1. Gott ist nicht zum Kuscheln da: Ein falsches Gottesbild
»Gott ist nicht nett. Er liebt einige mehr als andere.« Meine Studenten in einem Einführungskurs in die Theologie wirkten auf einmal aufgeregt. Manche Gesichter sahen verstört aus, andere gereizt, wieder andere wie vor den Kopf gestoßen. Ich hielt mein Lächeln zurück, denn schließlich wollte ich meine Studierenden ja auf etwas Wichtiges hinweisen, aber es war einer der Momente, die das Herz jedes Lehrers höher schlagen lassen – der Augenblick, in dem etwas in den Köpfen der Zuhörer klickt und eine Diskussion in Gang kommt. Plötzlich waren ein Dutzend Hände in der Luft, die alle darauf warteten, eine Frage zu stellen …
Aber warum hatte diese Binsenwahrheit ein solches Ergebnis? Was hatte meine Studenten denn so verstört, dass sie auf einmal aus ihren Lehrbüchern aufblickten? Die Antwort ist, wie ich meine, ganz einfach: Sie hatten bisher noch nie jemanden so etwas Unbequemes sagen gehört wie »Gott ist nicht nett« oder »Gott ist nicht lieb« oder »Gott ist nicht zum Kuscheln da«. Meine Spitze hatte den zentralen Glaubenssatz getroffen, der uns von der Popkultur, sozialen Medien und leider auch vielen Kirchenvertretern eingetrichtert wird: Wenn Gott existiert, dann ist er »ganz lieb« und tut, worum wir ihn bitten. Er ist kein Gott der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern der Gott des Wohlfühlens. Man kann mit ihm alles aushandeln, wie mit einem freundlichen Verkäufer auf einem Basar. Für alles findet dieser Gott eine Entschuldigung, sei es Ehebruch, Pornografie, Gier oder Geiz. So ein Gott ist flexibel und wir biegen ihn uns zurecht, sodass wir unser Leben nicht nach ihm ausrichten müssen.
Der Gott, den uns die seichten Propheten vorgaukeln, ist wie ein göttlicher Therapeut. Das Bild hat natürlich etwas für sich und ist biblisch (vgl. Lk 5,31), wenn man es richtig versteht: Christus ist der einzige Arzt, aber die heutige Umdeutung macht ihn zu einem teilnahmslosen Therapeuten, der einfach nur zuhört, aber keine Analyse abgibt und schon gar keine radikalen Maßnahmen vorschlägt. Gott wird zum Kummerkasten herabgewürdigt, an den wir uns wenden, wenn es uns schlecht geht, den wir aber links liegen lassen, sobald Schmerz und Leid verflogen sind. So ein Gott ist bequem, weil man für ihn das Leben nicht verändern muss. Man muss sich nicht von ihm fragen lassen, ob man alles Materielle höher schätzt als die Liebe zu Gott, ob man seine Nächsten wirklich liebt und Jesus nachfolgt. Warum sollte man das Leben für eine Kummerkastentante auch ändern? Gott ist so an den Rand gedrängt, dass er nur mehr zu speziellen Zeiten aus der Verpackung genommen wird, ähnlich wie der Christbaumschmuck.
Zuerst dachte ich, dass die Ursache im Religionsunterricht liegen müsse, den diese Studenten erhalten haben. Aber als ich meinen eigenen Kindern genauer zuhörte, die ich selber im Glauben erziehe, fiel mir auf, dass auch diese oft so über Gott sprachen, als sei er einfach nur nett. Das war ein Schlüsselerlebnis; mir wurde klar: Wenn wir nicht wollen, dass die Kirchen noch leerer werden, dann müssen wir den langweiligen Gott gesellschaftlicher Erwartungen aus unseren Seelenwohnungen verbannen.
Ich selbst bin nicht immun gegen die Anfechtungen eines solchen Gottesbildes. Oft ertappe ich mich dabei, meine Beziehung zu Gott selbst zu vernachlässigen, sie zur Routine werden zu lassen, sie im Konventionellen zu ertränken.
Das Wort Konvention bedeutet zuallererst, dass etwas allgemein ist, eine Übereinkunft. Konventionelles bewegt sich also in ausgetretenen Bahnen und ist nicht aufregend; Konventionelles gibt Sicherheit, stabile Emotionen, aber kein Leben und kein Abenteuer. Bestenfalls geben uns Konventionen ein Gefühl des Wohlgefallens, bis das nächste Erlebnis angestrebt wird, aus dem wir uns Glücksgefühle versprechen. Im Glauben führt es dazu, dass wir die Beziehung zu Gott konventionell werden lassen. Damit sind keineswegs Rituale wie das Stundengebet gemeint, sondern die innere Einstellung, die Gott an den Rand drängt. Wir erwarten von Gott nichts mehr, weil die Gesellschaft um uns herum die Konvention aufgestellt hat, dass Gott höchstens ein schmückendes Beiwerk sein darf, aber nichts, was den Menschen von Grund auf verändert. Man geht am Sonntag höchstens in die Kirche; vom Streben nach Heiligkeit zu reden würde als verrückt gebrandmarkt. In kaum einer Predigt im deutschsprachigen Raum habe ich je davon gehört.
In meinen beinahe 15 Jahren als Theologieprofessor war ich immer wieder erstaunt, dass das am meisten vorgebrachte Standardargument gegen das Christentum nichts mit intellektuellen Schwierigkeiten zu tun hat, sondern eigentlich ein Vorurteil ist: dass nämlich das Christentum einfach stinklangweilig ist. Denn man meint, das Christentum beschränke sich darauf, am Sonntag in die Kirche zu laufen. Leider tut es das für viele, und das scheint mir ein Problem zu sein, welches man in der Katechese einfach nicht wahrhaben will. Niemand will den weichgespülten Gott und die entleerte Theologie, weil man anderswo bessere Glücksgefühle findet: Geht man ins Fitnessstudio, hat man einen Endorphin-Schub, geht man mit Freunden aus, genießt man Geselligkeit – das ist für viele profunder als die Eucharistie. Warum? Weil sie Gott nicht mehr ernst nehmen, da ihnen jahrzehntelang gesagt wurde, Gott würde nicht richten, strafen, aber auch nicht wollen, dass sie sich ändern. Wer auch nur eine Zeile der Bibel gelesen hat, weiß, wie abgrundtief falsch dies ist. Gott will, dass wir uns von der Sünde abwenden und ihm zukehren, dass wir nie bei uns selbst sind außer durch ihn. Anstatt ein Dorn im Fleisch der Konsumgesellschaft zu sein, sind die Kirchen kulturkonform geworden. Gott erscheint als langweilig, und konsequenterweise auch das Volk Gottes.
Deshalb brauchen wir alle die Impfung mit dem Serum des biblischen Gottes, der Menschen radikal umformt und der ein ewiges Geheimnis bleibt: Wir müssen den Gott zurückgewinnen, der Moses im brennenden Dornbusch erscheint, der durch Esel spricht, Dämonen in eine Schweineherde bannt, Saulus zu Boden wirft und einem heiligen Franziskus von Assisi erscheint. Wir müssen uns klar werden, dass der Glaube nur lebendig werden kann, wenn wir selbst Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk werden, uns an Jesus hängen. Dann wird uns plötzlich ein Gott begegnen, der die Macht hat, uns aus unserem Schlafwandel aufzurütteln, uns herauszufordern, zu verändern und unser Leben gefährlich zu machen. Er nimmt uns auf das einzige große Abenteuer mit, das sich im Leben lohnt.
Auf dem Campus meiner alten Universität stand eine alte Kapelle im Zentrum. Sie wurde im 15. Jahrhundert in Frankreich erbaut und in den 1920ern Stein für Stein nach Milwaukee gebracht. Sie ist der heiligen Johanna von Orléans geweiht. In ihrem Inneren gibt es bis heute eine Steinplatte, die die Heilige angeblich vor einer ihrer Schlachten geküsst haben soll. Johanna war ein Teenager, der sich von Gott berufen fühlte und alle Konventionen hinter sich ließ, sich in ein Leben voller Gefahren stürzte und am Ende auch einen gewaltsamen Tod starb. Für einen langweiligen Kuschelgott hätte sie das nicht getan. Hätte sie je zum wilden Gott gefunden durch eine der Predigten in deutschen Kirchen oder gar durch ein Theologiestudium? Ich glaube keinen Augenblick daran.
Wann immer ich an dieser Kapelle vorbei zu meinen Hörsälen ging, betete ich: »Heiliger Geist, führe meine Studenten und gib, dass ich keinen durch meine Worte von Dir wegführe«. Ich rief mir immer die Verantwortung ins Bewusstsein, die man als Lehrer und Universitätsprofessor hat, und die Bescheidenheit, die mich bei meinen eigenen Lehrern am meisten beeindruckt hat. Eines Tages reflektierte ich im Vorübergehen auch über meinen eigenen Glauben und es wurde mir schlagartig klar, dass er sich verwässert hatte, dass er ins Konventionelle abgeglitten war. Ich hatte mich selbst zu distanziert gegeben und in der Vorlesung zu akademisch und zu wenig über meinen eigenen Glauben gesprochen. Wie konnte ich aber andere führen, wenn ich sie nicht an meinem Glaubensleben teilnehmen ließ? Ich hatte den Studenten nicht die Ressourcen vermittelt, die sie brauchten, um mit Jesus zu wandeln, sie nicht zum lebensbringenden Quell geführt, sondern ihnen allenfalls eine Flasche abgestandenes Wasser gereicht. Mein eigener Glaube war langweilig geworden, leblos und ohne Abenteuergeist.
Diese Offenbarung war wie ein Blitz – schön und doch furchterregend. Ich fühlte das brennende Feuer, von dem die Heiligen sprachen, von Gottes Liebe, das uns verzehrt, aber nicht zerstört. Diese Einsicht zwang mich in die Knie. Ich stellte mir Jesus vor, wie er mir gegenüber steht als der Herausfordernde, der Hörende, aber auch als der Heilende. Das war der Ansporn, die Bequemlichkeitszone meines Glaubens zu verlassen, mich aufzumachen, mit Jesus zu wandern, statt stillzustehen, und ihn so in allem zu finden, wie der heilige Ignatius von Loyola sagt.
Aber wie sollte ich das meinen Studenten vermitteln? Die Antwort kam mir, als ich die Prüfungsarbeiten im Garten korrigierte. Ich hatte die Studenten gebeten, über die Israeliten und ihren Auszug aus Ägypten zu schreiben – eine faszinierende, abenteuerliche Geschichte über eine Wüstenwanderung, im Sturzwasser versinkende Soldaten und unerschütterliches Gottvertrauen. Doch was ich las, ließ sich in etwa darauf reduzieren: »Gott half den Israeliten, weil sie zu ihm gebetet haben.« Nun war das zwar nicht falsch, aber eine Verkümmerung der eigentlichen Botschaft. Ich realisierte, dass die meisten Studenten über Gott wie über einen Automaten dachten, in den wir Münzen (Gebete) einwerfen und einen Schokoladenriegel...