Soziale Ordnung der Hundewelt
Hunde sind keine Wölfe
Der Hund ist ein gruppendynamisches Tier, das in sozialen Gemeinschaften lebt. Er darf jedoch keinesfalls analog zu den Wölfen als ein Rudeltier verstanden werden. Der Hund lebt losgelöst von den relativ engen Strukturen, wie sie in einem den Wölfen entsprechenden Familienverbund vorkommen. Er ist jedoch überaus gesellig und schließt sich gern einem Sozialpartner an, wenn dieser die von ihm gezeigten Befindlichkeiten entsprechend reflektiert. Der Hund kommuniziert ähnlich dem Menschen durch seine Mimik, seine Gestik, seine Empfindungslaute und über sein Verhalten, das aus der jeweiligen sozialen Gemeinschaft, in der er lebt, ableitbar ist.
Mit dem Tschechoslowakischen Wolfhund, einem Instinkthund pur, lassen sich über gruppenorganisierende Verhaltensmuster augenblicklich soziale Übereinkünfte treffen.
Hunde sind bindungsflexibel
Der Hund ist seiner Natur nach flexibel im Aufbau, aber auch im Abbruch von Beziehungen. Er kann von einer Gruppe in die nächste verbracht werden, immer schafft er es, sich in kürzester Zeit einzugliedern. Er ist ein Meister der Eingliederung. Da er jedoch letztendlich gar nicht anders kann, als sich immer wieder aufs Neue einzuordnen und sich mit anderen abzugleichen, zwingt ihn das, seiner Art entsprechend, mit seinem Umfeld in Kommunikation zu treten.
Wohlbefinden statt Herrschaft
Der Hund muss sich anlagebedingt in unterschiedlichste soziale Gruppen einordnen, und das vollzieht sich innerhalb kürzester Zeit, ja oft innerhalb weniger Augenblicke . Nach meinen Beobachtungen erfolgt die Übermittlung von Informationen zu den verschiedenen Gesprächsthemen indirekt als Übermittlung eines Gefühlszustands.
Ein Beispiel
Arko (Hund I) zeigt als Sender ein bestimmtes Verhaltensmuster, das seine Bedürfnisse, seine innere Gestimmtheit und seine Gefühle übermitteln soll. Dieses Gefühlsmuster wird von Ferdi (Hund II) empfangen und tendenziell nachempfunden. Durch Kopplung an das dargestellte Gefühlsmuster von Arko wird bei Ferdi eine Empfindung ausgelöst, die dieser wiederum seinem eigenen Gefühl entsprechend zurücksendet und dadurch eine Gefühlsveränderung in Arko bewirkt. Es kommt so lange zu einem wechselseitigen Austausch von Gefühlsmustern, bis das Thema zufriedenstellend abgeklärt ist oder einer der Beteiligten das kommunikative Interesse verliert. Dabei suchen die Hunde vor allem emotionales Wohlbefinden und nicht ungeteilte Herrschaft über den anderen.
Der Mensch ist verantwortlich
So steht besonders in der Abhängigkeit zum Menschen für den Hund nicht Herrschen und Beherrschenwollen im Vordergrund, sondern dass sein Mensch ihn mit Nahrung versorgt, ihn vor Gefahren schützt und ihm Geborgenheit und liebevolle Nähe vermittelt. Der Hund braucht hier außerdem unbedingt einen Partner, der sich, wenn notwendig und vor allem rechtzeitig, vermittelnd einbringt, und der dem Hund über ein Regelwerk soziale Kompetenz näherbringt, die ihm gestattet, in sozialen Gruppierungen erfolgreich agieren zu können. Es liegt also in der Verantwortung des Menschen, dem Hund im wechselseitigen Miteinander Lösungsmodelle zu vermitteln, die es ihm ermöglichen, Interessensgegensätze (Instinkthandlungen vs. individuelle Hausstandsregeln) aggressionsfrei zu klären und dabei mit dem Umfeld in Balance zu kommen.
Ein Hund, der von seinen Sozialpartnern nicht zufriedenstellend reflektiert wird, gerät aus der Balance, verändert sich in seiner Gestimmtheit, verändert sich in seinen Reaktionen auf das Umfeld, bereitet diesem damit Probleme und erscheint verhaltensauffällig oder verhaltensgestört.
Das Gerangel um ein Stöckchen als Ersatz für die Konkurrenz an der Milchleiste der Mutterhündin.
Balance in der Gruppe
Um in einer Gruppe in Balance zu kommen und inneres Gleichgewicht zu erlangen, bedarf es der Verständigung und dem Verständnis für den anderen. Unsere Hunde zeichnet ein Streben nach prosozialer Einheit in der Gruppe aus. Sie unterliegen einem besonderen Mechanismus, der veranlasst, dass alle beteiligten Sozialpartner so lange einen kommunikativen Prozess führen, bis soziale Einigkeit herrscht und man sich mit allen in Balance befindet. Das wichtigste Kriterium dabei ist ein sich „wechselseitiges Reflektieren“.
Denn wenn jeder die Emotionen und Bedürfnisse des anderen erkennt und anerkennt, braucht es keine übersteigerten, unkontrolliert ablaufenden, aggressiven Interaktionen mehr und es entsteht ein homöostatisches Modell (Homöostase = ein System, das sich der Umwelt gegenüber in einem stabilen Zustand halten kann). Als Ergebnis tritt bei jedem einzelnen Individuum innere Balance ein. Dadurch kommt es in der Gruppe zu einem Gleichgewicht, das jeden einzelnen Interaktionspartner gleichermaßen betrifft.
Vertrauensvolle Übermittlung von Emotionen
Ein sensibles System
Ein Beispiel
Stellen Sie sich eine ruhige, glatte Wasseroberfläche vor. Wirft man einen Stein hinein oder streift der Wind über die Wasserfläche, entstehen Wellen. Ob oder wie schnell die Wasseroberfläche wieder glatt wird, hängt davon ab, ob diese Wellen in der Weite der Wasserfläche sanft ausklingen können oder ob durch weitere Steinwürfe oder neue Windböen die Wasserfläche nicht zur Ruhe kommt.
Ähnliches geschieht, wenn ein Hund auf einen Artgenossen trifft. Der Stimmungszustand beider Hunde ändert sich. Sie kommen emotional in Bewegung. Konnte man sich zufriedenstellend abgleichen, kehrt wieder Ruhe ein. Das passiert auch in bereits bestehenden Gruppen über gruppenorganisierende und -zusammenhaltende Verhaltensmuster siehe hier. Bringt ein Individuum Unruhe in die Gruppe, weil es zum Beispiel mit einem der Gruppenmitglieder einen Interessenkonflikt austrägt, schlägt sich das auf alle Gruppenmitglieder nieder. Die Gesamtstimmung ist aus dem Lot. Es kommt zu einem Abgleich, an dem jeder Einzelne mit beteiligt ist, auch dadurch, dass er sich aus der Sache heraushält. Wurde das Reizthema zufriedenstellend geklärt, kann wieder Ruhe in der Gruppe einkehren, sie ist wieder in Balance, die Wasseroberfläche beruhigt sich. Diese Balance wird natürlich durch jeden Reiz, jeden Impuls sowohl von innen als auch von außen (wenn ein Hund oder ein Mensch auf eine bestehende Gruppe trifft), oft nur ganz leise und unterschwellig, sofort wieder neu auf die Probe gestellt.
Interaktionsspielmuster mit erzieherischem Hintergrund.
Balance des eigenen Hundes
Achten Sie einmal auf Ihren Hund, wie er sich verhält, wenn Sie allein mit ihm sind und die Wasserfläche ruhig ist. Vergleichen Sie im Gegensatz dazu, wie er sein Verhalten ändert, wenn neue Partner (Mensch oder Artgenosse) dazukommen. Sie werden bemerken, dass er sich, je nachdem, wer anwesend ist und wer dazukommt, in seiner Gestimmtheit und damit in seinem Ausdrucksverhalten ändert. Sie werden erkennen, dass er in einer bestimmten Art und Weise mit den anderen in Kommunikation tritt. Dass er von den anderen unterschiedlich reflektiert und beachtet wird. Immer jedoch handelt es sich dabei um einen kommunikativen Prozess, dem sich Ihr Hund nicht entziehen kann. Irgendwann ist dann alles gesagt und abgehandelt. Jeder Einzelne hat sich positioniert und akzeptiert normalerweise nach geraumer Zeit den anderen, die Wasserfläche beruhigt sich wieder, eine Balance ist hergestellt.
Wichtig
Um das Kommunikationsverhalten der Hunde beurteilen zu können, müssen die beobachteten Signale und Verhaltensmuster immer aus dem jeweiligen Kontext heraus interpretiert werden.
Hunde agieren instinktgebunden
Um als soziales Wesen in einer Gemeinschaft überleben zu können, müssen Hunde soziale Übereinkünfte treffen. Dabei handeln sie ihrer Natur entsprechend zumeist instinktgebunden.
Ohne Drohen geht es nicht
Das zentrale psychosoziale Regulativ beim Abgleich von Interessen ist prosoziale Aggression. Dies funktioniert nach dem Verhaltensschema „Drohung“ und einer entsprechenden Reaktion darauf. Zwei Hunde beanspruchen zeitgleich zum Beispiel Beute, Territorium, einen Liegeplatz oder Ähnliches. Diese Interessenkonkurrenz wird üblicherweise durch Drohen, Imponieren und entsprechende Reaktionen kommuniziert und damit abgeklärt. Hunde versuchen dabei möglichst wenig Schaden zu nehmen.
Ritualisierter Interessenabgleich
Ein ritualisierter Abgleich von Interessen mit Bezug auf einen eventuell zukünftig eintretenden Ernstfall wird auf einer besonderen Ebene, durch eine speziell dafür vorgesehene Form der Kommunikation herbeigeführt. Dafür habe ich den Begriff „Gruppenorganisierende Verhaltensmuster“ eingeführt siehe hier.
Hunde können sich nicht aussuchen, ob sie auf dieser besonderen Ebene interagieren oder nicht. Das Erkennen und Anerkennen gezeigter Emotionen und Bedürfnisse sowie die Abstimmung des eigenen Verhaltens auf den anderen und die Akzeptanz des anderen in seiner Befindlichkeit sind dabei die Parameter für soziale Ordnung in der sich ergebenden Hundewelt. Es treffen individuelle Talente mit individuellem Erfahrungsschatz und die augenblickliche innere Gestimmtheit aufeinander. Das gilt sowohl für zwei Interaktionspartner als auch für eine Gruppe. Damit sind Hunde hier immer auch Spielball...