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E-Book

Goethe Männer Knaben

Ansichten zur »Homosexualität«

AutorW. Daniel Wilson
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl504 Seiten
ISBN9783458793205
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Nackte Ganymede und ihr göttlicher Entführer; der fast weibliche Apoll von Belvedere; zwei schöne nackte Jünglinge, von denen einer dem anderen den Arm über die Schulter legt: Die Kunstwerke im Treppenhaus von Goethes Wohnhaus in Weimar sind nicht nur antike Klassiker, sondern auch ein homoerotisches Bildprogramm par excellence. Und in seinem dichterischen Werk, von der frühen Vorliebe für androgyne Gestalten über die obszönen Witze im Umfeld der »Römischen Elegien« bis zur Geschlechterverwirrung der »Grablegung« in »Faust II« beschäftigt sich Goethe ebenfalls intensiv mit dem Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe. In dieser Werkbiographie mit Blick aufs andere Ufer enthüllt W. Daniel Wilson einen überraschenden 'homosexuellen' Impuls in Goethes Werk, der von sublimer romantischer Liebe bis zu fast pornographischer Derbheit reicht. In bestechenden Einzelanalysen zeigt Wilson, wie Goethe in seinen Werken die Grenze zwischen gleichgeschlechtlicher und gegengeschlechtlicher Liebe schrittweise verwischt. Und Goethe bereichert die mann-männliche Liebe durch ein entscheidendes Moment: das der Partnerschaftlichkeit. Damit stößt er der gleichgeschlechtlichen Liebe das Tor zur Moderne auf. - mit zahlreichen Abbildungen

<p>W. Daniel Wilson, geb. 1950 (USA), Ph. D. Cornell University (1979), war jahrelang an der University of California in Berkeley tätig und ist seit 2006 Professor für Germanistik an der Royal Holloway, University of London. Buchveröffentlichungen zu Goethe u. a.: <em>Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik</em>, 1999; <em>Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar</em>, 1999.</p>

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Leseprobe

KAPITEL 1
Liebesgrüße aus Griechenland

Gegen Mittag des 28. August 1829 betreten Antoni Edward Odyniec und Adam Mickiewicz Goethes Haus am Frauenplan. Der 80. Geburtstag des Hausherrn gleicht in der kleinen Residenzstadt Weimar einer Staatsangelegenheit, zu der sich Gäste aus ganz Europa, Abgeordnete von Universitäten, Theatern und gelehrten Gesellschaften eingefunden haben. Zur Überraschung der beiden polnischen Dichter und Reisegefährten steht die Tür sperrangelweit auf, und der Diener verlangt keine Karte: Heute stehe das Haus jedermann offen. Während sie im Vestibül warten, bis eine Schar Gratulanten gegangen ist, betrachtet Odyniec die beiden Statuen in den Nischen, die ihm schon bei früherer Gelegenheit aufgefallen sind: zwei Mal der nackte Ganymed, gleich groß. Der eine breitet die Arme weit aus in glühender Erwartung, von Zeus’ Adler entführt zu werden; es ist ein Abguss einer antiken Statue. Die andere, ein modernes Werk, zeigt den Knaben auf dem Olymp, wo er seinem göttlichen Liebhaber Wein einschenkt. Vor den beiden steht die antike Statue eines Hundes, der Odyniec an die Entführung Ganymeds erinnert, wie Vergil sie beschreibt; dort bellen Hunde dem Adler hinterher, der den Jungen verschleppt. Der Adler selber, so weiß Odyniec noch vom letzten Besuch, hängt oben im Treppenhaus über der Tür – der erste Ganymed scheint zu ihm aufzusehen.

Auf dem ersten Absatz von Goethes großartiger ›italienischer‹ Treppe erkennt der Pole dann eine Büste des Apoll von Belvedere, des Gottes der Dichtkunst und der Sonne. Er erinnert sich, dass Apoll die schönen Jünglinge Hyazinth und Cyparissus liebte, die beide jung starben. Auch Winckelmanns Begeisterung für diese fast weibliche Statue fällt ihm ein. Neben Apoll steht Achill, und Odyniec meint sich zu entsinnen, dass dieser Held des Trojanischen Kriegs ebenfalls einen früh dahingeschiedenen Jüngling liebte, seinen schmucken Waffenkameraden Patroklus. Während er langsam hinter einigen Engländern die Treppe hochsteigt, studiert Odyniec an der Wand Zeichnungen der Elgin Marbles aus dem Britischen Museum, die Goethe ihm stolz beschrieben hat und die eigens für den Großherzog angefertigt wurden. Eine zeigt Herkules, der ebenfalls geliebte Jünglinge verlor, Hylas und Abderus. Auf der zweiten Zeichnung schmiegt sich eine Frau in den Schoß einer anderen. Sie erinnern den Polen an zwei griechische Liebhaberinnen, die Goethe in einem seiner Werke erwähnt. Oben, direkt neben der Tür ins erste Zimmer, steht ein beeindruckendes Doppelstandbild zweier schöner nackter Jünglinge. Einer legt dem anderen den Arm um die Schulter. Sie stellen den römischen Knaben Antinous dar – der ebenfalls tragisch umkam – und den Geist seines Liebhabers, des Kaisers Hadrian; so sagt man jedenfalls, erinnert sich Odyniec, als er mit seinem Freund die Schwelle mit der Intarsie ›Salve‹ überschreitet.

Der Gelbe Saal ist voller Gratulanten. Schnell finden sie Goethe und stammeln auf Französisch ihre Glückwünsche. »Je vous remercie, Messieurs, je vous remercie sincèrement.« Stolz zeigt ihnen das Geburtstagskind einen huldvollen Brief des bayerischen Königs, den jede Menge Bewunderer umringen. Er begleitet ein grandioses Geschenk, das im nächsten Raum steht, in den Goethe sie nun führt. Dieses Büstenzimmer gleicht einem Museum und wird von Bildern des Weingottes Bacchus beherrscht, der fast so aussieht wie eine Frau. Nicht anders der kolossale Antinous; Odyniec erkennt in ihm die berühmte Büste aus Mondragone in Italien. Mitten im Raum steht die Gabe Ludwigs I., auf einem Podest und mit Blumenranken geschmückt: der Abguss eines antiken Torsos. Es ist Niobes jüngster Sohn, den Apoll erschlug, auch wenn ihn seine Schönheit tief berührte. Später bemerkt Odyniec, wie Goethe allein zu der Statue zurückkehrt; er bewegt die Hände, als ob er mit ihr spräche – keiner seiner Gäste scheint ihm so lebendig wie dieser Torso zu sein.

 

Antoni Edward Odyniec’ Gedanken an Goethes 80. Geburtstag habe ich zwar frei geschildert, doch treu nach historischen Berichten. Dabei habe ich die Kunstwerke in Goethes Treppenhaus sowie in seinem Büstenzimmer so wiedergegeben, wie das frühe 19. Jahrhundert sie verstand; heute interpretiert man sie häufig anders.1 Odyniec’ Gang durch Goethes Haus wirft grundsätzliche Fragen auf – einmal davon abgesehen, warum noch niemandem, zumindest nicht im Druck, das homoerotische Bildprogramm aufgefallen ist, dem mit einer einzigen Ausnahme die elf Kunstwerke in Goethes legendärem Treppenhaus angehören. Teilten Goethes gebildete Gäste zumindest einige der Gedanken, die ich Odyniec zugeschrieben habe? Helfen diese Kunstwerke, Goethes Haltung zur gleichgeschlechtlichen Liebe zu verstehen? War er vielleicht selber schwul? Können die Begriffe ›schwul‹ oder gar ›homosexuell‹ überhaupt eine Person beschreiben, die 1829 oder 1770 gelebt hat? Warum erzählen so viele Kunstwerke in Goethes Treppenhaus vom frühen Tod geliebter Jünglinge? Was war überhaupt ein ›Jüngling‹ oder ein ›Knabe‹, was ein ›Geliebter‹ und was ein ›Liebhaber‹, und zwar sowohl in den deutschen Ländern des 18. Jahrhunderts als auch in der Antike? Das Treppenhaus mit seinen homoerotischen Anspielungen ist nur eines – wenn auch ein besonders markantes – von vielen Beispielen, das mich zu meiner These führt: Goethes Sicht auf die gleichgeschlechtliche Liebe kann nur im Rückgriff auf die Antike verstanden werden – eine Antike, die für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert lebendig war. Noch stärker als viele seiner Zeitgenossen empfand Goethe, den die vorurteilslose Erforschung der menschlichen Natur antrieb, die Antike und insbesondere die griechische Liebe als brennend aktuell und dichterisch anregend.

Die ›griechische Liebe‹ der Antike wird vielfach missverstanden. Zunächst einmal war sie nicht auf Griechenland beschränkt. Auch im alten Rom kam sie, etwas später, häufig vor. Das antike Persien – für meine Interpretation des West-oestlichen Divans von Bedeutung – kannte ein ähnliches Phänomen. Die »asiatische Homosexualität«,2 wie sie mittlerweile genannt wird, war im Mittelmeerraum, in der Türkei, in großen Teilen des Nahen Ostens und Südostasiens, in China, Japan und den Südpazifischen Inseln weit verbreitet. Für die Europäer war freilich die griechische Variante von größter Bedeutung, lag sie doch, zusammen mit der römischen, der eigenen Zivilisation zu Grunde – oder beschmutzte sie, je nach Standpunkt. Als Teil der Gründungskultur des Abendlands fasziniert die griechische Liebe Europa seit je.

Dabei darf die griechische Liebe nicht mit der Homosexualität verwechselt werden. Dieser letztere Begriff wurde zuerst 1869 öffentlich gebraucht und bezeichnete zu Beginn eine psychische Verirrung, einen pathologischen Befund – ist also mit dem antiken Verständnis sexueller Vorlieben völlig unvereinbar. Darüber hinaus steht er für eine bestimmte Identität, für die Vorstellung, Männer, die Sex mit Männern haben, unterschieden sich grundsätzlich von anderen Männern. Zwar könnte es in der Antike eine ähnliche Identität gegeben haben, nämlich den Kinäden (griech. kinaidos, lat. cinaedus), einen erwachsenen Mann, der sich weiblich gab und kleidete und sich gern von anderen Männern penetrieren ließ. Doch ist der wissenschaftliche Streit über die Identitätsfrage nebensächlich, da Goethe sich nicht eingehend mit der Figur des Kinäden befasste, obwohl er sie kannte (mehr dazu im nächsten Kapitel). Eines scheint jedoch gewiss: In der Antike betrachteten sich Männer, die den aktiven Part beim Sex mit Jünglingen übernahmen, nicht als anomal oder gar krank; und ganz sicher galten sie nicht als weniger männlich als Männer, die nur mit Frauen ins Bett gingen.

Ein weiterer Unterschied zwischen modernen Homosexualitäten und der griechischen Liebe ist für diese Untersuchung bedeutender: das Alter. Partnerschaften zwischen ungefähr gleichaltrigen Männern sind heute gang und gäbe. Im Gegensatz hierzu waren bei den alten Griechen Beziehungen zwischen einem älteren Liebhaber (griech. erastēs) und einem jugendlichen Geliebten (erōmenos) üblich. Das führte zum größten aller modernen Missverständnisse, jüngst bezeichnet als »Mythos der Knabenliebe«3. Da Goethes Verständnis, Würdigung und Kritik der griechischen Liebe ganz auf diesem schwer zu verstehenden antiken Phänomen beruht, müssen hier dessen sozial- und kulturhistorischen Bedingungen skizziert werden.

Was war ein ›Knabe‹ im alten Griechenland – und in den deutschsprachigen Ländern des 18. Jahrhunderts? Die Antwort wird nicht leichter dadurch, dass das griechische Wort paides (Knaben) zwei Bedeutungen hatte: Im engeren Sinn bezeichnete es Jungen bis ungefähr zum 18. Lebensjahr, doch wurde es im weiteren Sinne auch für 18- bis 19-jährige junge Männer gebraucht.4 Der ›Liebhaber‹ war fast immer älter als...

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