ANNA AMALIA TRIFFT EIN
1756, als einige zukünftige Mimen in Goethes Theatertruppe erst zehn oder noch weniger Jahre alt waren, schwenkten sie die Mützen bei der Rückkehr Ernst August II. Constantins, des achtzehnjährigen Fürsten, in die winzige Residenzstadt Weimar, nachdem er die Braut am Braunschweigischen Hof gefreit hatte. Neben ihm in der Kutsche saß die Erwählte, die um zwei Jahre jüngere Anna Amalia. Trommeln rasselten, Trompeten schmetterten, und 150 Schuß Salut ertönten vor der Schloßkirche. Der offenen Kutsche voraus ritten Husaren und Postillione. Die Braut ließ die neugierigen großen Augen aus ihrem nicht sonderlich hübschen Gesicht über die künftigen, auf sie verstörend ländlich wirkenden Untertanen blitzen. Hoch aufgetürmt ragten ihre gepuderten Haare, und das mit Gold durchwirkte, blaue Seidengewand, dessen Décolleté sie der warmen Witterung wegen stolz offenbarte, rief manchen Seufzer der Bewunderung hervor.
Doch die jungen Eleven konnten nicht ahnen, was die an allen Dingen des Theaters brennend interessierte Herzogin nur Nahestehenden anvertraute: Sie deutete eine gewisse Erleichterung an, mit der sie sich von dem prächtigen, kunstliebenden Braunschweiger Hof unter ihrem Vater Carl I. verabschiedet hatte. Immer hatte sie hinter ihrer sehr viel ansehnlicheren Schwester zurückstehen müssen, und nie war sie dazu gekommen, ihren wirklichen Interessen, den künstlerischen nämlich, zu folgen.
Während ihrer nur zwei Jahre währenden Ehe mit dem kränkelnden Wettiner herrschten jedoch finanzielle Nöte. Die Pracht der Hofhaltung hatte schon seit einer Dekade unter des Herzogs Vater immer einschneidendere Opfer von der ohnehin armen Bevölkerung gefordert. Überhaupt hatte Anna Amalias Mutter, eine Schwester Friedrichs des Großen, der Ehe mit dem Weimarer nur zugestimmt, damit die Erbfolge der verwandten Familie und der Erhalt des Herzogtums gesichert waren. Und dieser Erhaltung der Dynastie entsprach Anna Amalia voller Pflichtgefühl, als sie am 3. September 1757 Carl August zur Welt brachte. Wieder gab es Trompeten und Böllerschüsse. Ein Jahr später, bei der Geburt des zweiten Sohnes Friedrich Ferdinand Constantin, viele glaubten es kaum, war Anna Amalia schon seit drei Monaten Witwe, und es ertönten Trauerklänge.
Dennoch hatte die Herzogin gleich nach ihrer Ankunft die Gelegenheit ergriffen, wenigstens einigen sinnlichen Glanz in das kleine Weimar zu bringen. Denn der später nach unguten Streitereien noch in Berlin tätige Theaterdirektor Karl Theophilus Doebbelin folgte mit seiner Wandertruppe dem Ruf Anna Amalias. Damit war ein erster Schritt zur Hebung geistiger Interessen getan. Döbbelin hatte 1750 bei der Neuberschen Truppe debütiert und 1756 in Erfurt eine eigene Gesellschaft gegründet. Noch im selben Jahr verpflichtete ihn Weimar, wo er allerdings nur für ein Jahr blieb. Er kam um so lieber, als seine Leute eben im benachbarten Erfurt gastierten und ihnen so der Umzug wenig Mühe und Kosten verursachte. Durch Kriegsnöte umhergetrieben, hoffte Döbbelin überdies schon lange auf ein sicheres Unterkommen.
Zu den ersten Taten des kunstsinnigen Herzogpaares hatte es gehört, ein »Hoftheater« einzurichten. Dreimal in der Woche, wie noch lange nachher, wurde im bereits seit 1697 bestehenden »Opernhaus«, einem mit einer einkulissigen Bühne ausgestattenen Saal im Schloß, im Naturtheater von Belvedere, gelegentlich auch im Weimarer Stadthaus, gespielt. Diese Hofkomödianten-Gesellschaft, also keine zum Nutzen der Bevölkerung agierende, sondern einen sich sorgfältig abschirmenden Dilettanten-Kreis versorgend, hatte unter Aufsicht des Kammerjunkers von Dürckheim bis Ende April 1757 gespielt. Damals legte Döbbelin die Direktion bereits wieder nieder, denn unter den Höflingen mißgönnte man ihm seine ehrgeizige Professionalität und die zunehmende »Einmischung« seiner Schauspieler in das Spielvergnügen der Dilettanten. Zwar hatte der todgeweihte Herzog dem Engagement der Truppe auf eigene Kosten sofort zugestimmt und bewies damit, daß er den musischen Ehrgeiz seiner Gemahlin teilte. Doch das Hoftheater in seiner bisherigen Exklusivität bestand nach seinem Tod nur noch ein Jahr.
Ernst August Constantin starb 1758 vor der Vollendung seines 21. Lebensjahres, und während des Siebenjährigen Krieges konnte ohnedies an keine weitere Förderung der Künste gedacht werden. Ständig marschierten Truppen durchs Weimarer Gebiet, plünderten, randalierten, vergewaltigten.
So viel Anna Amalia, der Herzogin mit einer nach Wieland »spirituellen Physiognomie«, die mehrere Instrumente spielte und höchst professionell ausgebildet war, daran liegen mußte, aus Mangel an Theater wenigstens die Musik bei Hofe zu erhalten und zu fördern, so hatte sie sich doch über 15 Jahre mit einem Orchester aus acht Blasinstrumenten zufriedenzugeben. Noch 1783 umfaßte die Hofkapelle meist nicht mehr als zwölf Spieler. Natürlich blieb auf lange Zeit die Qualität unbefriedigend, auch wenn der verstorbene Serenissimus einen entfernten Verwandten des Johann Sebastian, nämlich Johann Ernst Bach nach Weimar berufen hatte. Er war einst Geigenlehrer des Fürsten im benachbarten Gotha gewesen.
Aber zur Berufung von Virtuosen fehlte das Geld, und es war den Herren Musikern aufgegeben, sich im Regelfall auf diversen Instrumenten zu betätigen: der Fagottist mußte auch Flöte spielen oder ein Geiger zusätzlich das Horn blasen. Zudem folgte man dem Brauch anderer Duodezhöfe und zog Diener als Mitglieder des Orchester-Ensembles heran. Schon einigermaßen auf einem Instrument heimische Schulkinder fanden sich als Musiker im Nebenberuf wieder. Bei Festlichkeiten trugen Militär oder Feuerwehr mit ihren Pauken und Trompeten zwar zur Verstärkung, kaum aber zur Verbesserung des Klanges bei.
Doch die junge Witwe ließ sich weder entmutigen noch sich die Macht aus der Hand nehmen. Männlich saß sie auf ihrem dickleibigen Schimmel, dessen Trägheit nicht befürchten ließ, daß er sie abwarf. Auch einen Mops duldete sie in ihrer Nähe, um ganz in der Mode zu bleiben. Jedermann rühmte ihre schönen Hände, einige wenige bei Hof gar ihre zierlichen Füßchen, für die an jedem Tag ein neues Paar Schuhe bereitzustehen hatte, um dann an Damen des Hofes weitergereicht zu werden. Die zeremoniöse Haltung ihrer Anfänge gab sie zugunsten ihres später berühmt gewordenen »Musenhofes« bald auf, auch wenn es ihr nicht immer gelang, ihre strenge Herrscherhaltung zu verleugnen. Allen Vergnügungen, wie dem Glücksspiel oder Maskenbällen, war sie nichtsdestoweniger hingebend aufgeschlossen, denn sie tanzte graziös und bevorzugte unter den sie dazu Auffordernden solche, die es ihr gleichtaten.
Jeglicher Versuch, einen auswärtigen Fürsten zum Vormund ihres älteren Sohnes zu bestellen, scheiterte. Was sie als Kind und Heranwachsende an Zurücksetzungen zu ertragen erlernen mußte, erwies sich als der Neunzehnjährigen günstig. Unter den Beiräten, die ihr der Vater schickte, um ihr – ganz unnötigerweise – das Regieren zu erleichtern, befand sich auch Levin Christian Kotzebue, der ihr als Kabinettssekretär erhalten blieb und in Weimar ansässig wurde. Seinem Sohn August Friedrich, der in Weimar zur Schule ging, werden wir noch begegnen.
Der langjährigen Theaterabstinenz in Weimar machte schließlich der Prinzipal Heinrich Gottfried Koch 1768 ein Ende. Einige engherzig um die Sitten der Studierenden besorgte Professoren hatten den Freigeist Koch aus Leipzig vertrieben, dem »Klein-Paris«, in dem sich Lessing und Goethe bildeten und in dem der berühmte Johann Christoph Gottsched seit 1730 seinen Wohnsitz hatte. Koch bemühte sich in Weimar vor allem um ein gutes Singspiel, kehrte allerdings 1771 nach Leipzig zurück und wurde durch Abel Seyler abgelöst. Dessen Hamburger Theater-Unternehmen war auseinandergefallen und er war mit seiner Truppe in Deutschland ohne festes Engagement umhergezogen. Der Neubeginn in Weimar lohnte sich, denn gemeinsam mit Seylers Frau, Madame Hensel, wirkte immer noch der damals unbestritten größte Schauspieler Deutschlands: Konrad Ekhof. Er rückte durch seine Verbindung französisch klassizistischen Stils mit ernstem, ehrlichem Ausdruck zum »Vater der deutschen Schauspielkunst« auf.
Die neben den höfischen Beamten schauspielernden Professionellen setzten sich aus sechs Ehepaaren zusammen, die vor dem Hof und geladenen Gästen in Weimar auftraten. Der Zuschauerraum im Schloß, den »normale«, an Freiluftschauspiele gewöhnte Akteure kaum von innen sahen, soll nur hundert Personen gefaßt haben und nicht viel größer als die Bühne gewesen sein. In recht unkonventioneller Absicht räumte die Herzogin-Mutter zunächst siebzig von den hundert Sitzen den Bürgern der Stadt ein, wobei es später allerdings nicht blieb. Anna Amalia wurde im Sinne des aufgeklärten Absolutismus daher als Protektorin des Theaters gesehen, die die geistige und sittliche Bildung ihrer Untertanen verantwortlich förderte.
Dann allerdings, als das Weimarer Schloß nach einem verheerenden Brand im Mai 1774 in sich zusammenfiel, hatte das Theater wieder einmal das Nachsehen. Nach der Zerstörung des Bühnenraums mußte Seylers Gesellschaft, der auch der durch seine Singspiele bekannte Musiker Anton Schweitzer angehört hatte, wieder weiterwandern. Der Herzog des benachbarten Gotha übernahm als ärgerlicher Rivale Weimars die Truppe, und dort leitete Ekhof seine frühe »stehende« Bühne mit Singspielen und Balletten, auch seriösen Dramen wie 1772 Orest und Elektra des Gothaer Legationssekretärs Friedrich Wilhelm Gotter oder im selben Jahr die...