Gotthard Fuchs
„Gott ist eine Anstrengung, die Götter sind ein Vergnügen“
Zwei Momentaufnahmen vorneweg: Tragisch ist es, dass in unserem Kulturkreis schon das Wort „Gott“ immer noch die Vorstellung einer abgehobenen Sonderwelt mehr oder weniger „transzendenter“ Art hervorruft. Viele, wenn nicht alle Formen des Atheismus beziehen sich mit Recht kritisch auf diese tendenzielle Spaltung der Wirklichkeit und des Lebens. Wenn überhaupt sinnvoll von dem Geheimnis, das wir Gott nennen, gesprochen werden kann – sei es bejahend oder bestreitend –, muss es mit der ganzen Wirklichkeit zu tun haben und darf nicht unterschwellig eine Zweit- und Sonderwelt nahelegen. Der Gottesglaube ist kein Auskunftsbüro für das Jenseits und eignet sich nicht zur Behauptung von „Tiefsinn“. Wer oder was mit „Gott“ sinnvoll gemeint ist, muss in der Alltagsrealität aufweisbar sein als deren Wahrheit, als die Wirklichkeit der Wirklichkeiten. Da kommt nicht zweitrangig etwas zu der vermeintlich normalen Welt hinzu. Gott kommt allem, was ist, immer schon zuvor und bleibt ihm gegenüber. Alle großen Theo-Logen unterstreichen und entfalten das, zum Beispiel in der Rede vom ens absolutum oder summum ens, vom absoluten Sein oder dem höchsten Sein – und besonders vom Jenseits des Seins. Gott als die Wirklichkeit, als das, über das hinaus nichts Größeres gedacht und gelebt werden kann.
Das Zweite: Gott ist, wenn überhaupt, kein exklusives Thema der Kirchen mehr. Dieser Tatbestand ist, jedenfalls in christlicher Perspektive, hoch erfreulich. Wenn sinnvoll von Gott die Rede sein soll, geht es um Lebens- und Überlebensfragen, auf die jeder Mensch ansprechbar ist und die mit der Zukunft von Erde und Welt zu tun haben: Wie können wir Verhältnisse schaffen, in denen jeder Mensch gerecht leben kann, ohne dass wir den Planeten zerstören? Was ist mit den unschuldigen Opfern der Geschichte, was mit den Täter(innen)? Was mit dem Gelingen der Liebe angesichts des Todes? Warum, trotz und in aller Vergänglichkeit, das Schöne und Gute? Warum die Gewalt und das Böse? Was ist mit dem Einzelnen im Kosmos? Die Verkirchlichung des Christlichen und seine „Verreligiosisierung“ waren zwar immer wieder im Gang, mündeten jedoch in Engführungen. Manche Klage über den modernen Menschen, der mit „Gott“ nichts anfangen könne, spiegelt zunächst einmal nur die Befreiung aus solch kirchlicher und religiöser Gefangenschaft. Auch der Atheismus je unterschiedlicher Prägung ist die Destruktion einer Art von Gottesrede, die ihre existentielle Erdung, ihre geschichtliche Kraft und ihre vitalisierende Energie verloren hat.
Die dadurch entstehenden Leerstellen haben eine sogartige Anziehungskraft für Formen des Religiösen und „Heiligen“, die man gern in jenem „Feuerbach“ der Religionskritik gereinigt sähe, dem sich auch das westliche Christentum seit der Aufklärung ausgesetzt sieht, zwecks kräftiger Reinigung seines Wahrheitsanspruchs. Zu den ideologieverdächtigen Formen postsäkularer Selbst- und Weltdeutung gehört die Konjunktur dessen, was man religionsgeschichtlich Polytheismus nannte. An Religion ist ja in der Postmoderne kein Mangel, und theologisch mindestens ebenso herausfordernd wie die verschiedenen Atheismen sind die Polytheismen neo- und interreligiöser Spielart. Martin Luthers Kurzformel einer schon augustinischen Einsicht bringt es auf den Punkt: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott oder dein Abgott“. Oder mit Gilbert Keith Chesterton: „Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht an nichts, sondern an alles.“
Die Gottesfrage entpuppt sich als Frage nach den Mächten und Gewalten, von denen Menschen, Gruppen und Gesellschaften bestimmt und abhängig sind. Die frei flottierende Rede vom Religiösen und Spirituellen, vom Mystischen gar, verdeckt diese polytheistischen Abhängigkeitsstrukturen, die biblisch „Götzen“ heißen. In welchem der vielen Erbauungsbücher aus der Abteilung „Spiritualität“ oder gar „Mystik“ kommt zum Beispiel zentral das Thema „Geld“ vor ? Dabei sollte doch seit Walter Benjamins Aussage von 1921 eines längst klar sein: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken“, denn „er dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die die ehemals so genannten Religionen Antwort gaben“. Wo aber in den gängigen Mystik-Diskursen und Mystikbüchern wird – zum Beispiel – thematisiert, dass es auch eine braune „Mystik“ der Nazis und eine schwarze der Faschisten gab und gibt und dass auch die heutige Konsumkultur ihre „Mystik“ hat?
Zum Wesen der Religion(en) und ihrer jeweiligen Mystik(en) gehört schattenstark auch ihr mögliches Unwesen, was schon der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte beschrieben hatte. Um die Frage nach „Gott und Götzen“ lapidar zu markieren, genügt Thomas Manns Satz aus dem Roman „Joseph und seine Brüder“: „Gott ist eine Anstrengung, die Götter sind ein Vergnügen.“ Denn vergleichbar der lebenslangen Liebesbindung an einen Menschen ist die biblische Glaubensbindung an einen Gott eine durchaus herausfordernde Geschichte, die ihr eigenes Glück und ihren eigenen Stress hat. Polytheismus geht leichter: Zwar bleibt der Reiz der Vielfalt vergnüglicher, und solche Pluralität hat durchaus ihren Gewinn. Aber die entschiedene Bindung an eine Person setzt besondere Energien frei und eröffnet durch Einwurzelung eine besondere Dichte und Weite. Die größte Not des Atheisten sei es, dass er nicht wisse, wohin mit seinem Dank, bestätigte der Schriftsteller Elias Canetti aus eigener Erfahrung. Und das gilt auch für das Bitten und Klagen. Eine erste und einzige „Adresse“ zu haben, gehört zu den Kostbarkeiten biblischer Glaubenserfahrung und Gottespraxis.
Im „ersten heidnischen Jahrhundert nach Christus“, wie der Philosoph Peter Sloterdijk unsere Zeit bezeichnet, gilt es also, neu zu fragen, was denn die christliche Pointe im neo- und interreligiösen Gespräch sei – nicht, um sich elitär und imperial über andere zu erheben, sondern um des aufrichtigen Dialogs und um jener Streitkultur willen, an der sich Leben und Überleben aller entscheidet. „Gott klingt wie eine Antwort. Und das ist das Verderbliche an diesem Wort, das so oft als Antwort gebraucht wird. Er hätte einen Namen haben müssen, der wie eine Frage klingt“, so der Schriftsteller Cees Nooteboom. Um diesen Namen neu buchstabieren zu lernen, ist der Wink der Philosophin Simone Weil hilfreich: Die Erfahrungen von Schönheit und Unglück seien die unmittelbarsten Zugangswege zum Geheimnis göttlicher Gegenwart. Hier begegne mitten im Bedingten das Unbedingte. Wer nicht an Gott glauben kann, achte umso mehr auf dieses Doppelalphabet von Sehnsucht und Verzweiflung: Wohin fließen beglückend Leidenschaft und Hoffnungsenergie – und wo ist zahnwehhaft der Schmerz zu spüren, dass es nicht stimmt mit dem Leben und der Welt? Der irische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Clive Staples Lewis bekannte: „Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen, in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind Sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.“
Sagen wir also unverblümt und direkt, was das Besondere am biblischen Gottesglauben ist – und das, wie es sich theologisch gehört, mit einem klassischen Kernsatz, den Papst Leo I. geprägt hat: „Der Unbegreifliche wollte sich begreiflich machen.“ Christenmenschen können und wollen nicht Gott sagen ohne Jesus, den sie deshalb (ihren) Christus nennen, ihren Schatz. In der realen Geschichte dieses Menschen erkennen sie glaubend jenes erste und letzte Geheimnis aller Wirklichkeit, über das hinaus kein größeres gewusst und gelebt sein kann. Nicht nur Liebe ist sein Wesen, sondern Feindesliebe, schlechterdings zuvorkommende schöpferisch vergebende Präsenz. Warum denn sonst ist jeder Mensch ansprechbar auf Lob, Anerkennung und Wertschätzung, so stumpf oder verschlossen er auch geworden sein mag? Weil er aus einer größeren Liebe stammt und kein Blindgänger der Evolution ist! In der Jesus-Revolution kommt diese Schöpfungszuversicht neu und ursprünglich wieder zur Geltung. Gott ist (Feindes-) Liebe, und die gilt es zu praktizieren.
Die damit verbundene Passion – Leidenschaft und Leiden – deckt auf, wie die Verhältnisse seit Kain und Abel jenseits von Eden noch sind: gewaltförmig, von Angst und Gier schwer angefressen. Deshalb ist biblischer Gottesglaube ohne konfliktfähige Gewaltlosigkeit und heilende Leidsensibilität nicht zu haben. „Der falsche Gott macht aus dem Leiden Gewalt. Der wahre Gott macht aus der Gewalt Leiden“, formulierte Simone Weil. Und das schafft Gerechtigkeit und Frieden.
Solche Unterscheidung von Gott und Götzen wird konkret im jeweiligen Lebensentwurf, in Selbst- und Weltgestaltung. „Gott kennen, heißt wissen, was zu tun ist“, sagte der Philosoph Emmanuel Levinas. Im Sinne des christlichen Taufversprechens lautet die zentrale Frage nicht, ob Gott ist, denn die Welt ist voller Götter, und jeder Mensch braucht was zum Anbeten. Sondern: welcher Gott?
Darin erscheint biblisch die Frage Gottes nach uns: Adam / Eva, wo bist du? Ganz im Sinne des Gedichtes von Andreas Knapp:
von gott aus gesehen
ist unser suchen nach gott
vielleicht die weise wie er uns auf der spur bleibt
und unser hunger nach ihm das mittel
mit dem er unser leben nährt
ist unser irrendes pilgern
das zelt in dem gott zu gast ist
und unser warten auf ihn
sein geduldiges anklopfen
ist unsere sehnsucht nach gott
die flamme seiner gegenwart
und unser zweifel der raum
in dem gott an uns...