An solch einen Gott
würde ich nicht glauben!
Wie gesagt: Wenn ich die Afrika-Geschichte erzähle, dann widersprechen manche Menschen und sehen mich fast mitleidig an: Und das bei einem Priester? Kann so einer überhaupt Priester sein, will man sich von so einem überhaupt die Sakramente spenden lassen?
Ich verstehe diese Reaktion nur zu gut. Ich habe mich selbst oft gefragt, was diese Nacht damals verändert hat. Ich habe oben geschrieben, mein Glaube habe überlebt. Eigentlich stimmt das nicht oder ist zumindest nicht richtig formuliert. Mein Glaube war schlichtweg nicht in Gefahr. Er hat keinen Schaden genommen, weil er nicht bedroht war. Ich war in Lebensgefahr, aber nicht in Glaubensgefahr. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich besonders glauben würde, fest und stark. Nein, das Zweifeln und Suchen, das kennzeichnet meinen Weg. Doch nach dieser Nacht glaubte ich immer noch, dass es so etwas oder jemanden wie Gott gebe und dass er für mich da sei, selbst wenn ich in dieser Nacht gestorben wäre. Nicht er wäre dann jedoch die Ursache für meinen Tod oder der Grund für eine unterbliebene Rettung gewesen, sondern meine Unüberlegtheit. Manches Ursache-Wirkungs-Denken in Katastrophen macht Gott für ein individuelles Geschehen verantwortlich. In dieser Vorstellung bekommt Gott einen äußerst eng umrissenen Wirkungsraum zugewiesen: Er soll retten in Gefahr und Not, denn wozu ist er sonst Gott oder von konkretem und praktischem Nutzen? Ich war mir meines Gottes und seiner Gegenwart in jeder Sekunde gewiss und habe an seiner Existenz nicht mehr gezweifelt, als ich es sonst tue.
Unter diesen dramatischen Umständen ist mir noch etwas anderes bewusst geworden: Wenn du überlebst, wirst du in deinem Leben nichts ändern. Du hast den Beruf ergriffen, der dich begeistert, du verrichtest ihn gerne und wirst das weitermachen. Du hast Entscheidungen gefällt mit Konsequenzen und wirst mit diesen Entscheidungen weiterleben, auch nach dem vierzigsten Lebensjahr in der zweiten Lebenshälfte. Fehler sind mir schon früher bewusst geworden und selbstverständlich gibt es Dinge, die ich bereue. Doch damals in Afrika, angekommen im neuen Jahrtausend, fiel mir nichts ein, was ich grundlegend an meinem Leben hätte ändern wollen. Ich hätte auf die stundenlange Todesangst gerne verzichtet. Doch diese Erkenntnis erfüllt mich bis heute mit großer Dankbarkeit.
Genauso bin ich dankbar, dass mir damals in aller Deutlichkeit mein Gottesbild noch einmal klarer geworden ist: Ich glaube an einen Gott und auch, wenn ich sein Wirken in dieser Welt für möglich halte, so erstreckt es sich nicht auf das Verjagen von wilden Tieren. Ich glaube nicht an einen Gott, der mich vor der Gefahr rettet, sondern mit mir in der Gefahr ist; der mich nicht vor dem Tod bewahrt, sondern im Tod bewahren wird.
Das mit dem Gottesbild ist für mich nichts Nebensächliches. Wenn Menschen von ihren Gottesvorstellungen erzählen und warum sie nicht glauben, dann kann ich ihnen meist zustimmen, denn an einen solchen Gott würde ich auch nicht glauben! Gerade bei Katastrophen wird Gott oft in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung gesehen. Fast zwangsläufig scheinen solche Gedanken uns in den Momenten in den Sinn zu kommen, wenn ein hartes Schicksal uns trifft: Warum ich? Warum passiert mir das? Womit habe ich das verdient? Diese Frage nach einer Ursache, nach dem Grund, weshalb etwas gerade mir widerfährt, womit ich das verdient habe, diese Frage scheint uns innezuwohnen. Ein Gott, der allerdings nur dann eine Chance bei mir hat, wenn es mir schlecht geht und der dann auch noch eine mögliche Ursache dafür sein könnte, der hat von vornherein schlechte Karten. Dass so ein Gott irgendwann aus dem Spiel des Lebens aussortiert wird, das kann man verstehen. Doch kann es auch daran liegen, dass der Spieler die Regeln des Spieles falsch verstanden hat.
Manchmal erscheint es besonders fromm, wenn man die Spielregeln falsch versteht. Wenn man Gott in höchster Not anruft, blind auf ihn vertraut und ihm auch das Irdische überlässt. Nur ist diese Frömmigkeit kein Beweis für einen besonders gefestigten Glauben und kann sogar als Gegenargument zu Gott dienen. Beim Tsunami im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 starben über 230.000 Menschen. Für die Christen fällt auf dieses Datum der zweite Weihnachtstag. Ob das, was mir berichtet wurde, den Tatsachen entspricht, weiß ich ehrlicherweise nicht. Eigentlich will ich es auch gar nicht wissen, denn die Schlussfolgerung wäre entsetzlich. Denn an jenem Tag soll ein Priester auf der Insel Sumatra, die vom Tsunami am schwersten getroffen wurde, die Weihnachtsmesse in der Kirche auf einem Hügel besonders feierlich zelebriert haben. Dadurch seien alle Menschen länger in der Kirche geblieben und gerettet worden. Nun gibt es tatsächlich Christen, die dies als eine Rettung durch Gottes Wirken ansehen. Was im ersten Moment vielleicht wie ein besonders starker Glaube daherkommt, erweist sich bei näherer Betrachtung als die Vorstellung eines menschenverachtenden Gottes. Da scheint Gott bei einer Katastrophe den Menschen zu Hilfe zu kommen, die ihn verehren, und so stellt sich ihr Glaube als der wahre heraus. Es verschlägt mir den Atem, solch eine Vorstellung überhaupt weiterzudenken! Zwar war Gott nicht der Auslöser der Katastrophe, so weit geht die Behauptung nicht. Doch er rettet nach dieser Deutung Menschen, jedoch nur die frommen Christen. Die anderen lässt er untergehen. Da entsteht das Bild eines Gottes, der gleichsam über Leichen geht. Denn wer die Rettung Gott zuschreibt, der kann ihn nicht aus der Verantwortung entlassen für die Untergegangenen. Wer die Existenz seines Gottes mit der erwiesenen Funktionalität dieses Gottes zu begründen versucht, der belastet diese Existenz umgekehrt auch mit jedem Versagen. Wer angesichts einer Katastrophe versucht, seinem Gott durch waghalsige Erklärungen das Überleben zu sichern, der versucht letztlich eher, seinen Glauben zu retten, der in der Katastrophe ebenfalls unterzugehen droht. Ich glaube jedoch vielmehr an einen Gott, der in diese Welt gekommen ist, um mit den Menschen zu leben und zu sterben. In den persönlichen wie den allgemeinen Katastrophen richten sich Menschen hilfesuchend an ihren Gott. Die Hoffnung auf Rettung treibt sie an und sie rufen um Hilfe. Doch mein Gott überlebt nicht nur, wenn ich überlebe, sondern er geht mit mir unter, um mich am Ende meines Lebens zur Auferstehung zu führen.
Genauso wenig, wie ich an einen Gott glaube, der die Frommen und Betenden eher rettet, so wenig glaube ich an einen Gott, der Glück und Gesundheit einfach zufällig ausschüttet. Denn es wäre ja konsequent, Gott gerade auch dann zu fragen, wenn man im Lotto gewonnen, seine Traumfrau gefunden oder eine gute medizinische Nachricht erhalten hat: Womit habe ich das verdient? Warum ausgerechnet ich? Ist das denn fair? Wenn diese Fragen gelten, dann nicht nur in Not und Verzweiflung, sondern auch in glücklichen Zeiten und bei positiven Ereignissen. Doch auch hier glaube ich nicht an ein Verhältnis von Ursache und Wirkung im Hinblick auf Gott. Ob positiv oder negativ, glücklich oder unglücklich, ja sogar Leben oder Tod: Ich glaube an Gott als die Instanz, die hinter allem steht, als Schöpfer all dessen, was ist. Aber ich glaube nicht daran, dass er vom Himmel Glück und Pech entweder wahllos verteilt oder sogar mit Absicht.
Dieser Glaube hat viel damit zu tun, dass ich meine Gottesvorstellung und die, die ich gelernt habe, immer mehr hinterfrage. Je länger ich bete – und ich tue es mein ganzes Leben –, desto schwerer fällt es mir, Gott mit Attributen zu versehen wie allmächtig, barmherzig, gerecht, gnädig. Jedes dieser Attribute sagt etwas über das Wesen Gottes aus, stößt aber auch an Grenzen. Der Versuch, Gott damit näher zu beschreiben oder zu definieren, erschwert manchmal unbeabsichtigterweise das Verständnis von Gott. Wenn Gott allmächtig ist, warum nutzt er dann seine Macht nicht zum Wohle seiner Schöpfung? Wenn er barmherzig ist, warum geht es oft so unbarmherzig zu in dieser Welt? Wenn seine Gerechtigkeit schon so wenig zu sehen ist, warum lässt er dann nicht wenigstens mehr von Gnade spüren? Jedes Attribut für Gott lässt sich theologisch begründen, doch was in der Theologie Stand hält, das scheitert nicht selten an den Klippen des Alltags. Kindern sollte selbstverständlich ein bedingungslos »lieber Gott« vermittelt werden. Doch wenn wir uns als Erwachsene an Gott wenden, wie tun wir das dann? Wer ist dann mein Gegenüber? Mit welcher Absicht wende ich mich an ihn, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt? Ein Erwachsener nimmt die Welt, in der er lebt, doch anders wahr als ein Kind. So berechtigt und richtig es ist, einem Kind Liebe, Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln, so weiß doch der erwachsene Mensch, dass diese Begriffe in einer vergänglichen Welt nur eine relative Zuverlässigkeit besitzen. Wachsende Erkenntnis im Verlauf des Lebens sollte auch Auswirkungen haben auf das Gottesbild. Ein kindlicher Glaube ist nicht dasselbe wie ein kindischer Glaube. Auch wenn Jesus sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen«6, steht da ausdrücklich »werdet« und nicht »bleibet«. Der Kinderglaube muss auch eine Transformation durchlaufen, indem er erwachsen wird. Tut er dies nicht, dann wirkt er auf Dauer nicht mehr kindlich, sondern bei Erwachsenen naiv und einfältig. Er bedarf der Reifung und Wandlung, vom Kinderglauben zu dem eines Erwachsenen, bis wir schließlich mit der Weisheit des Alters wieder zu einem kindlichen Glauben finden können.
Ich war...