einer unvermeidlichen und vor allem langfristigen Tragödie werden. Im besten Fall wird das Kind in seinem Wohlbefinden gar nicht oder nur vorübergehend beeinträchtigt. Es erlebt die Trennung dann als negativ, wenn es nicht mehr ausreichend betreut wird, seine Grundbedürfnisse nicht mehr wie bisher befriedigt werden oder das Kind unter den negativen Gefühlen und dem Streit zwischen den Eltern leidet.«
Das saß. Ich hatte schon etliche Bücher zum Thema durchgepflügt, mich auf mein Wissen als Pädagogin konzentriert, aber eine derart radikale Antwort hatte ich bisher nicht gefunden. Stattdessen wurden Schuldgefühle geschürt. »Scheidungskinder machen in der Schule Schwierigkeiten.« »Sie verlieren einen Elternteil und dann auch noch den anderen, wenn er sich wieder verliebt.« »Sie wollen um jeden Preis, dass ihre Eltern wieder zusammenfinden.« »Als Erwachsene sind sie weniger bindungsfähig.« Und nun also das: kein bleibendes Trauma? Keine Kindheit zweiter Klasse? Sondern eine Kindheit wie jede andere? Möglicherweise sogar eine glückliche Kindheit? Darüber wollte ich mehr erfahren, herausfinden, worauf es dabei ankommt, und diese Erfahrungen schließlich mit anderen Menschen teilen. Zwei Jahre lang führten Remo Largo und ich damals Gespräche über die Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die Kinder und entwickelten dabei unsere Vorstellungen, die wir zu Papier gebracht und für das Buch aus Überzeugung den Titel »Glückliche Scheidungskinder« gewählt haben.
Oft half mir Remo während dieser Zeit, »das Problem Trennung« richtig zu analysieren, falsche Schuldgefühle zu zerstreuen und den Blick für die tatsächliche Verantwortung meinem Kind gegenüber zu stärken. Einmal, als ich beruflich verreisen wollte, obwohl meine Tochter mich gerade sehr brauchte, redete er mir derart ins Gewissen, dass ich auf der Stelle einen Bandscheibenvorfall bekam und zu Hause blieb. »Kann es sein, dass du zu wenig Zeit für deine Tochter hast und sie dich deshalb nicht loslassen will? Ich denke nicht, dass die Scheidung daran schuld ist!«
Das war einer jener Schlüsselsätze. Nicht die Scheidung, nicht die Familienform bestimmt, ob es einem Kind gut geht, sondern ob und wie wir seine Bedürfnisse wahr- und ernstnehmen. Das ist einerseits die befreiende Nachricht für alle Eltern, die Angst haben, ihre Kinder würden durch Trennung und Scheidung Schaden nehmen. Andererseits fordert dieser Satz die Eltern heraus, die Erziehungsaufgabe, die sie mit der Geburt ihrer Kinder übernommen haben, auch wirklich zu erfüllen – in welcher Familienform sie auch leben.
Der Wandel der Familie von der traditionellen Großfamilie . . . [1]
. . . zur heutigen Kleinfamilie [2]
Die Überarbeitung
Das ist jetzt zwölf Jahre her, und seitdem hat sich vieles verändert, weshalb wir unser Buch komplett überarbeitet und in eine neue Form gebracht haben. Während wir 2003 mit unserem durchaus provokativen Titel »Glückliche Scheidungskinder« oft aneckten, setzte sich die Sicht, dass Scheidungskinder genauso glücklich aufwachsen können wie Kinder aus sogenannten Kernfamilien, in den folgenden Jahren immer mehr durch. Trennungen sind heute kein Tabu mehr, und Scheidungskinder gibt es in jeder Schulklasse. Vieles von dem, was wir als kindgerechten Weg im Umgang mit Trennung und Scheidung für wichtig halten, wird heute von Erziehungsberatungsstellen und Familientherapeuten ähnlich gesehen. So herrscht Einigkeit darüber, dass die Beziehung zwischen den Eltern und Kindern nach der Trennung entscheidend dafür ist, ob die Kinder mit der neuen Lebenssituation zurechtkommen oder nicht. Andererseits bleibt gerade die Trennung der Paar- von der Elternebene für viele Mütter und Väter eine große und oftmals schwierige Herausforderung.
Mit der Überarbeitung des Buches wollen wir auch dem sozialen Umbruch, der in unserer Gesellschaft gegenwärtig stattfindet, Rechnung tragen. Dabei geht es in erster Linie um die neuen Formen des familiären Zusammenlebens. 2011 bestanden in Deutschland 20 Prozent der Familien aus einem alleinerziehenden Elternteil mit Kind oder Kindern, 15 Jahre zuvor waren es noch 14 Prozent (Familienreport 2012). 2012 kamen in der Schweiz 82 164 Kinder auf die Welt; 14 268 waren Kinder lediger Mütter (17,5 Prozent). Immer mehr Paare entscheiden sich bewusst dafür, nicht zu heiraten und trotzdem eine Familie zu gründen. Diese und andere neue Formen des Zusammenlebens bekräftigen uns in der Grundhaltung, die wir bereits in der Erstausgabe dieses Buches eingenommen haben: Entscheidend für das Kindeswohl ist nicht die Familienform, sondern die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen.
Auch die gesellschaftlichen Institutionen haben auf die neue familiäre Wirklichkeit reagiert, und ein ganzes Heer von Hilfs- und Beratungseinrichtungen ist entstanden. Das Bewusstsein, dass Trennung und Scheidung nicht nur das Paar, sondern vor allem deren Kinder betrifft, ist gewachsen, das Kindeswohl ist zu einem großen Wort geworden. Nur – und das ist der zweite Grund für diese Neubearbeitung – ist deshalb schon alles gut? Werden die Kinder mit ihren Bedürfnissen stärker berücksichtigt? Zwar richtet sich heute der Blick öfter auf die Kinder, doch was genau sie für ihr Wohl wirklich brauchen, scheint nach wie vor unklar zu sein. Wie erleben die Kinder den Alltag in Trennungs- und Scheidungsfamilien? Wie viele pendeln zwischen ihren Eltern hin und her, und unter welchen Umständen ist das Pendeln für die Kinder tragbar, wann hingegen eine zu große Belastung? Wie lebt es sich in so komplexen sozialen Gebilden wie der Patchworkfamilie? Was an der neuen Familienwelt ist wirklich kindgerecht und was nur elterngemäß? Wie sehr erschweren die ungünstigen Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft Eltern in ausreichendem Maße für ihr Kind zu sorgen?
Wie bereits bei der ersten Ausgabe des Buches stellte sich auch bei der Überarbeitung immer wieder heraus, dass viele der angesprochenen Probleme nicht spezifische Scheidungsprobleme sind, sondern auch die sogenannten Normalfamilien belasten und zu den »großen« Problemen und Ungereimtheiten unserer Zeit gehören. Allen voran das Thema Zeit, Zeit für Kinder, Zeit für Familie, Zeit für individuelle Bedürfnisse und Interessen. Zeit ist zu einem der kostbarsten Güter geworden, die Eltern ihren Kindern geben können.
Der Aufbau des Buches
Das Buch besteht aus sechs überarbeiteten Teilen. Jeder Teil kann für sich gelesen werden. In Teil 1 geht es um die Zeit vor und nach der Trennung. Alle Eltern fragen sich, wie sie ihren Kindern die Trennung erklären sollen. Worauf kommt es dabei an, und was davon verstehen Kinder überhaupt? In welchem Alter reagieren sie besonders empfindlich und warum? Ausführlich wird auf eine vorausschauende, möglichst bereits vor der Trennung vorgenommene, umsichtige Planung und Organisation des Kinderlebens, insbesondere der zukünftigen Kinderbetreuung, hingewiesen.
In Teil 2 befassen wir uns mit dem Alltag nach der Trennung. Wer wohnt wo, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Kind? Woran erkennen wir, ob es ihm gut geht, und woher wissen wir, ob es mit der neuen Lebenssituation zurechtkommt? Welche Herausforderungen haben die Eltern nach der...