Goethe und die platonische Weltansicht
Ich habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke Goethe empfangen musste, wenn er sich an die Philosophen wandte, um sein so starkes Erkenntnisbedürfnis zu befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu denen ihn seine Natur drängte, fand er in den Philosophien keine Antworten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die Weltanschauung eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz zwischen der Richtung, die seine Fragen einschlugen und der Gedankenwelt, bei der er sich Rat holen wollte. Der Grund liegt darin, dass die platonische Trennung von Idee und Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er die Natur beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er konnte sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt, welche die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entstehen und Vergehen, ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm ein kraftloses Gedankengespinnst. Das logische Fortspinnen von Gedankenreihen, ohne Versenkung in das wirkliche Leben und Schaffen der Natur erscheint ihm unfruchtbar. Denn er fühlt sich mit der Natur innig verwachsen. Er betrachtet sich als ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem Geiste entsteht, das hat, nach seiner Ansicht die Natur in ihm entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke stellen und glauben, dass er da aus sich heraus ein Gedankengewebe spinnen könne, das über das Wesen der Dinge aufklärt. Er soll den Strom des Weltgeschehens beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird er fühlen, dass die Ideenwelt nichts anderes ist, als die schaffende und tätige Gewalt der Natur. Er wird nicht über den Dingen stehen wollen, um über sie nachzudenken, sondern er wird sich in ihre Tiefen eingraben und aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.
Zu solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur. Mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht, fühlte er seine dichterischen Erzeugnisse aus seiner Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der Geist in ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht verschieden von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe erzeugt. Und wie im Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen Materie nicht zu trennen ist, so war es ihm auch unmöglich bei einem Dinge der Natur die Wahrnehmung ohne die Idee vorzustellen. Fremd blickte ihn daher eine Anschauung an, die in der Wahrnehmung nur etwas Unklares, Verworrenes erblickte und die Ideenwelt abgesondert, gereinigt von aller Erfahrung betrachten wollte. Er fühlte in jeder Weltanschauung, in der platonische Gedankenelemente lebten, etwas naturwidriges. Deshalb konnte er bei den Philosophen nicht finden, was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die in den Dingen leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung als hervorwachsend aus einem lebendigen Ganzen erscheinen lassen, und die Philosophen lieferten ihm Gedankenhülsen, die sie nach logischen Grundsätzen zu Systemen verbunden hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst zurückgewiesen, wenn er bei Andern Aufklärung suchte über die Rätsel, die ihm die Natur aufgab.
Es gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner italienischen Reise gelitten hat, dass sein Erkenntnisbedürfnis keine Befriedigung finden konnte. In Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er erkannte, dass in den vollendeten Kunstwerken das enthalten ist, was die Menschen als Göttliches, als Ewiges verehren. Nach dem Anblicke von künstlerischen Schöpfungen, die ihn besonders interessieren, schreibt er die Worte nieder: „Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“ Die Kunst der Griechen entlockt ihm den Ausspruch: „Ich habe die Vermutung, dass die Griechen nach den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der Spur bin.“ Was Plato in der Ideenwelt zu finden glaubte, was die Philosophen Goethe nie nahe bringen konnten, das blickt ihm aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der Kunst offenbart sich für Goethe zuerst das in vollkommener Gestalt, was er als die Grundlage der Erkenntnis ansehen kann. Er erblickt in der künstlerischen Produktion eine Art und höhere Stufe des Naturwirkens; künstlerisches Schaffen ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in seiner Charakteristik Winkelmanns später ausgesprochen. „Indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich zur Produktion des Kunstwerkes erhebt.“ Nicht auf dem Wege logischer Schlussfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.
Die Tätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz einer Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der künstlerischen verschieden. Beide gehen in einander über und greifen über einander. Der Künstler muss, nach Goethes Ansicht, größer und entschiedener werden, wenn er zu seinem „Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den Einfluss der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und den Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkung erkennt, wenn er die sukzessive Entwicklung der Blumen, Blätter, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsieht und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften zugleich in Verwunderung setzen und belehren.“ Das Kunstwerk ist demnach um so vollkommener, je mehr in ihm dieselbe Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt, die in dem Naturwerke enthalten ist, dem es entspricht. Es gibt nur ein einheitliches Reich der Wahrheit, und dieses umfasst Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht wesentlich verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt Goethe, dass er „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen“. Die aus platonischen Vorstellungen hervorgegangene Weltbetrachtung zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Kunst. Die künstlerische Tätigkeit lässt sie auf der Phantasie, auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaftlichen Ergebnisse sollen das Resultat einer Phantasie-freien Begriffsentwicklung sein. Goethe stellt sich die Sache anders vor. Für ihn ergibt sich, wenn er das Auge auf die Natur richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet, dass in dem einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil nicht abgeschlossen ist; die Idee weist über das Einzelne hinaus auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche Weise zur Erscheinung kommt. Der philosophierende Beobachter hält diesen ideellen Bestandteil fest und bringt ihn in seinen Gedankenwerken unmittelbar zum Ausdrucke. Auch auf den Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es treibt ihn, ein Werk zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie in einem Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinung wird. Was in dem Naturwerke bloß ideell ist und sich dem geistigen Auge des Beobachters enthüllt, das wird in dem Kunstwerke real, wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Künstler verwirklicht die Ideen der Natur. Er braucht sich aber diese nicht in Form der Ideen zum Bewusstsein zu bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet, so gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das in realer Erscheinung enthält was jene nur als Idee. Der Künstler liefert Bilder der Naturwerke, welche deren Ideengehalt in einen Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philosoph zeigt, wie sich die Natur der denkenden Betrachtung darstellt; der Künstler zeigt, wie die Natur aussehen würde, wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem Denken, sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des Gedankens; der Künstler in Form des Bildes darstellt. Beide unterscheiden sich nur durch ihre Ausdrucksmittel.
Die Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfahrung, die sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht aus dem Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die italienische Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die geeignet war, den Samen zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz „die Natur“, der 1782 im Tiefurter Journal erschienen ist, und der Goethe zum Urheber hat (vgl. meinen Nachweis von Goethes Urheberschaft im VII. Bande der Schriften der Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle Empfindung ist, wird später klarer deutlicher Gedanke. „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen .... Gedacht hat sie (die Natur) und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur ... Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht .... Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst! —“ Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch nicht klar, wie die Natur durch den Menschen...