2. Die Spur und die Wiederaufwertung der Linie
Ich habe in [meinen Zeichnungen] nicht versucht, meine Striche oder meine Wirkungen auszuarbeiten, sondern Arten offenbarer linearer Wahrheiten zu äußern, die ebenso durch Worte, geschriebene Sätze etwas gelten wie durch den Graphismus und die Perspektive der Striche.
Antonin Artaud, Das menschliche Gesicht
Eine bildwissenschaftliche Bezugnahme auf Derridas Grammatologie (1967, dt. 1974) bedarf einer Erläuterung. Sie versteht sich nicht von selbst, denn in dem betreffenden Buch sind die Bilder in auffälliger Weise abwesend – zumindest soweit es visuelle Bilder betrifft. Dennoch ist in der Grammatologie die theoretische Grundlegung dessen zu sehen, was Derrida in einigen nachfolgenden Publikationen zu Bildern ausführt, auch Bildern, die dem Register des Visuellen angehören. Dazu zählen vor allem die Reflexionen zur bildkonstituierenden Bedeutung des Rahmens in Die Wahrheit in der Malerei (1978, dt. 1992), ferner die Auseinandersetzung mit Roland Barthes’ Theorie der Photographie in Die Tode von Roland Barthes (1981, dt. 1987) und die Ausführungen zu Zeichnung, Inskription und dem Zug der Hand in den Aufzeichnungen eines Blinden (1990, dt. 1997).
1. Vor dem Bild – die Spur und das Andere des Bildes (Derrida)
Der in Grammatologie entwickelte umfassende Begriff der Schrift gründet in einer »allen Bezeichnungssystemen gemeinsame[n] Möglichkeit«, nämlich der »Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée)«. Diese Möglichkeit der Spur zur institution, die damit jeder Art von signification zugeschrieben wird, bestehe, so Derrida, noch bevor der Begriff der Schrift »mit der Einkerbung der Gravur, der Zeichnung oder dem Buchstaben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird«.[1] Damit umfasst Derridas Begriff der Schrift jeglichen Vorgang, bei dem (in welcher Art von Signifikanten auch immer) Bedeutung qua Differenz erzeugt wird. Mit der Reformulierung der Schrift als trace instituée jedoch wendet Derrida den Blick ab von dem jeweiligen Signifikationssystem, um stattdessen das Verhältnis der positiven, vereinbarten oder fixierten Spur zu dem darin Abwesenden zu erörtern, zur vorausgehenden Spur beziehungsweise zu jener »irreduzible[n] Abwesenheit«, die sich in der »Anwesenheit der Spur« gegenwärtigt. Und genau damit ist die Grammatologie bei ihrem eigentlichen Thema, dem Anderen existierender Signifikationsformen, sei es der Schrift, der Gravur (oder eines visuellen Bildes): »Es gilt, die Spur vor dem Seienden (la trace avant l’étant) zu denken. Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst. Wenn das Andere als solches sich ankündigt, gegenwärtigt es sich in der Verstellung seiner selbst.«[2] Er lenkt also das Erkenntnisinteresse auf die (noch) nicht vereinbarte Spur, die der Formierung oder Instituierung von Zeichen und Schriftbild vorausgeht. Auf diese Weise hebt Derridas Grammatologie allerdings die Frage des Bildes in einer allgemeinen Theorie der Schrift auf. Und auch in den genannten nachfolgenden Publikationen wird ihn am Bild vor allem das interessieren, was »nicht der Ordnung des Visuellen« angehört.[3]
Das Bild kommt in der Grammatologie – zunächst und überhaupt nur – als Schriftbild in den Blick. Ausgangspunkt ist Derridas Kritik an der Stellung der Schrift in der Linguistik. So wird die Schrift bei Saussure als sekundäres System zur Aufzeichnung der gesprochenen Sprache betrachtet, zugleich aber als eine Art gefährliches Supplement bewertet, weil die Schrift, obwohl doch nur eine Repräsentation des gesprochenen Wortes, dieses verdränge, weil sie sich zum Vorbild mache, obwohl sie nur Abbild sei, so Saussure in der Darstellung Derridas. Wenn Derrida die damit verbundene nachgeordnete Stellung der Schrift gegenüber dem Wort bei Saussure zurückweist, spricht er in auffälliger Weise vom Schriftbild – obwohl er das Thema des Bildes dann nicht weiter verfolgt, sondern in der umfassenden Theorie der Schrift aufgehen lässt, womit es faktisch verschwindet. Nur en passant wird die Stellung des Bildes als »gefährliches Supplement« im Kontext der Idee eines natürlichen Urbildes wie etwa bei Saussure (und auch bei Rousseau[4]) kritisch reflektiert, jene Vorstellung nämlich, das Repräsentierte sei »lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden«. Dagegen wird das Bild von Derrida – nun das Bild als solches – als Doppel charakterisiert, dem eine Differenz eingeschrieben ist. Damit sind, wie er hervorhebt, immer schon wenigstens drei im Spiel:
Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Aufeinander-Verweisen – aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt. Der Reflex, das Bild, das Doppel zweiteilen, was sie verdoppeln. Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. Was sich betrachten läßt, ist nicht Eins, und es ist das Gesetz der Addition des Ursprungs zu seiner Repräsentation, des Dings zu seinem Bild, daß Eins plus Eins wenigstens Drei machen.[5]
Eine Dreiheit bildet das visuelle Bild, weil es ein Double ist und sich selbst noch mal in einen materiellen Teil und das Dargestellte teilt; diese Dreiheit ist der Ausgangspunkt einer Pluralität des Bildes. Sie ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Dreiheit des Zeichens in Charles Peirce’ Semiotik, in dessen Theorie drei Aspekte des Zeichens unterschieden werden: die materielle Seite, die Art der Referenz und die Funktion.[6] Bei Derrida, dessen Grammatologie ja gerade hinter die Zeichentheorie zurückgeht, ist das Bild vielmehr Teil einer supplementären Ökonomie der Repräsentation und der Differenz. Dabei kommt jedoch nur ein bestimmter Modus des Bildes zur Sprache: jenes Bild, das als Reflex oder Doppel umschrieben werden kann. Was dabei nicht zur Sprache kommt, ist das besondere Vermögen des visuellen Bildes, die ihm eingeschriebene Differenz im Nu in Erscheinung treten zu lassen; was dabei ausgeblendet bleibt, ist seine ikonische oder piktoriale Gestalt.
Mit der Grammatologie der Bilder geht es mir also nicht um einen Anschluss an Derridas Bildtheorie, sofern davon überhaupt die Rede sein kann. Vielmehr geht es darum, das Derridasche Konzept der Spur für die Frage nach der Genese von Bildern und nach dem Anderen des Bildes zu nutzen: die Spur als das Andere des Bildes. Denn die Frage nach der ›Spur vor dem Seienden‹ ist für die Bildgebung besonders relevant, nicht nur, weil sie die Aufmerksamkeit auf das Vorausgehende lenkt, sondern auch, weil damit zudem jener Registerwechsel in den Blick gerät, der dabei stets am Werk ist.
Der Begriff der Spur (lat. vestigium, frz. trace) hat eine große semantische Bandbreite ausgebildet: vom hinterlassenen Eindruck/Abdruck über Anzeichen, Indiz bis zur Fahrspur. Grimms Wörterbuch führt Spur auf germanisch spor zurück, »welches den durch niedertreten oder -stoszen gebildeten eindruck des fuszes im boden bezeichnet«.[7] Diejenige Bedeutung von Spur, die sich vom hinterlassenen, ähnlichen, physischen Abdruck löst, hat sich erst in der Moderne entwickelt; bei Derrida steht sie eindeutig in der Nachfolge Freuds. Dessen »Schauplatz der Schrift«[8] hat er einen eigenen Essay gewidmet, der in direkter Beziehung zur Grammatologie entstanden ist.
Da die Spur auch in der aktuellen Theorie in sehr unterschiedlicher Weise konzeptualisiert wird,[9] muss Derridas Konzept zunächst von anderen abgegrenzt werden, vor allem von technischen und kriminalistischen Begriffen. Seine Spur fügt sich weder ins Indizienparadigma von Carlo Ginzburg, das solche Spuren versammelt, die der Identifizierung von Personen, Handlungen, Ereignissen und künstlerischer Autorschaft dienen,[10] noch ist sie mit dem hermeneutischen Konzept im Theorem des Spurenlesens identisch. Während der Begriff der Spur sich üblicherweise auf Hinterlassenes bezieht, sei es ein hinterlassener Fußabdruck oder Eindruck[11] oder auch materielle Reste, besteht das Besondere von Derridas Begriff der Spur darin, dass er eher auf das Vorgängige abzielt: »Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.«[12] Aufgrund dieser Ausrichtung auf das, was jeder semantischen, semiotischen, akustischen oder ikonischen Differenz vorausgeht, ragt die Spur in eine Vorzeit des Bildes hinein. Mit der Verschiebung des Konzepts vom Hinterlassenen auf das Vorausgehende, von der Ähnlichkeit auf die Differenz, von positiv vorhandenen Bildern dorthin, wo sich die Spuren im Unkenntlichen, Heterogenen oder Immateriellen verlieren, zielt die Frage der Bildgebung auf das Anikonische vor dem Bild.
Wenn die ikonische Differenz von Gottfried Boehm als eine im Sehen realisierte Differenz und als Vorgang definiert worden ist, in dem das Dargestellte auf dem Wege der Kontrastbildungen als Bild entsteht,[13] dann fragt Derridas Theorie der Spur nach dem – in einer anderen Zeit – vorausgehenden Prozess der Differenzherstellung, dem er den Namen der différance (in der deutschen Übersetzung der Grammatologie als *Differenz notiert) gegeben hat: »Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die *Differenz. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im...