Ich weiß etwas, was du nicht weißt, sag’s dir aber nicht! Oder doch?
Die Entwicklung von Selbstbehauptung
Es hat seinen guten Grund, dass wir vergleichsweise wenig über das »normale« Leben von Kindern zwischen etwa 7 und 13 Jahren wissen. Für die psychische Entwicklung in diesem Alter ist es nämlich außerordentlich wichtig, sich dem Blickfeld der Erwachsenen, ihrer indiskreten Neugierde, ihrer Tendenz, sich in alles einzumischen, alles wissen und dirigieren zu wollen, zu entziehen. Kinder ab 7 müssen sich, wenigstens ab und zu, »von der Hand der Erwachsenen losreißen«, um, gemeinsam mit Altersgenossen, auf eigene Faust und auf eigenes Risiko zu »leben« und zu handeln. Daran wachsen sie.
Aufsichtspflicht, Haftpflichtgedanken, Sorge um die Sicherheit, der Vorrang von Schulbildung und die Angst vor »Verwahrlosung« haben bei uns in den letzten 40 Jahren dazu geführt, dass die meisten Kinder bis ins Jugendalter unter der permanenten Kontrolle von Erwachsenen stehen: in der Schule, in der Freizeit, zu Hause. Daheim gibt es zwar die Möglichkeit, am Fernseher oder Computer auf »eigenes Risiko« Sendungen anzuschauen, die »verboten« sind, oder sich heimlich mit Programmangeboten zu beschäftigen, die »noch nichts für dein Alter« sind; das ist aber nur ein fahler Abklatsch von selbstbestimmtem Kinderleben.
Kinder, die nicht am Gängelband der Erwachsenen gehalten werden, beschäftigen sich mit anderen Dingen, die erheblich mehr »Lebensqualität« bringen, weil sie lebendig und mit intensiven Gefühlen verbunden sind und weil sie ganz persönliche körperliche und geistige Aktivität erfordern.
Drei zentrale Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung zwischen etwa 7 und 13 Jahren:
die eigenständige Erkundung der Welt außerhalb des Elternhauses (in sicherem Abstand von Erwachsenen),
das Zusammensein und die Auseinandersetzung mit Altersgenossen (dabei haben die Erwachsenen nichts zu suchen) und
Geheimnisse und Heimlichkeiten.
Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten spielt das Geheime eine Schlüsselrolle im Leben von Kindern im Alter ab etwa 7 Jahren. Offenbar ist es eine Art Zauberelixier für ihre Entwicklung. Heimlich etwas zu tun heißt, auf eigene Verantwortung zu handeln. Das ist ein enormer Schritt in der Entwicklung des Menschen! Ihn zu wagen, kostet allerdings große Überwindung (wie schwer tun sich noch viele Erwachsene damit, für etwas Verantwortung zu übernehmen, dessen Ausgang ungewiss ist!). Kinder werden vom Unbekannten, Geheimnisvollen, Unheimlichen, Verbotenen magisch angezogen. Diese kindliche Eigenschaft hat zwei Seiten. Nicht nur die negative, die wir Erwachsenen als Vorwand nehmen, um die Kinder vor »unbedachten Wagnissen« zu schützen und sie möglichst unter eine streng geregelte Rund-um-die-Uhr-Kontrolle zu stellen. Die positive Seite ist, dass Kinder den Dingen selbständig auf den Grund gehen und dabei viel über die Welt erfahren. Sie lernen selbstverantwortlich zu handeln und ihre Fähigkeiten einzuschätzen.
Simone de Beauvoir ist vorwiegend in Paris aufgewachsen. Umso wichtiger war es für sie offenbar, dass sie wenigstens in den Ferien auf dem Land einen Ort hatte, den sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester selbständig in immer weiteren Kreisen auskundschaften konnte und an dem sie unabhängig und »frei« war. Sie schwärmt noch als erwachsene Frau:
Mein Glück erreichte seinen Höhepunkt in den zweieinhalb Monaten, die ich auf dem Lande verbrachte ... Meine Zeit war dann nicht mehr durch feste Anforderungen geregelt, deren Fehlen aber wurde durch die Unendlichkeit der Horizonte, die sich meiner Neugierde eröffneten, reichlich kompensiert. Ich erforschte sie auf eigene Faust, die Erwachsenen standen nicht mehr als Mittler zwischen der Welt und mir ...
Wir zerschunden uns die Beine an Ginstergestrüpp, die Arme an Dorngesträuch, wir erforschten kilometerweise im Umkreis Kastanienwälder, Felder und Heideland. Wir machten große Entdeckungen: Teiche, einen Wasserfall, mitten im Heidekraut graue Granitblöcke, die wir erkletterten ... (Beauvoir, S. 72 ff.)
In ihren heimlichen Abenteuern suchen Kinder immer wieder kleinere (und leider manchmal auch größere) Gefahren. Damit stellen sie sich unbewusst sozusagen winzig kleinen »Todesängsten«. Das Erlebnis, sie unbeschadet überstanden zu haben, festigt eine tiefe, unbewusste Lebenszuversicht. (Darauf gehe ich im Kapitel »Ich spüre das Leben in mir!« noch näher ein.)
Geheimnisse und Heimlichkeiten brauchen aber keineswegs die Verlockung von Abenteuer, um Kinder in ihren Bann zu ziehen. Allein schon, dass etwas »geheim« ist, erzeugt bei großen Kindern ein unvergleichliches »Heimlichkeitskribbeln«. In einer kleinen Szene, die Siegfried von Vegesack beschreibt, wird das deutlich:
»Aber ich habe ein Geheimnis«, fuhr Boris fort, »und das muß ich dir jetzt sagen. Aber du darfst es niemandem verraten!«
»Niemandem!« beteuerte Aurel feierlich ...
»Dann mußt du es schwören!«
Aurel hockte sich hin und hob die Hand: »Ich schwöre!«
Boris rückte noch näher an sein Ohr und flüsterte:
»Ich weiß eine Höhle, die niemand weiß, auf der Insel, und dort habe ich etwas versteckt. Morgen zeige ich es dir.«
»Eine Höhle?« Aurels Herz klopfte.
»Ja, eine richtige Höhle!« versicherte Boris. »Und du – hast du auch ein Geheimnis?«
Aurel grübelte lange angestrengt: Nein, er kannte keine Höhle ... und der Heuboden war ... eigentlich kein ... Geheimnis ... Ein richtiges Geheimnis ist nur das, was niemand weiß. Wie schrecklich, daß er keins hatte. Er schämte sich sehr. Aber da fiel ihm ein, daß er einmal in Blumbergshof unter der Gartenveranda heimlich einen toten Maulwurf begraben hatte. Dieses Geheimnis konnte sich zwar nicht mit der Höhle messen, aber ein besseres wußte er nicht. Und so vertraute er Boris den toten Maulwurf an. Und auch Boris schwor, ihn niemandem zu verraten. (Vegesack, S. 100 f.)
Geheimnisse verbrüdern und verbünden. Und mit Geheimnissen kann man andere ausschließen. Das sind außerordentlich wichtige soziale Basiserfahrungen, die Kinder im Alter zwischen 7 und 13 in vielen Variationen durchspielen (mehr dazu in den Kapiteln »Wo geht’s lang?«, »Wir sind doch wer!« und bei den »Zehnjährigen«). Während die Erwachsenen aber wirklich draußen bleiben und nicht erfahren sollen, was man da heimlich miteinander ausheckt, treibt, tuschelt, schreibt, sammelt, versteckt, sind die ausgeschlossenen Altersgenossen unersetzliche Partner im Spiel der Heimlichkeiten. Darin liegt ihr zweiter Effekt: Wie beim Katz-und-Maus-Spiel (das übrigens eines der Lieblingsspiele von Kindern dieser Altersgruppe ist) werden nämlich die »Unwissenden« dazu herausgefordert, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und garantiert steigen die Kinder auf Heimlichkeiten ihrer Kameraden ein. Heimlichkeiten und Geheimnisse sind also ganz wichtige Schwungräder für die Begegnung der Kinder untereinander.
Gleichzeitig sind Geheimnisse Machtmittel, um andere Kinder zu bestechen und zu unterdrücken. Das finden Erwachsene nicht schön. Und damit haben sie Recht, und das sollten sie den Kindern auch ruhig zu verstehen geben. Aber man muss auch sehen, dass Kinder mit ihren »Machtspielen« gegenseitig ihre innere Stärke und Widerstandsfähigkeit austesten. Wenn sich ein Kind nicht (mehr) von den Heimlichtuereien der Kameraden ärgern und locken lässt, beweist es damit, dass es ein gutes Maß an selbstbewusster Unabhängigkeit entwickelt hat, auf die es ein Leben lang aufbauen kann.
Auch ein Geheimnis zu wahren, erfordert innere Kraft, denn Geheimnisse haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie unerbittlich danach drängen, verraten zu werden. Wer es schafft, ein Geheimnis nicht weiterzuerzählen, hat beträchtliche Charakterstärke entwickelt.
Um zu wissen, was richtig und was falsch ist, was wirklich gefährlich ist und was gemein, brauchen Kinder allerdings die Rückmeldung von Erwachsenen. Wenn tatsächlich Dinge passieren, die die Kinder nicht mehr in den Griff bekommen, und wenn sie sich wirklich Schlimmes antun, werden fast immer entsprechende Signale in Richtung Erwachsene gegeben. Das Problem ist aber, dass Erwachsene die Signale oft nicht verstehen, überhören oder bewusst ignorieren. Das ist schlimm für die Kinder, denn sie holen sich »heimlich«, also kaum erkennbar in beiläufigen Nebensätzen oder unschuldigen Andeutungen immer wieder die Rückversicherung, dass das, was sie tun, noch nicht zu weit geht. Falls doch, müssen Erwachsene da sein, die eindeutig Stellung beziehen und die den Kindern auch klarmachen, dass man Geheimnisse, die Schlechtes verbergen, preisgeben kann, ja offen legen muss, ohne dadurch zum »Verräter« zu werden.
Wenn man als Erwachsener entsprechend hellhörig ist, die Kinder von fern im Auge behält und ihnen dennoch ihre »Heimlichkeiten« zugesteht, wird man immer genug von dem mitbekommen, was sie treiben.
Wie wichtig gerade die »heimlichen« Kindheitserlebnisse für die Entwicklung von Eigenständigkeit, Selbstbehauptung, Kreativität, sozialem Verhalten, Selbstvertrauen, Risikobereitschaft, Zuversicht und emotionaler Lebendigkeit sind, wird erst in der Rückschau...