2. Immer Ärger mit dem Höchsten
Ludwig Feuerbach versucht nicht mit Polemik, sondern mit viel Respekt den Glauben an Gott psychologisch zu erklären, unter der Voraussetzung, dass Gott in Wahrheit nicht existiert.
Es kann also demnach nicht verboten sein, mit dem gleichen Respekt und den gleichen Mitteln den genau umgekehrten Versuch zu machen, nämlich psychologisch zu erklären, warum jemand nicht an Gott glaubt – unter der Voraussetzung, dass Gott in Wahrheit existiert.
a) Sturmfreie Bude
Wie es die Sehnsucht und den Wunsch junger Menschen gibt, endlich mal »sturmfreie Bude« zu haben, so ist der Wunsch verständlich, mal ohne ein allpräsentes »Über-Ich« zu leben, welches immer darauf achtet, dass man sich nicht danebenbenimmt. Moralisch zu sein, macht zwar ab und zu auch mal Freude. Oft ist das aber eher mühsam und mit erheblichen Nachteilen fürs eigene Wohlbefinden verbunden. Es sollen schon Leute gestorben sein, weil sie das Versprechen gehalten haben, ein Geheimnis nicht auszuplaudern. Wenn es da keine Instanz gibt, außer dem eigenen Ich, kann man sich viel leichter selber eine Entschuldigung ausstellen und wenigstens mal ab und an »die Sau rauslassen«. Atheismus und Libertinage, völlige sittliche Freizügigkeit, gingen oft zusammen. Schon Bossuet hat im 17. Jahrhundert das psychologische Erklärungsmodell Feuerbachs verwandt – und umgekehrt auf die Atheisten seiner Zeit bezogen: »Sprecht mir nicht von den Libertins, ich kenne sie: Alle Tage höre ich sie schwatzen; und ich bemerke in all ihren Reden lediglich eine falsche Geschicklichkeit, eine verschwommene und oberflächliche Wissbegier oder, um es offen zu sagen, schiere Eitelkeit; dahinter stehen unbezähmbare Leidenschaften, die aus Furcht, von einer allzu mächtigen Autorität unterdrückt zu werden, die Autorität des Gesetzes Gottes angreifen, das sie aus einem Irrtum, wie er dem menschlichen Geist natürlich ist, umgestoßen zu haben glauben, weil sie es sich ständig wünschen.« Atheismus als Wunschvorstellung! War Feuerbach vielleicht doch nicht so originell, wie manche denken?
Wenn Geld die Welt regiert, dann ist der liebe Gott für den ökonomischen Erfolg eher ein garstiger Spielverderber. Heute bemisst man den Wert von Sachen und auch von menschlichen Leistungen hauptsächlich im Geldwert. Doch die Zeiten, in denen man mit Glaubensdingen noch wirklich Geld machen konnte, sind endgültig vorbei. Die Tetzels haben mit ihrem Ablasshandel genug Schaden angerichtet. Und der angebliche Skandal der Vatikanbank war kein wirklicher Skandal, sondern die Verbindung von grenzenloser Naivität und völligem Dilettantismus. So konnte man in der gewöhnlich kirchenkritischen »taz« lesen.
Das große Geld jedenfalls beherrscht heute die globalisierte Welt machtvoller als vielleicht jemals zuvor. Politiker müssen am Ende ihrer Tätigkeit erkennen, dass sie viel weniger bewegen konnten, als sie gedacht hatten. Nicht selten mussten sie sich der Macht der Wirtschaft beugen. Fast allmächtig scheint heute die Wirtschaft zu sein. Die Instanz eines allmächtigen Gottes ist da natürlich für die unbeschränkte wirtschaftliche Expansion fremd und – schlimmer – hinderlich.
Der Altkommunist und bekennende Atheist Gregor Gysi erklärte vor einiger Zeit, er habe Sorge vor einer gottlosen Gesellschaft. Denn er befürchte, einer solchen Gesellschaft werde die Solidarität abhandenkommen. Damit bestätigte er die hier durchgespielte antifeuerbachsche Hypothese: Auch wenn es Gott gäbe, gäbe es gute wirtschaftliche Gründe für die Propagierung des allgemeinen Atheismus. Denn Skrupel, moralische Rücksichten und das Bewusstsein, dass das Leben auch noch anderes zu bieten hat als wirtschaftlichen Erfolg, können einen solchen Erfolg zweifellos hemmen. Allenfalls über »Werte« darf man da reden, Werte, die die Welt in Ordnung halten – damit der Rubel in gesicherten Verhältnissen weiterrollen kann, denn »Geld ist scheu wie ein Reh …«.
Für die Welt der Wirtschaft ist es psychologisch verständlich, dass man Gott, wenn es ihn denn gibt, möglichst unschädlich macht. Eine gute Idee ist dabei, Gott zur Privatsache zu erklären. Wir werden später noch mit solchen kastrierten Gottesvorstellungen fürs bürgerliche Wohnzimmer zu tun bekommen. Schon hier muss aber festgestellt werden: Ein Gott nur fürs Privatleben ist gar kein Gott, er ist eine Witzfigur – wie Kaiser Romulus Augustulus in »Romulus der Große« von Dürrenmatt, der sich im Wesentlichen für die Frühstückseier interessiert.
b) Einmal Lagerfeld sein
Wem an der grenzenlosen Größe des eigenen Ego gelegen ist, dem ist ohnehin jede Stellenbeschreibung oberhalb seiner selbst ein Dorn im Auge. Im »Zeitalter des Narzissmus«, wie man unsere Epoche einmal genannt hat, fühlt sich manch einer gestört von einem Gott, von dem es heißt, er sei der allmächtige. Bei der grandiosen Selbstinszenierung des eigenen Lebens, wie sie selbstverliebten Narzissten ein Bedürfnis ist, stören schon Kinder, da die kleinen Süßen skandalöserweise die Aufmerksamkeit der Partnerin respektive des Partners vom wichtigsten Menschen ablenken, den es überhaupt gibt, nämlich von einem selbst. Und wenn die ganze Gesellschaft von dieser narzisstischen Atmosphäre durchseucht ist, dann funktioniert eine normale Partnerschaft oft nicht mehr, weil die vom Partner selbstverständlich erwartete völlige Aufopferung des eigenen Ich nicht rückhaltlos erfolgt.
Das »Drama des begabten Kindes« ereignet sich dann, wenn sich beim bis dato depressiv unterwürfigen Partner irgendwann ein gewisses Bedürfnis zeigt, selbst ein wenig Liebe zu bekommen. Wie soll der alternde Narziss, dessen ganzes Leben bisher um die unersättliche gierige Zusammenraffung von Aufmerksamkeit für sich selbst organisiert ist, plötzlich von sich aus etwas geben? Nicht wenige Partnerschaften scheitern an solchen Entwicklungen. Wo aber kann es in einem solchen nur um sich selbst kreisenden Leben noch einen Platz für Gott geben? Der »Modezar« Karl Lagerfeld, der sich mit schönen Stoffen, aber vor allem mit sich selbst befasst, wurde nach Gott gefragt. Und als Antwort sprach er natürlich von sich: »Es fängt mit mir an, es hört mit mir auf, basta!« Ein Gott, der Gerechtigkeit für jeden, nicht nur für einen selbst, sondern auch für die anderen fordern wollte, ist in einem solchen Lebenskonzept zweifellos ein Störfaktor.
Die vollendete narzisstische Gesellschaft wird wahrscheinlich völlig versingeln. Durch das Internet miteinander vernetzt, werden diese Exemplare der Spezies Homo sapiens in einem gut geheizten, dennoch eiskalten Zuhause sitzen und miteinander »chatten«. So entgehen sie der Gefahr, mit der grenzenlosen Sehnsucht nach totaler Zuwendung immer wieder allzu sehr enttäuscht zu werden. Und sie vermeiden auf diese Weise, stets aufs Neue zu spüren, vom Leben und von den anderen Menschen für sich selbst zu wenig zu bekommen. Der Kosmos solcher Narzissten ist ganz vom eigenen überblähten Ich ausgefüllt, das wie ein monströses schwarzes Loch alles an sich reißt. Und wenn dieser Egozentrismus nicht bloß ein ab und zu durchbrechendes Laster, sondern die eigene irgendwie ganz selbstverständliche Lebensform ist, dann sind andere, gar wichtigere Zentren bloß Konkurrenz, der man wütend entgegentritt. Der öffentlich hinausgeschriene Gotteshass mancher medienbekannter Narzissten ist auf diese Weise psychologisch ohne weiteres zu erklären.
Ein Gott jedenfalls, der ja für sich selbst eine eigene Bedeutung in der Welt beanspruchen würde und als gerechter Gott darüber hinaus ein Gott auch für die anderen wäre, ist für den radikalen Narzissten ein Greuel.
c) Fernsehgötter
Und damit berühren wir ein Problem, das der liebe Gott mit dem Fernsehen hat. Das Fernsehen ist das ideale Medium für Narzissten. Sicher, nicht alle, die im Fernsehen auftreten, sind ausnahmslos Meister der Selbstliebe. Doch dieses Medium ist zweifellos eine besondere Versuchung für solche, die nicht wirklich in sich selbst ruhen, sondern unersättlich und im Übermaß jene Streicheleinheiten suchen, mit denen sie vielleicht in ihrem frühen Leben zu wenig bedacht wurden. Sie suchen, ohne jemals wirkliche Befriedigung zu erlangen. Wo aber kann man maximale Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren? Natürlich bei einer Fernsehsendung, möglichst mit hoher »Quote«. Die Narzissten im Fernsehen sind zwar nicht die wirklich Großen. Sie sind gehandikapt durch ihre Abhängigkeit vom Zuspruch, durch ihr schwaches eigenes Profil. Der Mangel an echter Ausstrahlung kann sich dann zum Beispiel im Trubel einer Live-Sendung zeigen, in der sie plötzlich einer echten menschlichen Tragödie begegnen. Darauf müssten sie in diesem Moment nicht mit routinierter Technik reagieren, sondern echt. In einem solchen Moment muss man, gerade als »alter Hase«, die Fähigkeit besitzen, ganz man selbst zu sein. Doch das können Narzissten gar nicht, denn sie wissen im Grunde nicht, wer das eigentlich ist: »Ich selbst«. Dennoch bestimmt eine narzisstische Mentalität das Medium der Fernsehgötter und –göttinnen. Und das Publikum betet sie an.
In einer derart selbstgebastelten Welt ist kein Platz für Gott. Daran ändern auch die religiösen Nischen nichts, etwa die Übertragung von Fernsehgottesdiensten oder das »Wort zum Sonntag«. Solche Sendungen führen eine Ghettoexistenz. Sie bestätigen in ihrer Isolierung die These von der Fernsehwelt ohne Gott. Denkbar, dass der Moderator am Beginn einer beliebten Fernsehshow alle Anwesenden in der riesigen Halle auffordert, im Sinne political correcter Gesundheitsreligion einige gesundheitsfördernde...