[26] Erster Teil
Allgemeine Prinzipien
Kapitel I
Die Natur des sprachlichen Zeichens
§ 1. Zeichen, Signifikant, Signifikat
Manche meinen, die Sprache sei im Grunde ihres Wesens eine Nomenklatur, d. h. eine Liste von Ausdrücken, die ebenso vielen Dingen entsprächen. Zum Beispiel:
Gegen diese Auffassung lässt sich manches einwenden. Sie setzt voraus, dass Ideen fix und fertig schon vor den Wörtern existieren (vgl. →); sie klärt nicht, ob der Name lautlicher oder psychischer Natur ist, denn arbor kann, je nach Blickwinkel, das eine wie das andere sein; schließlich unterstellt sie, die Verbindung zwischen einem Namen und einem Ding vollziehe sich so ganz einfach, was nun wahrhaftig [27] nicht stimmt. Trotzdem kann uns diese gar zu schlichte Betrachtungsweise der Wahrheit näherbringen, denn sie zeigt uns, dass die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, bei dem zwei Elemente zueinandergeführt werden.
Wir haben oben (→) im Zusammenhang mit dem Redekreislauf gesehen, dass beide Elemente, die das sprachliche Zeichen bilden, psychisch und in unserem Hirn durch das Band der Assoziation verknüpft sind. Vertiefen wir diesen Punkt.
Das sprachliche Zeichen verbindet nicht eine Sache und einen Namen, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Letzteres ist nicht etwa der materielle Laut – der hat rein physischen Charakter –, sondern der psychische Abdruck dieses Lautes, dessen Auftritt, den uns das Zeugnis unserer Sinne meldet; das Lautbild ist sensorischer Natur; wenn wir es gelegentlich »materiell« nennen, dann meinen wir eben dies, im Gegensatz zum anderen Element der Assoziation, der Vorstellung, die insgesamt abstrakter ist.
Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird leicht einsichtig, wenn wir unser eigenes Sprechen [langage] beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst reden oder im Geist ein Gedicht aufsagen. Gerade weil die Wörter der Sprache [langue] für uns Lautbilder sind, sollte man die Untereinheiten, aus denen sie besteht, nicht »Phoneme« nennen. Dieser Terminus impliziert die Idee einer vokalen Aktivität und passt nur zum gesprochenen Wort, zur Realisierung des inneren Bildes in der Rede [parole]. Man spreche lieber von den Lauten und den Silben eines Wortes; dann vermeidet man jenes Missverständnis – vorausgesetzt, man vergisst nie, dass man sich auf das Lautbild bezieht.
Das sprachliche Zeichen ist also eine zweiseitige Entität, die graphisch wie folgt dargestellt werden kann:
[Concept = Vorstellung; Image acoustique = Lautbild; arbre (frz.) = Baum; arbor (lat.) = Baum]
[28] Die beiden Elemente sind eng miteinander verbunden und evozieren sich gegenseitig. Ob wir nun die Bedeutung des lateinischen Wortes arbor suchen oder das Wort, mit dem das Lateinische die Vorstellung ›Baum‹ bezeichnet – uns erscheinen ganz selbstverständlich nur die vom Sprachsystem [langue] sanktionierten Zuordnungen realitätskonform, und wir verwerfen jede andere, die einem auch einfallen könnte.
Diese Definition wirft ein wichtiges terminologisches Problem auf. Unter »Zeichen« [signe] verstehen wir die Verbindung von Vorstellung und Lautbild; in der Alltagssprache hingegen wird der Terminus gewöhnlich für das Lautbild allein verwendet, z. B. ein Wort (arbor etc.). Man vergisst dabei, dass, wenn arbor »Zeichen« genannt wird, dies nur insofern stimmt, als es Träger der Vorstellung »Baum« ist; das Bewusstsein setzt dann den sensorischen Teil mit dem Ganzen gleich.
Die Ambiguität verschwände, wenn man für die drei hier [29] beteiligten Begriffe Namen fände, die einander evozieren, zugleich aber einen Gegensatz bilden. Wir regen folgende Benennung an: das Ganze soll weiterhin »Zeichen« [signe] heißen, »Vorstellung« und »Lautbild« jedoch werden ersetzt durch »Signifikat« und »Signifikant« [signifié und signifiant, ›Bezeichnetes‹ und ›Bezeichnendes‹]. Die beiden letzteren Termini haben den Vorzug, sowohl zu markieren, was sie voneinander trennt, als auch, was sie von dem Ganzen unterscheidet, dessen Teile sie sind. Was den Terminus »Zeichen« [signe] betrifft, so verwenden wir ihn mangels eines Besseren; wir wüssten nicht, wodurch wir ihn ersetzen sollten, denn die gängige Sprache gibt keinen geeigneten Namen her.
Das so definierte Zeichen hat zwei grundsätzliche Charakteristika. Indem wir sie präzisieren, legen wir gleichzeitig die Prinzipien für jede Untersuchung in diesem Bereich fest.
§ 2. Erstes Prinzip: Die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens
Das Band, welches den Signifikanten mit dem Signifikat vereint, ist arbiträr (willkürlich, beliebig, nicht motiviert), und da wir unter »Zeichen« ein Ganzes verstehen, das sich aus der Assoziation eines Signifikanten mit einem Signifikat ergibt, können wir auch vereinfacht sagen: Das sprachliche Zeichen ist arbiträr.
Der Begriffsinhalt von sœur [›Schwester‹] ist durch keine innere Beziehung an die Lautfolge s-ö-r gebunden, die ihm als Signifikant dient; genauso gut könnte irgendeine andere Lautfolge ihn darstellen; dies beweist die Tatsache, dass die Dinge in anderen Sprachen anders heißen, ja schon der Umstand, dass es überhaupt verschiedene Sprachen gibt. Das Signifikat bœuf hat auf der einen Seite der Grenze b-ö-f zum Signifikanten, auf der anderen o-k-s.
[30] Die Arbitrarität des Zeichens wird niemand bestreiten; aber es ist oft leichter, eine Wahrheit zu entdecken, als ihr den richtigen Platz zuzuweisen. Das oben dargelegte Prinzip dominiert die gesamte Linguistik, soweit sie sich als Wissenschaft vom Sprachsystem [langue] versteht; daraus ergeben sich unzählige Konsequenzen. Freilich offenbaren sie sich nicht alle auf Anhieb mit gleicher Evidenz; einige entdeckt man erst nach mancherlei Umwegen und mit ihnen die fundamentale Wichtigkeit des Prinzips.
Eine Bemerkung nebenher: wenn die Semiologie sich dereinst als Wissenschaft etabliert hat, wird sie sich fragen müssen, ob auch Ausdrucksformen, die ganz und gar natürliche Zeichen verwenden – etwa die Pantomime –, in ihre Zuständigkeit fallen. Sollte sie sich entschließen, diese mitzuberücksichtigen, wird ihr zentrales Objekt dennoch die Gesamtheit jener Systeme sein, deren Basis der Arbitrarität des Zeichens ist. Tatsächlich fußt jedes in einer Gesellschaft geltendes Ausdrucksmittel prinzipiell auf einer kollektiven Gewohnheit oder, was eigentlich dasselbe ist, auf einer Konvention. Den Zeichen der Höflichkeit zum Beispiel wohnt ja oft eine gewisse natürliche Expressivität inne (man denke an den Chinesen, der seinen Kaiser begrüßt, indem er sich neunmal zu Boden wirft), aber sie sind deswegen nicht weniger durch eine Regel bestimmt; diese Regel erzwingt deren Anwendung, nicht etwa ein in ihnen selbst liegender Wert. Man kann also sagen, dass die gänzlich arbiträren Zeichen dem Ideal des semiologischen Prozesses näher kommen als die anderen; deshalb ist auch die Sprache das komplexeste und weitest verbreitete Ausdruckssystem und zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinne kann die Linguistik das allgemeine Muster für jede Semiologie werden, obwohl die Sprache nur eines unter mehreren semiologischen Systemen ist.
Man hat auch schon das Wort »Symbol« für das sprachliche [31] Zeichen verwendet, oder genauer: dafür, was wir den »Signifikanten« nennen. Wir möchten dem ungern folgen – aus Gründen, die mit unserem ersten Prinzip zusammenhängen. Zum Wesen des Symbols gehört nämlich, dass es nie völlig arbiträr sein darf; es ist nicht leer; bei ihm besteht immer noch der Rest einer natürlichen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat. Das Symbol der Gerechtigkeit, die Waage, könnte nicht beliebig durch etwas anderes, etwa einen Karren, ersetzt werden.
Das Wort »arbiträr« erfordert ebenfalls eine Erläuterung. Es soll nicht zu der Meinung verleiten, ein Signifikant unterliege der freien Wahl des einzelnen Sprechers (wir werden weiter unten sehen, dass es dem Individuums nicht gegeben ist, irgendetwas an einem Zeichen zu ändern, das sich einmal in der Sprachgemeinschaft etabliert hat). Der Terminus will nur besagen, dass das sprachliche Zeichen unmotiviert ist, arbiträr also im Verhältnis zum Signifikat, mit dem es in der Wirklichkeit keinen natürlichen Berührungspunkt hat.
Erwähnen wir zum Schluss noch zwei denkbare Einwände gegen dieses ersten Prinzip:
1. Man könnte auf die Onomatopoetika verweisen, um darzutun, dass die Wahl des Signifikanten doch nicht immer völlig arbiträr sei. Aber diese Lautmalwörter sind niemals organische Elemente eines sprachlichen Systems. Außerdem ist ihre Zahl geringer als man glaubt. Wörter wie fouet ›Peitsche‹ oder glas ›Totenglocke‹ mögen für manche Ohren einen suggestiven Klang haben. Dass sie den aber nicht von Anfang an besaßen, erhellt schon, wenn man ihre lateinischen Ursprungsformen betrachtet: fouet kommt von...