2. Gott ist der absolute Humanist
In seinem Buch »Der Mensch im Widerspruch« schrieb der reformierte Schweizer Theologe Emil Brunner (1889–1966): »[F]ür jede Kultur, für jede Geschichtsepoche gilt der Satz: ›Sage mir, was für einen Gott du hast, und ich will dir sagen, wie es um deine Menschlichkeit steht.‹«1 Ich glaube, diese Aussage muss präzisiert werden, denn wenn wir uns mit Gott beschäftigen, kann es nicht allein um die Frage gehen, mit welchen Merkmalen Gott aus der jeweiligen kulturellen oder geschichtlichen Perspektive beschrieben wird, sondern wir müssen unseren Blick vor allem auch darauf richten, an wen oder an was dieser Gott glaubt. Daher müsste es doch viel treffender heißen: »Sage mir, woran dein Gott glaubt, und ich sage dir, wie es um deine Menschlichkeit steht.« So kann der Mensch etwa an einem Gott festhalten, der nur an sich selbst glaubt, dem es also lediglich um sich selbst geht. Religiösen und politischen Institutionen, die allein am Erhalt und Ausbau ihrer Macht interessiert sind, ist ein derartiges Gottesbild willkommen, weil sich damit eine Mentalität des Sich-bevormunden-Lassens durch Autoritäten und somit der Unterwerfung unter ihre Macht etablieren lässt. Solche Institutionen, die meinen, das Volk zähmen zu müssen, werden jeden Versuch unterbinden, den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses von Religionen zu stellen. Man kann aber auch an einen Gott glauben, dem es nicht um sich selbst geht, sondern um den Menschen. Ein solches Gottesverständnis gibt dem Menschen seine Mündigkeit zurück; der Mensch muss seine Autonomie nicht von Gott erkämpfen, er kann sich vielmehr gemeinsam mit diesem Gott, der an ihn glaubt, von jeglicher Form der religiösen oder nichtreligiösen Bevormundung befreien. In meinem Buch »Islam ist Barmherzigkeit« habe ich mich aus einer islamischen theologischen Perspektive für das Konzept eines barmherzigen Gottes stark gemacht, der an den Menschen glaubt, der ihn und seine Kooperation will, der ihm vertraut und ihn daher mit Freiheit ausstattet. Denn nur mit dem Glauben an solch einen humanistischen Gott kann den Anhängern dieses Gottes aus ihrem Glauben heraus eine Grundlage erwachsen, den Menschen als solchen zu würdigen. Das Hauptproblem einiger religiöser Menschen besteht jedoch darin, dass sie – wenn auch unbewusst – von einem Gottesbild ausgehen, das Gott als Antihumanisten darstellt. Sie stellen sich einen Gott vor, dem es um die eigene Verherrlichung durch die Menschen geht und der sie zu seinen Marionetten machen will, deren Rolle lediglich darin besteht, Instruktionen zu empfangen, die sie unhinterfragt ausführen müssen; ansonsten droht ihnen der Zorn Gottes, schlimmstenfalls das Höllenfeuer. Dadurch konstruieren gerade gläubige Menschen eine künstliche Spannung zwischen sich selbst und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Freiheit und ihrer Mündigkeit auf der einen Seite und Gott auf der anderen. Eine Spannung, die von Religionskritikern als Argument gegen Religionen verwendet wird.
Der Islam, wie ich ihn verstehe und für den ich mich stark mache, beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung völlig anders, nämlich als eine partnerschaftliche Beziehung. Weder will Gott den Menschen bevormunden, noch soll sich der Mensch für göttlich halten. Gott will den Menschen, er glaubt an ihn, er will seine Glückseligkeit, er hat sich auf ihn eingelassen und sich für ihn entschieden, deshalb ist Gott ein Humanist. Im Folgenden gehe ich auf die wesentlichen Aspekte im Islam ein, die diesen göttlichen Humanismus beschreiben.
Der Islam kennt keinen Sündenfall
Wenn wir den Stellenwert des Menschen im Islam verstehen wollen, ist gerade die Erzählung von der Erschaffung des Menschen, wie sie an verschiedenen Orten im Koran zu finden ist, äußerst aufschlussreich. Diese Erzählung richtig einzuordnen, scheint mir entscheidend, um überhaupt das islamische Gott-Mensch-Verhältnis zu begreifen. Bevor ich aber etwas detaillierter auf diese Erzählung eingehe, sei Folgendes angemerkt: Der Koran schildert die Erschaffung des Menschen keineswegs deshalb, weil es ihm um die Geschichtlichkeit dieser und ähnlicher Erzählungen geht. Der Koran will keine historischen Fakten liefern, man stößt auf keine Daten und kaum auf Namen von Orten oder Personen; die Absicht des Korans ist es vielmehr, etwas über Gottes Intention, über Gottes Handeln in der Welt und über die Gott-Mensch-Beziehung zu vermitteln. Der Versuch, eine Debatte über eine wie auch immer verstandene historische Wirklichkeit koranischer Erzählungen zu konstruieren, ist daher überflüssig und alles andere als zielführend.
Die koranische Erzählung von der Erschaffung des Menschen beginnt mit einem Dialog zwischen Gott und den Engeln. Zu Beginn dieses Dialogs verkündet Gott ihnen, er habe vor, einen Menschen zu erschaffen und auf der Erde einzusetzen: »Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ›Ich will einen Statthalter (arab. chalīfa) auf Erden einsetzen […]‹«2. Die hier verwendete Bezeichnung »Chalīfa« (im deutschen Sprachgebrauch auch »Kalif«) charakterisiert den Menschen als Statthalter oder Stellvertreter, der Gottes Intention durch sein eigenes Handeln Wirklichkeit werden lässt. Später werde ich noch ausführlicher auf diesen zentralen Gedanken eingehen, wonach Gott nicht direkt in die Welt eingreift, sondern hauptsächlich durch die Kooperation mit dem Menschen, der sich in Freiheit für diese Zusammenarbeit entschließt.
Aber zurück zur Erzählung: Die Engel reagieren auf die Ankündigung Gottes alles andere als begeistert. Zwei Argumente setzen sie seinem Vorhaben entgegen. Das erste bezieht sich auf den Menschen: Die Engel behaupten, der Mensch sei lediglich ein Unheilstifter und werde nur Blut vergießen. Das zweite Argument gilt der Intention, welche die Engel hinter Gottes Vorhaben vermuteten; sie gehen nämlich davon aus, dass es Gott mit der Erschaffung des Menschen um seine eigene Verherrlichung und Anbetung gehe, und meinen: »Wir verherrlichen und beten dich an [also wozu noch der Mensch?].«3 Ein Missverständnis, wie es auch heute bei einigen Gläubigen anzutreffen ist, deren religiöse Praxis darauf gründet, Gott drehe sich nur um sich selbst. Mit der Konsequenz, dass ihr Verhältnis zu Gott und dadurch ihr Glaube primär als Verherrlichung Gottes gelebt und erfahren wird und seinen Bezug zum Lebensentwurf des Menschen verliert. Die Schöpfungserzählung macht aber gerade auf dieses Missverständnis aufmerksam, denn ginge es Gott nur um seine eigene Verherrlichung, hätten die Engel recht und das Gespräch wäre zu Ende: Die Engel erfüllen diese Aufgabe bereits – wozu also noch ein weiteres Geschöpf? Doch offensichtlich ist die Absicht Gottes, wie er sich in der koranischen Schöpfungserzählung präsentiert, eine ganz andere. Auf ihren skeptischen Einwand antwortet er den Engeln: »›Ich weiß, was ihr nicht wisst.‹«4 Es geht ihm offensichtlich um den Menschen, und zwar um den freien Menschen, denn die Schöpfungserzählung geht weiter.
Anders als die Engel, die ihre Skepsis gegenüber dem Vorhaben Gottes äußerten, zeigte Gott ihnen in diesem Dialog seinen Glauben an den Menschen und sein Vertrauen in ihn auf. Gott erschafft Adam, haucht ihm von seinem Geist ein (als Symbol des »Anderen«, des »Göttlichen« im Menschen und somit seiner Fähigkeit, sich jeder transzendenten Erfahrung zu öffnen) und bringt ihm alle Namen bei (als Symbol der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und somit seiner Vernunft).5 Daraufhin befiehlt Gott den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen. Die Engel folgen dem Befehl, alle bis auf einen, Iblis, der dadurch zum Erzteufel wird. Worin besteht die eigentliche Sünde, die Iblis nach koranischer Darstellung begangen hat? Es ist die aus seinem Hochmut resultierende Ablehnung, den Menschen zu würdigen. Iblis hat kein Problem damit, sich vor Gott niederzuwerfen, allerdings weigert er sich, sich vor dem Menschen niederzuwerfen. Dadurch erteilt Iblis nicht nur Adam, sondern dem Menschen als solchem eine Absage. Der Koran spricht deshalb an einer anderen Stelle von den Menschen im Plural: »Und wir haben euch Menschen erschaffen. Hierauf gaben wir euch eine Gestalt. Hierauf sagten wir zu den Engeln: ›Werft euch vor Adam nieder!‹ Da warfen sie sich alle nieder, außer Iblis […]«6 Iblis steht im Koran also exemplarisch für jeden, der nicht an den Menschen als freies, mit einer unveräußerlichen Würde versehenes und vernünftiges Wesen glaubt, auch wenn er an Gott glaubt und, wie Iblis, bereit wäre, sich vor Gott niederzuwerfen. Das ist auch eine klare Botschaft an alle Fundamentalisten in allen Religionen, die meinen, Gott näher zu kommen, indem sie andere Menschen diskreditieren.
Doch die Erzählung geht noch weiter: Neben Adam hat Gott auch Eva im Paradies erschaffen und beiden verboten, von den Früchten des Baums zu essen. Anders als in der biblischen Darstellung wird im Koran nicht erwähnt, um welchen Baum es sich hierbei handelt. Und ein weiterer Unterschied existiert: Beide, Adam und Eva, werden vom Teufel verführt und haben von den Früchten des verbotenen Baums gegessen, ohne dass weiter darauf eingegangen wird, wer von beiden als Erster die Initiative ergriffen hat. Als sie davon gegessen haben, wird ihnen bewusst, dass sie sich Gottes Befehl widersetzt haben. Sie bitten Gott um Vergebung, Gott vergibt ihnen sofort und schickt sie daraufhin auf die Erde, damit sie ihren Auftrag als »Kalif« erfüllen können (Koran 2:34–38). Nun lässt sich fragen: Wenn der Mensch von Anfang an auf der Erde leben sollte (so die Ankündigung Gottes an die Engel), wieso muss er zunächst im Paradies verweilen, wo er sündigt, und wird erst dann auf die Erde hinabgesandt? Meine Antwort lautet: Wenn von...