Nachdem im ersten Kapitel ein allgemeiner Überblick über das Medizinprodukterechtssystem des EWR gegeben wurde, wird in diesem Kapitel detaillierter darauf eingegangen.
Die drei Richtlinien für Medizinprodukte (MDD, AIMDD und IVDD) sind im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gültig. Dieser umfasst seit dem
01. Januar 2007 insgesamt 30 Vertragsstaaten, die sich zusammensetzen aus
27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und
drei (von vier) Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA[15]) (vgl. Bundesverband Medizintechnologie 2010).
Dementsprechend können Medizinprodukte, die nach einer der oben genannten Richtlinie in Verkehr gebracht wurden, frei in allen 30 Vertragsstaaten des EWR und zusätzlich in der Schweiz vertrieben werden[16].
Tab. 1: Gültigkeitsbereich der CE-Kennzeichnung für Medizinprodukte
(vgl. Bundesverband Medizintechnologie 2010)
Die Schweizerische Eidgenossenschaft stellt hier eine Besonderheit dar. Sie ist zwar ein Mitglied der Europäischen Freihandelszone, jedoch als einziger Mitgliedstaat derzeit kein Vertragsstaat des Europäischen Wirtschaftsraums.
Trotzdem dürfen Medizinprodukte mit CE-Kennzeichnung in der Schweiz vertrieben werden. Dies ist möglich, da die Schweizerische Eidgenossenschaft mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen geschlossen hat, das im Jahr 2002 in Kraft getreten ist (s. Official Journal of the European Communities 2002).
Das Abkommen wurde mit der Europäischen Gemeinschaft getroffen, und nicht mit der Europäischen Union, da die EU zu dieser Zeit noch keine eigene Rechtspersönlichkeit besaß. Dies änderte sich erst im Jahr 2009 mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, der zur rechtlichen Fusion der EU mit der EG führte, und die EU zu einer eigenständigen Gebietskörperschaft machte (vgl. Krause 2010: 51; Wikipedia 2011a).
Das Rechtssystem für Medizinprodukte stützt sich auf verschiedene Richtlinien. Im Gegensatz zu Verordnungen, die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anzuwenden sind, bleibt bei Richtlinien den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel zur Umsetzung überlassen. Sie ist lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, verbindlich. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Adressaten der Richtlinien erst einmal die Mitgliedstaaten sind (vgl. Böckmann, Frankenberger 2009: 384 ff.). Die Mitgliedstaaten verfügen dabei auch über einen gewissen Ermessensspielraum. Gerichtlich können sich EU-Bürgerinnen und -Bürger jedoch zumeist nicht direkt auf eine Richtlinie stützen, sondern müssen sich auf das nationale Recht berufen, welches die Richtlinie umsetzt.
Nachfolgende Abbildung zeigt den Aufbau des Rechtssystems:
Abb. 5: Aufbau des europäischen Rechtssystems für Medizinprodukte
(eigene Darstellung; Schweden: Lindholm 2011; Portugal: Stricker-Varela 2011)
Mit „weitere Richtlinien“ auf Ebene des EWR sind vor allem Änderungsrichtlinien gemeint, welche die bestehenden drei Richtlinien abändern oder ergänzen. Beispiele hierfür sind:
RICHTLINIE 2003/32/EG DER KOMMISSION vom 23. April 2003 mit genauen Spezifikationen bezüglich der in der Richtlinie 93/42/EWG des Rates festgelegten Anforderungen an unter Verwendung von Gewebe tierischen Ursprungs hergestellte Medizinprodukte
RICHTLINIE 2005/50/EG DER KOMMISSION vom 11. August 2005 zur Neuklassifizierung von Gelenkersatz für Hüfte, Knie und Schulter im Rahmen der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte
RICHTLINIE 2007/47/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 5. September 2007 zur Änderung der Richtlinien 90/385/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte und 93/42/EWG des Rates über Medizinprodukte sowie der Richtlinie 98/8/EG über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten
(vgl. Böckmann, Frankenberger 2009: 9, 183)
Aus dieser Abbildung ist ersichtlich, dass die Richtlinien auf nationaler Ebene in den meisten Fällen über ein eigenständiges Gesetz umgesetzt wurden. Das Gesetz umfasst jedoch meist nicht alle Details, weshalb oft Verordnungen nachgeschaltet sind.
Die Schweiz hat sich sehr stark an das System im Europäischen Wirtschaftsraum angelehnt. Dort gilt das Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz – HMG), sowie vor allem die Medizinprodukteverordnung (MepV) (vgl. Swissmedic 2011).
Das HMG hält sich dabei bzgl. Medizinprodukte meist recht allgemein, und legt in vielen Bereichen nur Grundlegendes fest (s. Kapitel 3 HMG). Details sind größtenteils in der MepV geregelt. Die MepV verweist in einigen Teilen direkt auf die drei Richtlinien 90/385/EWG, 93/42/EWG und 98/79/EG in ihrer aktuellsten Fassung und verwendet überwiegend gleiche Begrifflichkeiten. Ausdrücke die von den der Richtlinien abweichen, werden in einem separaten Anhang dem jeweiligen Ausdruck in der Richtlinie gegenübergestellt (s. Anh. 4 MepV).
Zusammenfassend kann in Bezug auf die Schweiz somit gesagt werden, dass die Schweiz im Bereich der Medizinprodukte weitgehend eine europäische Harmonisierung erreicht hat, indem die entsprechenden europäischen Richtlinien in nationales Recht umgesetzt wurden und in den Gesetzestexten sogar teilweise direkt auf die Richtlinien verwiesen wird (vgl. Burkhardt, Gutmans 2008: 157).
Bereits in den vorangegangenen Kapiteln wurde auf die CE-Kennzeichnung eingegangen. In diesem Kapitel werden diese Ausführungen weiter ergänzt und vervollständigt.
An dieser Stelle sei vorab angemerkt, dass es sich begrifflich korrekt nicht um das „CE-Zeichen“, sondern um die „CE-Kennzeichnung“ handelt[17] (s. Anh. XII der Richtlinie 93/42/EWG).
Der WiKo (ein Kommentar zum Medizinprodukterecht) trifft bzgl. der Erklärung dieser Kennzeichnung folgende Aussage:
„Während „CE“ anfänglich in vier von neun EG-Amtssprachen noch mit „EG“ für „Europäische Gemeinschaft“ gleichgesetzt wurde („Communauté Européenne“, „Comunidad Europea“, „Comunidade Europeia“ und „Comunitá Europea“), ist die stilisierte Buchstabenkombination .. [CE] aufgrund der neuen offiziellen Sprachregelung … seit 1994 [lediglich] ein grafisches Symbol“ (Hill et al. 2003: 23).
Die CE-Kennzeichnung existiert sowohl mit beigefügter, vierstelliger Kennnummer einer Benannten Stelle, als auch ohne:
Abb. 6: CE-Kennzeichnung ohne und mit Kennnummer einer Benannten Stelle
(Covidien 2009: 11)
Benannte Stellen sind „[n]eutrale Auditier-, Zertifizier- und Prüfstellen für Produkt- und Qualitätsmanagementprüfungen …“ (Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller et al. 2010: 4).
Welche CE-Kennzeichnung angebracht wird, hängt letztlich davon ab, welcher Klasse bzw. Gruppe das Medizinprodukt zugeordnet wurde.
Bei sonstigen Medizinprodukten der Klassen IIa, IIb und III ist eine Zertifizierung, und somit die Mitwirkung einer Benannten Stelle obligatorisch. Für ein Produkt der Klasse I muss eine Benannte Stelle jedoch nur hinzugezogen werden, wenn dieses steril und/oder mit Messfunktion in Verkehr gebracht wird (sog. Produkte der Klasse „I s“ und „I m“) (vgl. Bundesverband Medizintechnologie 2006: 8).
Die Mitwirkung einer Benannten Stelle ist auch für alle aktiven implantierbaren medizinischen Geräte, und für alle In-vitro-Diagnostika, die in den Listen A oder B der Anlage II der IVDD aufgeführt, oder vom Hersteller zur Eigenanwendung vorgesehen sind, obligatorisch (s. Art. 9 Abs. 1 i. V. m. Anh. 2 f. der Richtlinie 90/385/EWG; Art. 9 Abs. 1 i. V. m. Anh. III der Richtlinie 98/79/EG).
Produkte zur Eigenanwendung im Bereich der In-vitro-Diagnostika sind folgendermaßen definiert: „[J]edes Produkt, das nach der vom Hersteller festgelegten Zweckbestimmung von Laien in der häuslichen Umgebung angewendet werden kann“ (Art. 1 Abs. 2d der Richtlinie 98/79/EG).
Zusammenfassend bedeutet dies, dass nur für folgende Medizinprodukte keine Benannte Stelle hinzugezogen werden muss, und somit auf den Produkten auch lediglich die CE-Kennzeichnung ohne vierstellige Kennnummer einer Benannten Stelle angebracht wird:
1. Sonstige Medizinprodukte der...