Autor
Prof. Dr. Guido Knopp, Jahrgang 1948, arbeitete nach dem Studium als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und als Auslandschef der „Welt am Sonntag“. Von 1984 bis 2013 war er Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Seitdem moderiert er die Sendung History Live auf Phoenix. Als Autor publizierte er zahlreiche Sachbuch-Bestseller. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Jakob-Kaiser-Preis, der Europäische Fernsehpreis, der Telestar, der Goldene Löwe, der Bayerische und der Deutsche Fernsehpreis, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Internationale Emmy.
Goodbye DDR
Es war ein Glanzpunkt der deutschen Geschichte. 70 000 Menschen demonstrierten auf dem Ring von Leipzig für die Freiheit. In den Seitenstraßen stand die Staatsmacht, schwer bewaffnet, und die Demonstranten – Frauen waren dabei, die Kinderwagen schoben –, sie alle mussten damit rechnen, dass es ebenso zu einem Blutbad kommen könne wie ein paar Monate zuvor in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dass sie sich dennoch auf die Straße wagten, voller Angst und voller Mut, das war ihr Heldentum.
Es war der 9. Oktober 1989, und es war der Durchbruch. Jene Demonstrierenden der ersten Stunde, die »Wir sind das Volk« gerufen haben, wollten freilich erst mal nicht die deutsche Einheit, sondern eine bessere DDR. Die Kräfte aber, die ihr Mut entfesselt hatte, waren schließlich stärker als sie selbst. Und dennoch haben sie Erstaunliches vollbracht: Das scheinbar angepasste Volk der DDR kam aus den Nischen und machte Revolution – die erste deutsche Revolution, die glückte und die glücklich endete. Es war der Garaus für den viel zitierten Lenin-Spruch: »Wenn die Deutschen auf dem Bahnhof eine Revolution machen wollen, kaufen sie sich vorher eine Bahnsteigkarte.« Aber alle Kartenhäuschen hatten schon geschlossen.
Über anderthalb Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und nach Jahren der Verdrängung steht die DDR erneut im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Exzellente Kinofilme à la »Goodbye Lenin« öffneten die Tür für »Ostalgie« -Shows mannigfacher Art, die Stars der alten DDR im FDJ-Hemd präsentierten, neben Trabis, Broilern, Spreewaldgurken und so manchem sonst noch gängigen Klischee. Eine Parallelwelt eigener, für Westaugen kurioser Marken und Gebräuche. All das zu belächeln ist wohlfeil. Es war schon eine Welt mit eigener Würde, eigenen Erfahrungen. Doch war es nicht die ganze Welt.
Wer wissen will, wie man gelebt, geliebt und überlebt hat in der DDR, der muss den ganzen widersprüchlichen Charakter dieses Staats erfassen: die ausgeprägte Solidarität der Menschen und den Unterdrückungsapparat der Stasi, den Stolz auf olympische Goldmedaillen und den Frust über die katastrophale Wirtschaftslage, anpassungsfähigen Pragmatismus ebenso wie bitter enttäuschten Idealismus.
Das Werden und Vergehen dieses zweiten deutschen Staates ist ein Lehrbeispiel der Zeitgeschichte. Der Grundstein für die Schaffung eines deutschen kommunistischen »Ost«-Staates wurde schon vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 gelegt. Zwar waren sich die Alliierten einig, die oberste Regierungsgewalt in Deutschland gemeinsam zu übernehmen. Über die Details jedoch gab es ganz unterschiedliche Auffassungen. Der Einzige, der wirklich wusste, was er wollte, war Stalin. Schon vor Kriegsende vertraute er Milovan Djilas, dem Stellvertreter Titos, an: »Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.« Es kam auch nicht anders. Kurz nachdem Soldaten der Roten Armee das Banner mit Hammer und Sichel auf dem Reichstag gehisst hatten, begannen die Sowjets, den Teil Deutschlands, der ihnen zugefallen war, auch politisch zu erobern. Mit Demokratie hatte das nichts zu tun. Die Sowjets achteten genau darauf, dass an den Schaltstellen der Nachkriegs-Macht nur Männer saßen, die die Richtlinien aus Moskau absolut loyal umsetzen würden.
Ein solcher Mann war Walter Ulbricht. Ende April 1945 kehrte er mit neun weiteren deutschen Kommunisten, unter ihnen Wolfgang Leonhard, aus dem Moskauer Exil nach Berlin zurück. Einen Stamm linientreuer Genossen sollten sie heranziehen, der die Kerntruppe der neuen Magistratsverwaltung für Berlin ausmachte. Die »Gruppe Ulbricht« wurde angewiesen, in den Arbeiterbezirken sozialdemokratische Bürgermeister zu gewinnen und in den gehobeneren Stadtvierteln »bürgerliche Antifaschisten« einzusetzen. Doch es musste nur »demokratisch aussehen«. In Wahrheit bedeutete die »demokratische Umgestaltung« nichts anderes als eine von der Besatzungsmacht überwachte Verwaltung nach sowjetischem Vorbild. Dennoch: Tausende deutsche Intellektuelle knüpften nach dem Untergang der Hitler-Diktatur ihre Hoffnungen an einen sozialistischen Neuanfang in der sowjetischen Besatzungszone. Prominente wie Bert Brecht schienen dafür zu bürgen, dass dort das »bessere Deutschland« entstehen könne. Doch die Illusionen waren bald verflogen.
Nach der DDR-Gründung im Oktober 1949 wurde zwar der Altkommunist Wilhelm Pieck zum Präsidenten gewählt, aber hinter den Kulissen hatte Ulbricht als SED-Chef alle Fäden in der Hand. Wenn Zeitgenossen sich später wunderten, warum gerade Ulbricht die politische Spitze erreichte – war er doch eher unscheinbar, alles andere als sprachgewaltig, formulierte weder denkwürdige Worte noch originelle Ideen –, dann liegt die Antwort genau darin. Er war der perfekte Apparatschik, der den Anweisungen aus der Sowjetunion penibel und kritiklos Folge leistete.
Dass das SED-Regime in diesen Jahren weder Legitimität noch Akzeptanz besaß, zeigen die Ereignisse um den 17. Juni 1953. Der im Juli 1952 proklamierte schnelle »Aufbau des Sozialismus« war ein Reinfall. Die Versorgungslage hatte sich dramatisch verschlechtert. Die Menschen waren äußerst unzufrieden; Missstimmung gegen das Regime machte sich breit. Um den wirtschaftlichen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, beschloss der Ministerrat der DDR eine Erhöhung der Arbeitsnormen für Industriebetriebe und das Baugewerbe. Das bedeutete nichts anderes als die Verminderung des Arbeitslohns. Es kam zu Streiks und Demonstrationen, die sich schließlich in einer Massenbewegung entluden. Am Ende ging es nicht mehr nur um Arbeitsnormen, sondern um politische Freiheit und die nationale Einheit. Das SED-Regime war nachgerade paralysiert; nur mithilfe der sowjetischen Besatzungsmacht konnte es der Lage Herr werden. Wie viele Verhaftungen, Verurteilungen, Gefängnisstrafen und Todesurteile wirklich ergangen sind, wurde lange Zeit vertuscht. Wir wissen heute, dass während dieses Volksaufstandes etwa 125 Menschen getötet und Hunderte verwundet wurden. Mehr als 1500 Angeklagte wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Von einem »sozial gerechten, neuen Deutschland«, das sich so viele Idealisten erträumt hatten, konnte danach in der DDR nicht mehr die Rede sein. Die SED zeigte ihr wahres Gesicht. Und dieses offenbarte, dass die DDR-Bürger geradewegs in ein totalitäres Regime manövriert wurden – mit dem SED-Politbüro als Lotsen und der Sowjetunion als Kapitän.
Die Tragik des 17. Juni 1953 lag vor allem darin, dass der Aufstand, der sich gegen das Regime des Walter Ulbricht gerichtet hatte, ihm am Ende half, noch einmal seine Macht zu sichern. Zuvor war Ulbricht auch parteiintern in die Kritik geraten; und die Moskauer Genossen waren nach dem Tod Stalins ebenfalls drauf und dran, den ungeliebten Apparatschik abzusägen. Die Entmachtung war schon vorbereitet. Doch der Volksaufstand machte alle Pläne zunichte. Nach dem 17. Juni 1953 saß Ulbricht fester im Sattel denn je.
Um diese Position zu sichern, war er auf die Stasi angewiesen. Sie verstand sich als »Schild und Schwert« der Partei, legte über alles und jeden eine Akte an und versuchte, die Ostdeutschen in ein Volk von Spitzeln zu verwandeln. Abertausende »inoffizielle Mitarbeiter« des Ministeriums für Staatssicherheit spielten mit bei der gegenseitigen Überwachung – manche aus Überzeugung, viele aus Opportunismus. Ihre Berichte, meist in peniblem Beamtendeutsch festgehalten, zeichnen ein vielschichtiges Gesellschaftsbild. Das gewitzte Katz-und-Maus-Spiel mancher Dissidenten mit der Staatsmacht wird hier ebenso dokumentiert wie erschütternde Denunziationen oder der immerwährende Drang der DDR-Bürger nach mehr Reisefreiheit.
Tausende versuchten, mittels spektakulärer Fluchtversuche dem Regime zu entkommen. Die Stasi unternahm alles, um die Fluchtbewegung schon im Keim zu ersticken. Sie entwickelte Strategien, um geheime Fluchtpläne auszuspionieren und Fluchthilfeorganisationen zu zersetzen. Dabei schreckte sie auch vor Mordanschlägen nicht zurück.
Über drei Jahrzehnte stand mit Erich Mielke ein Mann an der Stasi-Spitze, dessen Laufbahn prototypisch für den Machtanspruch, die Unbarmherzigkeit und die finale Wirklichkeitsverweigerung der Staatsmacht war.
Begonnen hatte die Karriere Mielkes im August 1931 – mit dem Doppelmord an zwei Berliner Polizisten. Er floh nach Moskau, wo ihm das tschekistische Know-how beigebracht wurde. Als »Tscheka« wurde die von Lenin begründete bolschewistische Geheimpolizei bezeichnet, die nach Mielkes Worten »hart und unerbittlich gegenüber den Feinden der Sowjetmacht« war und »keine Gnade« kannte. Ihre Mitglieder nannten sich Tschekisten – ein Name, den sich Mielke und seine Stasi-Männer nach dem Krieg als Ehrentitel anhefteten. Auf Anweisung Moskaus nahm Mielke von 1936 bis 1939 am Spanischen Bürgerkrieg teil. In sicherer Entfernung von der Front sollte er die eigenen Reihen überprüfen und säubern. Den Zweiten...