Der große Dichter Grados, Biagio Marin, der dieses Buch begleiten wird wie die Sonne, schrieb: „Ed ecco, il passato è tutto presente e il tuo cuore sobbalza.“* Öffnen wir uns der Natur, öffnen wir uns der Zeitlosigkeit. Je mehr Natur wir in uns haben, desto zeitloser sind wir. Und noch haben wir erst ein Wagenfenster offen.
Wir befahren die Strecke der alten Via Julia Augusta, die, vom Norden kommend, sich mit Straßen aus dem Westen und Osten traf und das Gebiet einst zum bedeutenden Handelszentrum machte** – alle Wege führten nach Aquileia, und alle haben auch Teil an der Geschichte Grados.
186 v. Chr. hatte die Zahl der zugezogenen Kelten dermaßen überhandgenommen, dass der römische Senat sich veranlasst sah, eine Kolonialstadt zur Festigung der Herrschaftsansprüche zu gründen. Als die Grenzen gezogen und der erste Stein gelegt wurde, erschien ein weißer Adler (aquila) am Himmel und flog in Kreisen über den Ort – man nahm es als gutes Omen. Mit Recht, denn die kleine Siedlung, in die Rom seine edelsten Söhne und Töchter entsandte, wurde zu einer blühenden Stadt, einer der wichtigsten des ganzen Reichs. Als Ausgangspunkt für Eroberungszüge war sie zeitweise Quartier für Julius Cäsar und andere Kaiser – Friuli kommt von Forum Julii.
Die romanisierten Kelten sprachen einen lateinischen Dialekt, aus dem sich dann das Friulanische entwickelte. Dante hat als Erster darauf hingewiesen, dass im Raum Aquileia eine ganz besondere Mundart zu hören war, dort würde „Ce fastu?“ (statt „Cosa fai?“) gebrüllt, um zu fragen „Was machst du?“. Friulanisch ist auf magische Weise eng mit dem Katalanischen und Mallorquinischen verwandt (und so für Spanier leichter verständlich als für Italiener) und gehört heute mit Slowenisch, Italienisch und Deutsch zu den vier offiziellen Sprachen der autonomen Region Friaul-Julisch-Venetien.
Von all dem hatte der Reisende, als er die ersten Male hier ankam, keine Idee. Er wollte nur eines: ans Meer. Das sich, nach vielen Stunden der Anfahrt, aufreizend lange entzieht: noch eine Biegung, noch ein langes Zypressenspalier, die kurze Strecke von Palmanova wird zu einem Geduld- und (die Erregung steigernden) Vorspiel. Unbeabsichtigt ahmt der Reisende so die Bewegung nach, aus der Grado großgeworden ist: die der Flucht. Seit dem ersten Einfall nordischer Völker (barbari) blieben immer mehr Menschen in Grado, als die Gefahr vorüber war, bis 452 n. Chr. ein Schwarm Störche, der auf der Stadtmauer Aquileias sein Nest hatte, seine Kleinen sammelte und floh. Wieder nahm man das als Omen – als ein schlechtes diesmal, und wieder zurecht: Der heranstürmende Attila war schon durch starken Wind, der Häuser abdeckte und Felder verwüstete, angekündigt worden. Nun lag der Hunnenkönig vor der Stadt und erwog bereits, die Belagerung aufzugeben – doch der nämliche Schwarm auffliegender Störche erinnerte ihn an die aufgebrauchten Nahrungsvorräte und er machte sich an die Erstürmung. Die Aquileianer stellten Soldatenpuppen auf die Mauern und schifften sich bei Nacht, schwarz gekleidet und auf schwarzen Schiffen, nach Grado ein. Erst kurz vor den Mauern bemerkte Attila den Betrug, eilte zum Hafen, aber die Schiffe waren schon weit. Als sein Pferd das Wasser berührte, bäumte es sich auf und die „Geißel Gottes“ (Flagellum dei), wie Attila genannt wurde, seufzte: „Addio, bel grado!“ – er soll damit namensstiftend für eine Stadt gewesen sein, Grado, während er eine andere, Aquileia, anzündete und zerstörte. Beinahe alle Zurückgebliebenen starben.
Bewohner, die vorhatten, irgendwann von Grado zurückzukehren, versteckten ihre Schätze unter der Erde. Daher ist es manchmal heute noch Sitte, dass sich der Besitzer bei Landverkauf in einer Vertragsklausel das Recht vorbehält, auf etwa zu findende Verstecke und deren Preziosen Anspruch zu haben. Und wirklich werden immer wieder Gefäße, Vasen und andere antike Gegenstände freigelegt.
Der Name Grados hatte immer schon Anteil an der Faszination für den Reisenden.* Tatsächlich kommt er vom lateinischen gradus (Schritt, Stufe), das oft im Sinn von „Hafen“ bzw. „Ufer“ gebraucht wurde. Zwei weitere Orte, an denen Flüsse ins Meer münden, sind San Piero a Grado an der Arnomündung bei Pisa und Gradus in Südfrankreich. Und es gibt ein Grado in Asturien, am Jakobsweg. Im dortigen Dialekt heißt es – wie im Friulanischen – Grau. Wenn jedenfalls der grado di difficoltà an einem bestimmten grado della carriera hoch war, war man froh, die Flucht zur Erholung noch einmal geschafft zu haben, „grade“ noch einmal – nach Grado.
Unvergesslich die beiden ersten Annäherungen: als Knabe wasserwärts mit einem Hausboot, das im Lagunenschlamm stecken- und, bei Ebbe zur Seite gekippt, liegen blieb wie die Arche auf dem Ararat; dann, lange danach, landwärts, als Mann, dem der Atem versagte in der letzten Biegung bei Belvedere – ein Name, so oft gebraucht, und wann so untertrieben, viel zu schlicht für den Anblick, der sich da, nachdem man Aquileia und vor allem seinen duomo sträflich achtlos links (tatsächlich!) liegen gelassen hat, dartut. „Da, wo das Land unendlich sanft versinkt“*: die offene Lagune, dieses Netz aus Kanälen, weiten Wasserflächen, Sandbänken und Sumpf, dieses urzeitliche Reich, das sich vor Jahrtausenden über die ganze obere Adria hingezogen haben soll, vom Damm durchschnitten, der zur Insel führt, von Mal zu Mal vertrauter deren Silhouette, dahinter das Meer. Die Sonne war herausgekommen; umspielt war dieses gleißende und doch so unendlich sanfte Licht, dieser bittersüße Duft von Salz, Tamarisken, Akazien und Meerwermut, mit dem die Grappa gewürzt wird, von Rossinis „Stabat Mater“ – für diesen Moment komponiert.
Der duomo von Aquileia
Die Lagune als Fluchtort, beim Einfall von Feinden. Hütten aus Holz, Stroh, Schilf und Ruten wurden gebaut. Ist so Grado entstanden? Lange vor Attila … die wahre Geschichte der Sonneninsel liegt im Dunkeln. Ein Sandhügel in der Lagune, mehr war es nicht, 200 Jahre v. Chr. immerhin schon ein Fischerdorf, das ist das Früheste, was man weiß …
Vor 100 Jahren war hier, in Belvedere, Schluss mit der Landreise, die Gäste wurden in Booten nach Grado gerudert. Sigmund Freud wählte die Route mit dem Dampfboot von Aquileia über den Fluss Natissa und notierte dafür eine Reisezeit von zweieinhalb Stunden. Die Lagune fand er: „ödest“*.
Heute hat man den Damm, der die Lagune in einen Westteil (palù de soto) und einen Ostteil (palù de sora) spaltet, in Minuten überwunden, es sei denn, man nimmt ihn zu Fuß oder per Rad und stimmt sich auf das gemächliche Inseltempo ein. Selbst Gradeser (oltreponti nennt man jene, die außerhalb Grados, „jenseits der Brücke“, leben) erzählen, dass sie hier die Geschwindigkeit drosseln, überwältigt von der Schönheit der Kulisse. Ringsum die Laguneninseln, links Barbana mit der Wallfahrtskirche. Angler zu beiden Seiten. Am Ende die ponte girevole, die für größere Schiffe geöffnet wird, am Fuße der Brücke Werften und die Einfahrt des Kanals zum Alten Hafen.
Der erste Spaziergang – vorzugsweise am Strand oder am von den Österreichern errichteten Lungomare, der Meerespromenade. Verwundert lässt der Reisende die Pullover fallen. Gegen die Eiswelt seiner Heimat, die er heute Morgen verlassen hat, ist hier am Nachmittag schon Sommer – obwohl in manchen Gesichtern noch Winter steckt. Die Sehnsucht nach Grado ist immer auch die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. Ein Gefühl, sich selbst wieder „zurückzusetzen“, wie man das bei Computern selbstverständlich macht, bei sich aber gerne vergisst. Überhaupt streicheln wir uns selbst viel weniger als unsere Smartphones. Grado übernimmt das gerne. Wir können wieder lernen, was ein Meereshorizont ist (an den zu schauen die ersten Stunden schwerfällt, so hausmauer- und bildschirmverdorben sind die Augen), nach oben zu blicken und die Gedanken vom Himmel zu nehmen (wir alle haben immer so viel Himmel über uns, warum nur sind wir so bodenorientiert).
Das wirklich jedesmal Staunenmachende ist, das alles wieder da ist: die Luft, das Licht, die Stimmung, die Geräusche und die Stillen, die Häuser und die Horizonte, und alles zugleich dich anspringt, aufnimmt, integriert, als wärst auch du nie weg gewesen, als hättest du nur einen Tag verschlafen nach einem herrlichen Rausch oder einer heftigen Bootstour. Es ist so wichtig, an einen Endpunkt zu reisen, an dem es, mit den uns vertrauten Mitteln, nicht weitergeht. Man „fällt hinunter“ nach Grado – und sie fängt uns auf mit ihrer Wärme, ihrer Milde, vor allem der Österreicher erfährt hier – auch historisch...