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Ein dritter Brief an Asaf: die erlösende Wende
Da sann ich nach, um das zu begreifen; es war eine Qual für mich, bis ich eintrat ins Heiligtum Gottes und begriff, wie sie enden. Ja, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund, du stürzt sie in Täuschung und Trug. Sie werden plötzlich zunichte, werden dahingerafft und nehmen ein schreckliches Ende, wie ein Traum, der beim Erwachen verblasst, dessen Bild man vergisst, wenn man aufsteht.
Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren; ich war töricht und ohne Verstand, war wie ein Stück Vieh vor dir.
PSALM 73,16-22; EÜ
Lieber Asaf,
gern knüpfe ich noch einmal an unser »Briefgespräch« an. Da ist diese Krise, wo dir alles wegbröckelt an unbedarft traditionellem Glauben. Du verstehst einfach nicht, warum die Welt mit ihren Widersprüchen so ist, wie sie ist. Warum die Widersacher des Guten triumphieren und warum dein mächtiger Gott das alles zulässt und nichts dagegen unternimmt.
Das kommt mir ziemlich modern vor. Auch die Art, wie du damit umgehst: nachdenken. Forschen. Grübeln. Deine Versuche, das Problem zu klären, verbinden dich mit vielen Menschen heute. Und ähnlich wie du in deiner Zeit finden auch wir heute keinen Ansatzpunkt, um die verknotete Warum-Frage zu entwirren.
Trotz Jahrtausenden des Denkens und Fragens, trotz Aufklärung und unzähliger kluger Bücher – die Theodizeefrage, die Frage nach der Gerechtigkeit, Güte und Allmacht Gottes angesichts des Leides in der Welt, die schon der griechische Philosoph Epikur und Ende des 17. Jahrhunderts dann der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz beschrieben haben, ist bis heute letztlich ungelöst: Will Gott das Übel beseitigen, aber kann nicht? Kann er, aber will nicht? Will und kann er, aber tut‘s nicht? Dieses Dilemma bleibt. Und es ist ein Motiv für Atheismus, bietet einen Grund, nicht an Gott glauben zu können und zu wollen – auch heute.
Allerdings diskutierst du in deinem Psalm keine abgehoben philosophische Theodizee-Problematik. Es ist eine sehr persönliche Erfahrung, die du durchbuchstabierst. Und auch das verbindet dich mit uns Heutigen. Auch uns rückt die Ungerechtigkeit in der Welt und das Leiden Unschuldiger dann besonders nahe, wenn‘s persönlich wird. An-Schaulich in Medien. Nach-Fühlbar in Geschichten. Mit-Erlebbar in Familie oder Nachbarschaft:
Warum ist dieser junge Mensch so todkrank? Warum hat dieser unvorsichtige Autofahrer so viele Verletzte auf dem Gewissen? Warum reißt dieser Terroranschlag so viele Unschuldige in den Tod? Warum sterben diese Kinder im Krieg? Warum siegen immer wieder die Bösen über die Guten, die Skrupellosen über die Machtlosen? Und: Warum schweigt Gott? Die Warum-Frage bohrt sich fest in Gedanken und Herz. Und findet keine Antwort.
Das ist wirklich eine »Qual«: »So sann ich nach, ob ich‘s begreifen könnte, aber es war mir zu schwer« –so der Vers 16 in der Lutherübersetzung. Ja, solch ein Nachdenken und Grübeln wird irgendwann zu schwer. Und es führt zu nichts.
Wie gut für uns heute, dass wir uns in den Worten deines Psalms wiederfinden können, wenn wir selbst keine haben. Wie gut, dass in der Bibel – zum Beispiel auch im Buch Hiob – schlimme Erfahrungen mit dem Leben und dem unverständlichen Gott nicht beschönigt werden. Dass nichts schnell mit frommen Antworten übertüncht wird. Gott sei Dank!
Gott sei Dank, dass der Gottessohn selbst in der Stunde seiner tiefsten Gottesferne am Kreuz Worte aus einem Psalm zu seinen eigenen gemacht hat – stellvertretend für alle Menschen, denen es im Leid die Sprache verschlagen hat: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Seine Warum-Frage ist ein Gebet. Und so lässt er auch uns heute wissen: Gott ist ansprechbar. Auch im dunkelsten Leid. In anscheinend auswegloser Gottverlassenheit. Die Warum-Frage wird gehört. Die Klage hat einen Adressaten. Gott ist nur ein Gebet weit entfernt. Und deshalb ganz nah. Was für ein Trost!
Lieber Asaf, ob du in all dem Nachdenken und Grübeln auch mal versucht hast, die Warum-Frage umzuwandeln – in ein Wozu? Wozu dient mir diese Krise? Kann sie mir helfen, widerstandsfähiger zu werden? Was kann vielleicht doch an Gutem wachsen aus all dem Bösen? Wozu will mich diese schlimme Erfahrung befähigen? Hilft sie mir, andere Menschen, die Ähnliches erleben, besser zu verstehen? Kann in der Krise mein Glaube wachsen und die Kraft, das Gute – trotz allem – auch im eigenen Leben zu entdecken?
Heute sprechen wir häufig von der sogenannten Resilienz, der Widerstandsfähigkeit, die Menschen im »Sturm des Lebens« an den Tag legen. Das meint, dass sich jemand eben nicht umhauen lässt von einer Krankheit, Krise, Kränkung, sondern – trotz aller Verletzungen und Schwierigkeiten – geradezu gestärkt daraus hervorgeht. Mit neuer Kraft und Sicherheit und Lebensfreude. Nicht wie ein harmloses Stehaufmännchen, das umgestoßen wird und ruck-zuck wieder aufrecht steht. Eher wie ein Baum, der vom Sturm gebeutelt und gekrümmt, aber doch nicht ausgerissen wird und weiter dem Licht entgegenwächst.
Ich schreibe dir das nur sehr zögerlich. Nicht vorschnell nach dem Motto: Alles wird gut, wenn man nur »richtig« mit einer Krise umgeht. Aber ich glaube: Es gibt Wege aus unlösbaren Fragen.
Du, Asaf, hast ja einen Weg gefunden. Einen ersten Schritt heraus aus der Krise. Den beschreibt Vers 17, eine »Scharnierstelle« in deinem Psalm: Das Grübeln quälte – »bis ich eintrat ins Heiligtum Gottes«.
Die Ausleger sind sich nicht einig, was darunter genau zu verstehen ist – »eintreten in das Heiligtum« oder auch der Plural: »in die Heiligtümer Gottes«. Ist ganz schlicht ein Tempelbesuch gemeint? Diese konkrete Deutung liegt nahe: Der Tempel als Ort der besonderen Nähe Gottes bringt die Wende. Im Gottesdienst, im Haus des Herrn beginnt die Überwindung der Glaubenskrise. Der Besuch des Heiligtums in Jerusalem als ein Weg der Klärung für den, der des Denkens und Grübelns müde geworden ist.
Oft neigen Leute – auch heute – dazu, sich von der Gemeinde zurückzuziehen, wenn sie mit dem Leben und dem Glauben nicht mehr klarkommen. Keiner soll wissen, wie‘s innerlich aussieht, hinter der frommen Fassade. Und wenn die bröckelt, dann lieber ganz wegbleiben. Keiner soll nachfragen, geschweige denn reinreden. Man kommt schon irgendwie alleine klar. Und überhaupt: Was bringt eigentlich ein Gottesdienstbesuch? Wann zuletzt hat man da etwas Bewegendes, Hilfreiches erlebt oder gar echte Nähe Gottes gespürt? Ist das alles nicht doch nur ein frommes Ritual? Und die Gemeinde ein Club von Insidern, der lieber unter sich bleibt und keinen Blick hat für den, der draußen ist und Fragen hat und Zweifel?
Ja, das ist typisch: Rückzug in der Krise. Für sich bleiben mit allen Fragen und Grübeleien und mit der Kränkung: Mich versteht ja doch keiner. Und je länger der Rückzug dauert, umso größer wird der Abstand. Umso tiefer der Frust. Vielleicht ist da noch die Spur einer Sehnsucht nach dem Heiligtum Gottes: Wie gerne würde ich wieder dazugehören. Aber ich traue mich nicht. Unsicherheit macht sich breit – auch bei denen, die »drin« sind: Wie kann ich ihn ansprechen? Wie ihr sagen, dass sie fehlt? Wie ihnen eine Brücke bauen zurück?
Du, Asaf, hast diese grüblerische Rückzugstendenz irgendwann überwunden. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es auch dich Mut gekostet hat. Dass du innere – vielleicht auch äußere – Hürden überwinden musstest. Aber irgendwann hast du gespürt: Die »Qual«, mich auf mich selbst und die eigenen verkrümmten Gedanken und Gefühle zu verlassen, wird einfach zu groß. Wenn es einen Weg für mich geben soll, muss ich umkehren. Ja, mich bekehren. Mich zu Gott hin kehren. Seine Nähe suchen. Seine Erlösung annehmen. Eintreten in »sein Heiligtum«.
Das kann ein hilfreicher Anstoß auch für uns heute sein, wenn wir mit dem Grübeln und Zweifeln am Ende sind: mal wieder einen Gottesdienst besuchen, eine Versammlung im Namen Gottes. In einer schönen Kirche, einer schlichten Kapelle oder auch einem kleinen Wohnzimmer. Vielleicht sich in die hinterste Reihe setzen. Oder zögerlich an den Rand. Aber sich doch einlassen auf die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde. Keine perfekte Show nach dem eigenen Geschmack erwarten, aber Hilfe zum Leben. Keine tadellos reine Gemeinschaft suchen, aber Menschen, die mit auf dem Weg des Glaubens sind. Nicht mit Antworten auf alle Fragen rechnen, aber die Einladung wahrnehmen: Gott will mir begegnen.
Manchmal muss man dafür den »inneren Schweinehund« überwinden, am Sonntagmorgen den Wecker stellen und rechtzeitig aufstehen. Man muss vielleicht ein paar Kilometer mit dem Auto fahren, einen fremden Raum betreten, unbekannte Leute treffen und ungewohnte Töne hören. Aber vielleicht wird man eine positive Überraschung erleben, wenn man sich traut, »einzutreten in das Heiligtum Gottes«, wenn man mit offenen Ohren und im Herzen bereit hinhört. Dann kann – vielleicht nicht beim ersten Mal, aber doch irgendwann irgendwo – das Wunder geschehen: Gott selbst kommt nahe. In der Musik. In der Predigt. Im Bibellesen. In den Leuten, die ganz überraschend mit freundlichem Blick sagen: »Schön, dich zu sehen!« – »Gut, dass du – wieder – da bist!« Und dann kann es sein: Der Knoten des Grübelns löst sich. Quälende Fragen verändern sich. Antworten kommen in Sicht.
Das lerne ich von dir, Asaf, und aus deinem Psalm: Gib dem Glauben eine Chance! Und dem...